Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.03.2013, Az. 5 StR 39/13

5. Strafsenat | REWIS RS 2013, 7680

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Gegenstand

Beweisaufnahme im Strafverfahren: Ablehnung der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Aussagefähigkeit des Zeugen unter Verweis auf die eigene Sachkunde des Gerichts


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 8. Oktober 2012 mit den Feststellungen nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexueller Nötigung in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision. Er beanstandet das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

2

1. Nach den durch das [X.] getroffenen Feststellungen vergewaltigte der bislang unbestrafte Angeklagte den am 1. November 1983 geborenen Nebenkläger zwischen Anfang 1992 und Januar 1993 in mindestens fünf Fällen brutal, wobei er in einem Fall dem Hund des Kindes zur Verstärkung seiner Drohungen das Rückgrat brach und in einem anderen Fall Zigaretten auf der Haut des Kindes ausdrückte. [X.] war ein von den Beteiligten als „Hexenhäuschen“ bezeichnetes Haus in [X.], in dem der Angeklagte mit seiner damaligen Lebensgefährtin, der Mutter des [X.], im fraglichen Zeitraum wohnte.

3

[X.] war schon im Kindesalter verhaltensauffällig. Auf Anraten des behandelnden Psychologen und des [X.] wurde er 1992 aus der Familie herausgenommen und in die Obhut der Großmutter gegeben, hielt sich aber auch beim Angeklagten und seiner Mutter auf. Er befand sich mehrfach, auch stationär, in jugendpsychiatrischer Behandlung. So wurde er aus einer psychiatrischen Einrichtung im Kindesalter am 14. Januar 1993 entlassen und kehrte in die Obhut der Großmutter zurück. Einzelheiten der sexuellen Übergriffe teilte der Nebenkläger erstmals als Erwachsener seiner damaligen Lebensgefährtin und, nachdem sein Verteidiger solches pauschal in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren thematisiert hatte, im Rahmen einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung vom 2. Januar 2012 mit.

4

2. Die Revision dringt mit einer Verfahrensrüge durch.

5

a) Folgendes Geschehen liegt zugrunde:

6

Der Verteidiger hatte die Einholung eines Gutachtens zur Glaubhaftigkeit der belastenden Angaben des [X.] beantragt. Dieser leide an einer antisozialen bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörung, die sich aus bereits im frühen Kindesalter aufgetretenem aggressiv-dissozialem Verhalten herleite. Hauptmerkmal der Persönlichkeitsstörung sei ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das in der Kindheit beginne und bis ins Erwachsenenalter fortdauere. Weil Täuschung und Manipulation zentrale Merkmale dieser Störung seien, müssten die Tatschilderungen zu Lasten des Angeklagten als höchst unzuverlässig gelten.

7

Das [X.] hat den Antrag zurückgewiesen, weil es über die erforderliche Sachkunde selbst verfüge (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). Die von der Verteidigung behauptete Persönlichkeitsstörung möge bei dem Nebenkläger vorliegen. Jedoch seien Täuschung und Manipulation gerade keine zentralen Merkmale dieser Störung. Die Hinzuziehung medizinischer Hilfe sei nicht erforderlich, weil die Aussage des [X.] eine Vielzahl von Realkennzeichen aufweise, in hohem Maße konstant sei und im Randbereich durch Bekundungen anderer Zeugen gestützt werde.

8

b) Entgegen der Auffassung des [X.] ist die Rüge zulässig im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erhoben. Zwar bedarf es hierfür – was die Revision auch nicht verkennt – grundsätzlich des Vortrags der Einwilligung der zu begutachtenden Person in die beantragte Untersuchung (vgl. zuletzt [X.], Beschluss vom 8. Januar 2013 – 1 [X.] mwN). Das kann aber dann nicht gelten, wenn einem Sachverständigen ersichtlich unabhängig von einer Einwilligung des Zeugen die erforderlichen Erkenntnisse auch ohne persönliche Begutachtung verschafft werden können (vgl. dazu [X.], Beschlüsse vom 27. März 1990 – 5 [X.], [X.]R StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 7, vom 25. September 1990 – 5 StR 401/90, [X.]R StPO § 244 Abs. 3 Satz 1 Unzulässigkeit 6, vom 28. Oktober 2008 – 3 [X.], [X.], 346, 347). So liegt es hier.

9

c) Die Rüge hat auch in der Sache Erfolg. Mit der gegebenen Begründung durfte der Beweisantrag nicht abgelehnt werden. Zwar kann sich das Gericht bei der Beurteilung von Zeugenaussagen grundsätzlich eigene Sachkunde zutrauen; etwas anderes gilt aber, wenn besondere Umstände vorliegen, deren Würdigung eine spezielle Sachkunde erfordert, die dem Gericht nicht zur Verfügung steht (vgl. [X.], Beschlüsse vom 1. März 1994 – 5 StR 62/94, [X.] 1994, 634, vom 29. Oktober 1996 – 4 StR 508/96, [X.], 106, vom 28. Oktober 2008 – 3 [X.], [X.], 346, 347, vom 28. Oktober 2009 – 5 [X.], [X.], 100, 101, und vom 23. Mai 2012 – 5 [X.], [X.], 353, 354). Solche Umstände sind hier gegeben. Die Beurteilung einer psychischen Störung des vielfach in psychiatrischen Einrichtungen untergebrachten sowie in seinem [X.] auffälligen [X.] und von deren Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit erfordert spezifisches Fachwissen, das nicht Allgemeingut von Richtern ist; demgemäß hätte die eigene Sachkunde näherer Darlegung bedurft (vgl. [X.], Urteil vom 10. Juli 1958 – 4 [X.], [X.]St 12, 18, 20; Beschlüsse vom 21. Dezember 1983 – 3 [X.], [X.] 1984, 232, und vom 23. Mai 2012 – 5 [X.], aaO). Eine solche ist weder dem Zurückweisungsbeschluss noch den Urteilsgründen zu entnehmen.

d) Die Ablehnung des Beweisantrags führt auf die Revisionsrüge zur umfassenden Aufhebung des Urteils, weil dieses insgesamt auf dem Rechtsfehler beruhen kann.

3. Der Senat weist darauf hin, dass die im angefochtenen Urteil vorgenommene Beweiswürdigung auch sachlich-rechtlich revisionsrechtlicher Überprüfung nicht standgehalten hätte. Hierzu sowie für die neue Hauptverhandlung ist namentlich zu bemerken:

a) Angesichts der überaus schwierigen Beweislage betreffend die rund 20 Jahre zurückliegenden Taten hätte es einer eingehenden und zusammenhängenden Darstellung und Bewertung der Bekundungen des [X.] bedurft, wobei auch im angefochtenen Urteil angesprochene Widersprüche zwischen der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung und der Aussage in der Hauptverhandlung im Einzelnen zu benennen und zu würdigen gewesen wären. Dem genügen die eher kursorischen Erwägungen des [X.]s nicht, die jeglichen konkreten Beleg für Aussagekonstanz oder markante Realkennzeichen vermissen lassen. Gänzlich unzulänglich bleiben die Ausführungen zu der für die Einschätzung der Lebensumstände und einer Gewalttätigkeit des Angeklagten zur Tatzeit besonders bedeutsamen Aussage der Mutter des [X.].

b) Entsprechend den Ausführungen der Revision sind die Feststellungen zur zeitlichen Einordnung der Taten nicht frei von Widersprüchen. Das [X.] hat den Tatzeitraum auf Anfang 1992 bis Januar 1993 festgelegt. Dies tritt schon in erhebliche Spannung mit der zugleich zugrunde gelegten Aussage des im November 1983 geborenen [X.], der Angeklagte habe ihn im Alter von vier bis acht Jahren sexuell missbraucht. Ferner verhält sich das Urteil nicht dazu, dass der Nebenkläger, der das „Hexenhäuschen“ als „Gefängnis“ empfunden hat ([X.]), gerade im Jahr 1992 aus der Familie herausgenommen und bei der Großmutter untergebracht wurde und dass eine stationäre psychiatrische Unterbringung am 14. Januar 1993 endete, nach der der Nebenkläger zur Großmutter zurückkehrte. Es versteht sich in diesem Zusammenhang auch nicht von selbst, dass die Großmutter, der der Nebenkläger nach seiner Aussage von sexuellen Übergriffen des Angeklagten erzählt hat, gleichwohl und ungeachtet nach den Urteilsgründen aufgrund ständiger Misshandlungen von Seiten des Angeklagten vorhandener multipler Hämatome und anderer Verletzungen des [X.] etwa weitere Besuche im „Hexenhäuschen“ zugelassen hat.

c) Das [X.] hat festgestellt, dass der Schließmuskel des [X.] durch die analen Vergewaltigungen geschädigt worden sei, weswegen dieser immer wieder eingekotet habe ([X.]. Der Angeklagte hat in diesem Zusammenhang angegeben, dass der Nebenkläger im fraglichen Zeitraum seinen Onkel       S.     sexueller Übergriffe beschuldigt habe, woraufhin der Nebenkläger ohne Befund durch einen in den Urteilsgründen benannten Arzt untersucht worden sei ([X.], 11). Diese Angaben, denen das [X.] nach den Urteilsgründen nicht nachgegangen ist, finden eine gewisse Bestätigung in der Aussage der Mutter des [X.], wonach aufgrund der Beschuldigung des Onkels das Jugendamt eingeschaltet worden sei, ohne dass sich der Vorwurf habe erhärten lassen ([X.]). Hiermit und namentlich mit Art, Umfang und Ergebnis eingeleiteter Untersuchungen hätte sich das [X.] im Einzelnen auseinandersetzen müssen.

d) Eine zentrale Bedeutung misst das Urteil der durch einen Polizeibeamten eingeführten Aussage der – durch das [X.] wegen einer Erkrankung nicht vernommenen – Tante des [X.] bei. Ihr gegenüber soll sich der Nebenkläger als einziger neben der verstorbenen Großmutter bereits im Kindesalter offenbart haben, indem er bekundete, er müsse am „Pimmel“ des Angeklagten spielen und dieser stecke den „Pimmel“ in seinen Po. Den Urteilsgründen ist jedoch nicht zu entnehmen, wie die Zeugin auf diese Mitteilung reagiert und was sie gegebenenfalls veranlasst hat. Der Mutter des [X.] scheint sie nach deren im Rahmen einer von der Verteidigung erhobenen Aufklärungsrüge wiedergegebenen polizeilichen Aussage hiervon nichts gesagt zu haben. Der Senat weist darauf hin, dass – bei unveränderter Beweissituation – die persönliche Vernehmung der genannten Zeugin in der neuen Hauptverhandlung dringend angezeigt sein wird.

e) Nach den Feststellungen ist der unbestrafte Angeklagte nunmehr in vierter Ehe verheiratet, wobei in die 1995/1996 eingegangene dritte Ehe durch die Ehefrau Kinder im Alter von vier und sechs Jahren eingebracht worden sind ([X.]). Es könnte von [X.] Bedeutung sein, wenn insbesondere diese Ehe – wie nach den Urteilsgründen die Beziehung zur Mutter des [X.] – durch fortwährenden Alkoholmissbrauch, ständige gravierende Gewalttätigkeiten und unter Umständen auch sexuelle Übergriffe des Angeklagten geprägt gewesen wäre.

f) Das [X.] ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte bei allen Taten beträchtlich alkoholisiert gewesen ist. Anhaltspunkte für einen Ausschluss der Schuldfähigkeit hat es nicht gesehen ([X.]). Damit sind indessen die Voraussetzungen der verminderten Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Zwar zeigte der Angeklagte nach den Feststellungen „keine Ausfallerscheinungen“ ([X.]. Im Hinblick darauf, dass für diesen Befund ausschließlich die Wahrnehmung eines Kindes von jedenfalls unter zehn Jahren in Betracht kommt, wären insoweit nähere Ausführungen unabdingbar gewesen.

[X.]

                 Dölp                       [X.]

Meta

5 StR 39/13

05.03.2013

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Saarbrücken, 8. Oktober 2012, Az: 3 KLs 27/12

§ 244 Abs 4 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.03.2013, Az. 5 StR 39/13 (REWIS RS 2013, 7680)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 7680

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