Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 11.01.2016, Az. 1 BvR 2980/14

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2016, 18004

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

ÖFFENTLICHES RECHT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) GRUNDRECHTE VERFASSUNGSBESCHWERDE PFLEGE SENIOREN

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Verfassungsbeschwerde gegen "Pflegenotstand" mangels hinreichender Begründung unzulässig


Gründe

1

Die Beschwerdeführer begehren die Feststellung, dass die gegenwärtigen staatlichen Maßnahmen zum Schutze der Grundrechte von [X.] nicht genügen und der Staat zur Abhilfe und kontinuierlichen Überprüfung verpflichtet ist.

2

Pflegebedürftige Personen haben gemäß § 43 Abs. 1 [X.] ([X.]) Anspruch auf Pflege in vollstationären Einrichtungen, wenn häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich ist oder wegen der Besonderheit des einzelnen Falles nicht in Betracht kommt.

3

Die Leistungen bei häuslicher Pflege wurden zum 1. April 1995, die Leistungen bei stationärer Pflege zum 1. Juli 1996 eingeführt (Art. 1 § 1 Abs. 5 des Gesetzes zur [X.] Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit vom 26. Mai 1994, [X.] 1014).

4

In Bezug auf die Sicherstellung der Qualität vollstationärer Pflegeeinrichtungen werden die §§ 112 bis 120 [X.] von weiteren gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen flankiert. Das bundeseinheitliche Heimgesetz ([X.]) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. November 2001 ([X.] 2970), das zuletzt durch Art. 3 Satz 2 des Gesetzes vom 29. Juli 2009 ([X.] 2319) geändert worden ist, wurde nach Übertragung der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz für das Heimrecht auf die Länder durch Art. 1 Nr. 7 Buchstabe a Doppelbuchstabe dd des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 ([X.] 2034) nach und nach durch entsprechende Ländervorschriften ersetzt.

5

Auf der Grundlage des § 113 [X.] haben der [X.], die [X.], die [X.] sowie die Vereinigungen der Träger der stationären Pflegeeinrichtungen "Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 [X.] in der vollstationären Pflege vom 27. Mai 2011" vereinbart.

6

Zur Überprüfung der Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen und vertraglichen Vereinbarungen führt der Medizinische Dienst der Krankenversicherung mindestens einmal jährlich Qualitätsprüfungen in den Pflegeeinrichtungen als Regel-, Anlass- oder Wiederholungsprüfung auf der Grundlage des § 114 [X.] durch.

7

Die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen werden gemäß § 115 Abs. 1a Satz 1 [X.] im [X.] und in anderer Form kostenfrei veröffentlicht. Der Gesetzgeber hat dieses Instrument zur Verbesserung von Transparenz und Vergleichbarkeit von Qualitätsprüfungen durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung ([X.] - [X.]) vom 28. Mai 2008 ([X.] 874) eingeführt.

8

Die [X.] Pflegeversicherung war seitdem Gegenstand weiterer Reformen. Mit dem Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung ([X.] - PNG) vom 23. Oktober 2012 ([X.] 2246) wurden insbesondere die besonderen Bedarfe von Pflegebedürftigen mit dementiellen Erkrankungen berücksichtigt und - zunächst in der häuslichen und teilstationären Versorgung - Leistungen weiter erhöht. Insbesondere erhalten nach der Übergangsvorschrift des § 123 [X.] Versicherte mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz zusätzliche Leistungen auch unabhängig vom Vorliegen einer Pflegestufe (so genannte Pflegestufe 0).

9

Es folgte das Erste Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften ([X.] - [X.]) vom 17. Dezember 2014 ([X.] 2222), das zum 1. Januar 2015 in [X.] getreten ist. Am 7. September 2015 hat die Bundesregierung den Entwurf für das [X.] der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften ([X.]I) auf den Weg gebracht.

Die Verfassungsbeschwerde wurde von mehreren Beschwerdeführern erhoben, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes fürchten, in absehbarer Zeit vollstationärer Pflege in einem Pflegeheim zu bedürfen. Zum Teil nehmen die Beschwerdeführer bereits ambulante Pflegedienste in Anspruch oder werden von Angehörigen im häuslichen Umfeld gepflegt. Bei zwei der sechs Beschwerdeführern wurde eine Demenzerkrankung diagnostiziert, bei zwei Beschwerdeführern bestehen hierzu Anhaltspunkte oder sie sind erblich mit einem erhöhten Risiko belastet. Zwei Beschwerdeführer sind krankheitsbedingt auf einen Rollstuhl angewiesen und benötigen zur Bewältigung des Alltags Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wollen die Beschwerdeführer auf Missstände in [X.] Pflegeheimen aufmerksam machen und halten die Verletzung von Schutzpflichten der öffentlichen Gewalt gegenüber den Bewohnern von Pflegeheimen aufgrund von gesetzgeberischer Untätigkeit für gegeben.

Bewohner von Pflegeheimen seien gravierenden Versorgungsmängeln ausgesetzt, die von unzureichender Mobilisierung bis hin zu einer mangelnden Nahrungs- und Flüssigkeitsversorgung reiche.

Die Verfassungsbeschwerde benennt die Schwierigkeiten in der Praxis, den Umfang der Versorgungsmängel exakt festzustellen; die Datenlage sei insoweit lückenhaft. Aufgrund der in den [X.] des [X.] der Krankenversicherung dokumentierten [X.] müsse zudem von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Die bisherigen Reformen und Gesetzesnovellen hätten keine spürbare Verbesserung der Situation von [X.] gebracht.

Da die physische und mentale Konstitution von Heimbewohnern in der Regel so schwach sei, dass Rechtsschutz gegen konkrete Pflegemaßnahmen in der Praxis nicht in Anspruch genommen würde, dürften die Beschwerdeführer nicht auf den vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden fachgerichtlichen Rechtsweg verwiesen werden.

Die Beschwerdeführer sehen sich in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 sowie Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Sie erweist sich insgesamt als unzulässig, weil sie nicht den an sie zu stellenden Begründungserfordernissen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] genügt.

Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] muss sich eine Verfassungsbeschwerde mit dem zugrunde liegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (vgl. [X.] 89, 155 <171>). Der Beschwerdeführer muss darlegen, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert (vgl. [X.] 108, 370 <386>). Soweit das [X.] für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe aufgezeigt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffene Maßnahme verletzt werden (vgl. [X.] 99, 84 <87>; 101, 331 <346>; 102, 147 <164>).

1. Nur in seltenen Ausnahmefällen lassen sich der Verfassung konkrete Pflichten entnehmen, die den Gesetzgeber zu einem bestimmten Tätigwerden zwingen. Ansonsten bleibt die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts dem Gesetzgeber überlassen. Ihm kommt ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (vgl. [X.] 77, 170 <214>; 79, 174 <202>; 88, 203 <262>; 96, 56 <64>; 106, 166 <177>; 121, 317 <356>). Nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem [X.] Prinzip der Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers muss dieser selbst die regelmäßig höchst komplexe Frage entscheiden, wie eine aus der Verfassung herzuleitende Schutzpflicht verwirklicht werden soll (vgl. [X.] 56, 54 <81>). Die Entscheidung, welche Maßnahmen geboten sind, kann vom [X.] nur begrenzt nachgeprüft werden. Das [X.] kann erst dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber seine Pflicht evident verletzt hat (vgl. [X.] 56, 54 <80 f.>; 77, 170 <214 f.>; 79, 174 <202>; 85, 191 <212>; 92, 26 <46>; Beschluss der [X.] des [X.] vom 26. Mai 1998 - 1 BvR 180/88 -, NJW 1998, [X.] ff.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 29. Juli 2009 - 1 BvR 1606/08 -, juris, Rn. 12). Einen Verfassungsverstoß durch unterlassene Nachbesserung eines Gesetzes kann das [X.] insbesondere erst dann feststellen, wenn evident ist, dass eine ursprünglich rechtmäßige Regelung wegen zwischenzeitlicher Änderung der Verhältnisse verfassungsrechtlich untragbar geworden ist, und wenn der Gesetzgeber gleichwohl weiterhin untätig geblieben ist oder offensichtlich fehlsame [X.] getroffen hat (vgl. [X.] 56, 54 <81 f.>).

Nach diesen Maßstäben ist eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht durch grundgesetzwidriges Unterlassen des Gesetzgebers hier nicht hinreichend substantiiert vorgetragen. Weder führen die Beschwerdeführer aus, unter welchen Gesichtspunkten die bestehenden landes- und bundesrechtlichen Regelungen zur Qualitätssicherung evident unzureichend sein sollten, noch zeigt die Verfassungsbeschwerde substantiiert auf, inwieweit sich eventuelle Defizite in der Versorgung von Pflegebedürftigen in Pflegeheimen durch staatliche normative Maßnahmen effektiv verbessern ließen.

2. Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch nicht hinreichend substantiiert auf, dass die Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt sind im Sinne des § 90 Abs. 1 Satz 1 [X.].

Die Verfassungsbeschwerde ist ein Rechtsbehelf zur Verteidigung eigener subjektiver Rechte (vgl. [X.] 15, 298 <301>; 43, 142 <147>). Weder das Grundgesetz noch das Gesetz über das [X.] kennen eine "Popularklage" des Bürgers (vgl. [X.] 49, 1 <8>; 64, 301 <319>). Zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gehört vielmehr die schlüssige Behauptung des Beschwerdeführers, dass er selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch die öffentliche Gewalt in seinen grundrechtlich geschützten Positionen verletzt ist (vgl. [X.] 53, 30 <48>; 79, 1 <14 f.>; 102, 197 <206 f.>; 123, 267 <329>).

Die Möglichkeit der eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit ist grundsätzlich erfüllt, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Rechtsnormen beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt wird (vgl. [X.] 109, 279 <307 f.>).

Nach diesen Maßstäben ist eine eigene und gegenwärtige Betroffenheit der nicht in einem Pflegeheim lebenden Beschwerdeführer nicht hinreichend dargelegt worden.

Zunächst ist bereits die Notwendigkeit von stationärer Pflege in der Person der Beschwerdeführer nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit gegeben. Hinzu kommt, dass Pflegebedürftige gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 [X.] zwischen den für die Versorgung zugelassenen Pflegeheimen wählen können. Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen ist um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2980/14

11.01.2016

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, HeimG, §§ 112ff SGB 11, § 2 Abs 2 S 1 SGB 11, § 43 Abs 1 SGB 11

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 11.01.2016, Az. 1 BvR 2980/14 (REWIS RS 2016, 18004)

Papier­fundstellen: NJW 2016, 1716 REWIS RS 2016, 18004

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

1 BvR 607/22

3 BN 1/19

1 BvR 1555/14

2 BvR 1371/13

5 S 969/18

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