BT-Drucksache 14/1378

Bewertung der Lage im Kosovo durch das Auswärtige Amt (II)

Vom 2. Juli 1999


Deutscher Bundestag
14. Wahlperiode

Drucksache 14/1378
02. 07. 99

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion der PDS

Bewertung der Lage im Kosovo durch das Auswärtige Amt (II)

Auf der einen Seite wird von der Bundesregierung der Angriffskrieg gegen
Jugoslawien mit einer langfristigen ethnischen Verfolgung der Kosovo-Al-
baner durch das „Milosevic-Regime“ gerechtfertigt. In einer Pressemittei-
lung des Auswärtigen Amts vom 31. März dieses Jahres spricht das Aus-
wärtige Amt davon, daß es Milosevic schon seit 1990 darum gehe, ein
„Apartheid-System“ im Kosovo zu etablieren (vgl. taz, 31. Mai 1999).
Der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, sprach sogar von
„Anzeichen eines neuen Faschismus“ und von der Gefahr eines „Völker-
mords“ und rechtfertigte die NATO-Militärangriffe u. a. damit, daß für ihn
die Verpflichtung „Nie wieder Auschwitz“ gelte (AP, 7. April 1999).

Auf der anderen Seite legte das Auswärtige Amt am 18. November 1998
einen Lagebericht zur Bundesrepublik Jugoslawien vor, in dem es heißt:
„. . . eine explizit an die albanische Volkszugehörigkeit anknüpfende poli-
tische Verfolgung ist auch im Kosovo nicht festzustellen“. Noch im Januar
1999 heißt es in einem Schreiben des Auswärtigen Amts an ein Gericht
wegen eines Asylverfahrens: „Albanischen Volkszugehörigen droht in der
Bundesrepublik Jugoslawien keine politische Verfolgung, die explizit
an die Volkszugehörigkeit anknüpfen würde“. (ARD-Morgenmagazin,
30. April 1999)

Mit diesem Lagebericht und derartigen Schreiben des Auswärtigen Amts
sank die Anerkennungsquote von Asylsuchenden in der Bundesrepublik
Deutschland von 5,5 Prozent 1995 unter der Kohl-Regierung auf 1,1 Pro-
zent unter der rot/grünen Bundesregierung. Von Oktober 1998 – als die
Kriegsbeteiligung Deutschlands gegen die Bundesrepublik Jugoslawien
vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde – bis zum März 1999, als
der Angriffskrieg gegen Jugoslawien begonnen wurde, wurden 13 352
Asylanträge von Asylsuchenden abgelehnt.

Auf diesen Widerspruch von Medien angesprochen, offenbarte Staatsmi-
nister Dr. Ludger Volmer, daß der Lagebericht „nicht der empirischen
Wahrheit“ entsprach, sondern aus „innenpolitischen Gründen von der al-
ten Regierung so verfaßt worden“ sei (FR, 30. April 1999). Tatsache aber
ist, daß der alte Lagebericht vom 6. Mai 1998 nicht nur einfach – mit
neuem Datum versehen – übernommen wurde, sondern daß in diesem Be-
richt sehr wohl neuere Entwicklungen aufgenommen worden sind. Es
hätte also durchaus auch die Möglichkeit bestanden, die Fakten, wenn es
sie gegeben hat, in den Bericht aufzunehmen, die später den Bundesmini-

ster des Auswärtigen, Joseph Fischer, und den Bundesminister der Vertei-
digung, Rudolf Scharping, dazu veranlaßten, Vergleiche mit Nazideutsch-
land zu ziehen.

In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion
der PDS „Bewertung der Lage im Kosovo durch das Auswärtige Amt“
(Antwort: Drucksache 14/1119) hat die Bundesregierung kein Aufklä-
rungsinteresse gezeigt:

— Es wurde nicht versucht, Widersprüche zwischen dem Inhalt des Lage-
berichts des Auswärtigen Amts und der Kriegsbegründung des Bun-
desministers des Auswärtigen, Joseph Fischer, zu klären (Wolfgang
Grenz von „amnesty international“ sprach in diesem Zusammenhang
von „verschiedenenWahrheiten“ imAuswärtigenAmt, vgl. taz, 31. Mai
1999).

— Auf die Frage nach der Notwendigkeit einer besonderen Untersuchung
der Tatsache, daß – eingestandenermaßen – Lageberichte falsch abge-
faßt wurden, um auf Asylverfahren zuungunsten von Asylsuchenden
einwirken zu können und was zur Ablehnung von über 11 000 Asylan-
trägen bei einer Anerkennungsquote von 1,1 Prozent führte, wurde
ausweichend geantwortet.

— Die Frage nach der Verläßlichkeit der Lageberichte wurde so beant-
wortet, daß „der Lagebericht zu Jugoslawien ab Mitte März 1999 nicht
mehr zugrunde gelegt werden konnte, war für jeden evident“ und
überhaupt seien die Richterinnen und Richter an diese Lageberichte
„nicht gebunden“, was wohl heißt, daß man sie zukünftig nicht mehr
ernst nehmen soll.

— Die Frage nach der Aufhebung der auf falscher Grundlage ergangenen
Asylentscheide wurde einfach nicht beantwortet.

— Auch die Frage, wann genau Staatsminister Dr. Ludger Volmer und der
Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, von den falschen La-
geberichten, die für innenpolitische Zwecke abgefaßt worden waren,
Kenntnis erhalten hatte, hat Dr. Ludger Volmer nicht beantwortet.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Auf Grund welcher geprüfter Fakten kam Staatsminister Dr. Ludger
Volmer zu der gesicherten Kenntnis, daß die Lageberichte zum Ko-
sovo „nicht der empirischen Wahrheit“ entsprechen, „sondern aus in-
nenpolitischen Gründen von der alten Regierung so verfaßt worden“
(FR, 30. April 1999) sind?

2. Wann genau kam Staatsminister Dr. Ludger Volmer zu dieser ge-
sicherten Kenntnis, und wann hat er diese Kenntnis dem Bundes-
minister des Auswärtigen, Joseph Fischer, mitgeteilt?

3. Trifft es zu, daß der Lagebericht zu Jugoslawien vom 18. November
1998 keine wortgetreue Übernahme des letzten Lageberichtes der al-
ten Bundesregierung ist – also nicht nur mit neuem Datum versehen
wurde –, sondern in wesentlichen Passagen – auch und gerade zum
Kosovo – völlig neu konzipiert wurde?

4. Trifft es zu, daß damit die Abfassung des Lageberichts vom 18. No-
vember 1998 von der neuen Bundesregierung auch in dieser Hinsicht
zu verantworten ist?

Drucksache 14/1378 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode– 2 –

5. Welche innenpolitischen Gründe haben nach Kenntnis von Staats-
minister Dr. Ludger Volmer zu der falschen Darstellung der Lage im
Kosovo geführt?

6. Auf welche genauen Formulierungen und Aussagen des Lageberichts
bezieht sich Staatsminister Dr. Ludger Volmer, wenn er davon spricht,
daß der Bericht „nicht der empirischen Wahrheit“ entspricht?

7. Welche genauen Schritte hat Staatsminister Dr. Ludger Volmer wann
unternommen, nachdem er entdeckte, daß die Lageberichte zu Jugo-
slawien „aus innenpolitischen Gründen“ falsch abgefaßt worden sind
(bitte die einzelnen Maßnahmen genau mit Datum auflisten)?

8. Wer hat eine derartige Abfassung der Lageberichte unter der alten
Bundesregierung veranlaßt?

9. Wer hat die Fortschreibung eines derartigen Lageberichtes unter der
neuen Bundesregierung veranlaßt?

10. Welche Bedeutung hat für Staatsminister Dr. Ludger Volmer der Un-
terschied in der Formulierung „angewiesen“ und „gebeten“ in bezug
auf das nicht mehr Zugrundelegen der Lageberichte in Asylverfahren?

11. Würde die Bundesregierung unsere Ansicht teilen, daß die Abfassung
eines falschen Lageberichtes, der immerhin ein Beweismittel in Asyl-
verfahren ist, ein ungeheuerlicher Vorgang ist, und daß hierdurch der
Rechtsstaat in erheblichem Maße beschädigt wurde?

12. Würde die Bundesregierung unsere Ansicht teilen, daß dieser Vorgang
um so gravierender ist, da zwischen November 1998 und Ende März
1999 exakt 11 294 Asylanträge von Kosovo-Albanern abgelehnt wor-
den sind?

13. Weshalb meint die Bundesregierung, daß es nicht nötig ist, dienst-
rechtliche oder strafrechtliche Schritte gegen Beamte einzuleiten, die
Lageberichte empirisch unrichtig abgefaßt haben, damit so innen-
politische Ziele verfolgt werden konnten?

14. Trifft die Aussage von Staatsminister Dr. Ludger Volmer in der
„Frankfurter Rundschau“ zu, daß ihm von Landesjustizbehörden be-
stätigt worden sei, daß die empirisch unwahren Lageberichte keine
Rolle mehr in Asylverfahren gespielt haben (vgl. FR, 30. April 1999)?

Wenn ja, wann haben ihm welche Landesjustizbehörden diese Aus-
kunft erteilt (bitte einzeln und mit genauem Datum auflisten)?

15. Trifft es zu, daß vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge – analog zum Lagebericht der Bundesregierung – noch am
17. März 1999 ein Ablehnungsbescheid ergangen ist, in dem es heißt:
„Kosovo-Albaner unterliegen bei ihrer Rückkehr ins Heimatland
weiterhin keiner Gruppenverfolgung“ (FR, 30. April 1999)?

16. Wenn es zutrifft, daß laut Aussagen von Staatsminister Dr. Ludger
Volmer Lageberichte zu innenpolitischen Zwecken falsch abgefaßt
wurden, welche Schritte hat die Bundesregierung daraufhin wann un-
ternommen, um zu prüfen, ob andere Berichte auch derart manipuliert
worden sind (bitte alle einzelnen Maßnahmen mit Datum aufführen)?

17. Teilt die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit die Ansicht des Aus-
wärtigen Amts, daß, nachdem eingestandenermaßen „nicht der em-
pirischen Wahrheit entsprechende“ Lageberichte verfaßt worden sind,

Drucksache 14/1378Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 –

„Inkorrektheiten“ (Antwort der Bundesregierung vom 7. Juni 1999,
Drucksache 14/1119) in normalem Routineverfahren konsequenzlos
bereinigtwerden sollten?

18. Waren der gesamte Vorgang der empirisch falschen Lageberichter-
stattung und deren Verwendung in Asylverfahren Gegenstand einer
Kabinettsitzung?

Wenn ja, bestand Einigkeit darin, der Aufklärung und Bereinigung der
Zustände im Auswärtigen Amt Staatsminister Dr. Ludger Volmer zu
überlassen?

19. Welche Folgerungen zieht die Bundesregierung daraus, daß die Un-
richtigkeit der Lageberichte für jeden ab Mitte März 1999 „evident“
war, und wie will sie die diesbezügliche Besorgnis und Kritik unter
Richtern und Staatsanwälten zerstreuen (vgl. den Artikel „Richter
rügen Bericht zur Lage im Kosovo“, FR, 3. Mai 1999)?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß trotz dieser
Evidenz über 11 000 Asylsuchende seit November 1998 abgelehnt
worden sind und noch im März 1999 die Ablehnungsquote in Asylver-
fahren bei 92,16 Prozent lag?

21. Gedenkt die Bundesregierung eine Aufhebung der auf der Grundlage
dieser offenbar „nicht der empirischen Wahrheit“ entsprechenden
Lageberichte ergangenen Asylbescheide gegen Kosovo-Albanerinnen
und -Albaner herbeizuführen, und wenn ja, wie?

22. Wann hat das letzte Mal nach Kenntnis der Bundesregierung ein
Staatsminister oder ein anderesRegierungsmitglied gegenüberMedien
offenbart, daß ein amtliches Dokument falsch abgefaßt worden ist?

23. Welche Berichte von welchen Organisationen sind konkret bei der
Erstellung des Lageberichts vom 18. November 1998 zur Kenntnis ge-
nommen worden, und ist die Bundesregierung und insbesondere
Staatsminister Dr. Ludger Volmer bereit, die berücksichtigten wesent-
lichen Aussagen dieser Berichte, besonders zur systematischen staat-
lichen Verfolgung und zur ethnischen Vertreibung, hier zu nennen und
gegebenenfalls die Widersprüche zum Lagebericht der Bundesregie-
rung zu benennen?

24. Ist die Bundesregierung bereit, die Liste der von ihr konsultierten
Menschenrechtsorganisationen und deren Lageberichte sowie die
eigenen nach Beendigung des Krieges als Dokumentation der Öffent-
lichkeit zur Verfügung zu stellen?
Wenn nein, warum nicht?

25. Wenn die Aussagen des Lageberichtes vom 18. November 1998 in-
haltlich richtig sein sollten, womit rechtfertigt die Bundesregierung
dann inhaltlich die von ihr herbeigeführte Entscheidung zur Kriegs-
beteiligung gegen Jugoslawien?

Bonn, den 21. Juni 1999

Ulla Jelpke
Petra Pau
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 14/1378 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode– 4 –

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