Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 14.07.2021, Az. 5 B 23/20

5. Senat | REWIS RS 2021, 4101

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Gegenstand

Vertretungsmangel bei faktischer Fortsetzung der mündlichen Verhandlung mit nur einer Verfahrenspartei


Tenor

Das Urteil des [X.] vom 23. September 2020 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

1

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Ihr Vorbringen rechtfertigt im Ergebnis die Annahme, dass das Oberverwaltungsgericht gegen § 138 Nr. 4 VwGO verstoßen hat, wonach ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist, wenn ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war, außer wenn er der Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat. Der [X.] macht wegen dieses Verfahrensfehlers von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

2

Mit der Beschwerde ist als [X.] unter anderem gerügt, dass das Oberverwaltungsgericht, nachdem die Eltern des [X.] in der mündlichen Verhandlung keine Fragen zu dessen Entwicklungs- und Gesundheitszustand in Anwesenheit des Vertreters des Beklagten beantworten wollten, die Verhandlung geschlossen hat und anschließend mit den allein im Sitzungssaal verbliebenen Eltern des [X.] ein Gespräch geführt hat. Dass sich dies tatsächlich so verhielt, hat der Kläger mit der Beschwerdeerwiderung bestätigt. Weil auch das Oberverwaltungsgericht den von der Beschwerde geschilderten tatsächlichen Geschehensablauf in seinem Nichtabhilfebeschluss nicht in Abrede gestellt hat, sieht der [X.] keinen Anlass, den Wahrheitsgehalt dieser von der Beschwerde geschilderten Umstände anzuzweifeln. Auf ihrer Grundlage ist davon auszugehen, dass der Beklagte zumindest nicht im gesamten Verfahren - wie es § 138 Nr. 4 VwGO erfordert - nach den [X.] vertreten war. Dies hat der Beklagte im vorliegenden Beschwerdeverfahren auch als [X.] gerügt. Er macht geltend, dass er an dem nach Schließung der mündlichen Verhandlung von dem Oberverwaltungsgericht mit den Eltern des [X.] fortgeführten und dem Verfahren zugehörigen Gespräch nicht habe teilnehmen können. Der Beklagte ordnet dies zwar in erster Linie einer Versagung des rechtlichen Gehörs zu. Er beruft sich aber, indem er sinngemäß beanstandet, bei dem fraglichen Gespräch, das er als Fortsetzung der mündlichen Verhandlung versteht, nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten gewesen zu sein, der Sache nach zugleich auf einen Verstoß gegen die Verfahrensregelung des § 138 Nr. 4 VwGO, der regelmäßig ebenfalls einen Extremfall der Versagung rechtlichen Gehörs darstellt [X.]/[X.], in: [X.]/[X.], VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 195; Eichberger/[X.], in: [X.]/[X.], VwGO, Stand Juli 2020, § 138 Rn. 112). Diese Rüge greift durch.

3

§ 138 Nr. 4 VwGO soll sicherstellen, dass alle Beteiligten Gelegenheit erhalten, entweder in eigener Person oder durch Bevollmächtigte ihren Standpunkt darzulegen und so verhindern, dass sie zum bloßen Objekt eines Gerichtsverfahrens werden, von dem sie nichts wissen, oder in dem sie nicht wirksam handeln können. Die Vorschrift setzt voraus, dass die [X.] in gesetzeswidriger Weise im Verfahren nicht vertreten war, weil das Gericht der [X.] die Teilnahme hieran objektiv unmöglich gemacht hat (vgl. Eichberger/[X.], in: [X.]/[X.], VwGO, Stand Juli 2020, § 138 Rn. 107 m.w.N.). Der [X.] muss nicht während des gesamten Verfahrens vorliegen; es genügt für § 138 Nr. 4 VwGO, wenn er sich auf wesentliche Teile des Verfahrens, insbesondere die mündliche Verhandlung, bezieht (Eichberger/[X.], in: [X.]/[X.], VwGO, Stand Juli 2020, § 138 Rn. 110 m.w.N.). Hiervon ausgehend ist ein [X.] im Sinne des § 138 Nr. 4 VwGO jedenfalls dann anzunehmen, wenn das Gericht eine mündliche Verhandlung zu einem Zeitpunkt durchführt, zu dem ein Beteiligter nicht geladen wurde. Gleiches gilt, wenn er gar nicht oder nicht ordnungsgemäß geladen wurde und deshalb an einer Verhandlung nicht teilnehmen konnte (vgl. etwa [X.], Urteil vom 1. Dezember 1982 - 9 C 486.82 - [X.]E 66, 311 <312>; [X.], in: [X.]/[X.]/[X.], Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, VwGO § 138 Rn. 18). [X.] vergleichbar ist in diesen Fällen, wenn das Gericht eine mündliche Verhandlung zwar förmlich geschlossen hat, der Sache nach diese aber mit nur einem Beteiligten fortgesetzt, indem mit ihm verfahrensbezogene Fragen weiter erörtert werden, während anderen Beteiligten diese Möglichkeit nicht eröffnet wird. Insoweit ist der ausgeschlossene Beteiligte dann hinsichtlich eines wesentlichen Teils des Verfahrens in gesetzeswidriger Weise (vgl. § 104 Abs. 1 VwGO) nicht vertreten. So verhält es sich hier.

4

Das Oberverwaltungsgericht hat nach förmlicher Schließung der mündlichen Verhandlung diese der Sache nach mit einer Erörterung allein in Anwesenheit der Eltern des [X.] fortgesetzt und den Vertreter des Beklagten gesetzeswidrig hieran nicht teilnehmen lassen. Diese Erörterung hatte nach den Angaben in der Beschwerdeerwiderung "das Ergehen und mögliche berufliche Perspektiven des [X.]" und damit Aspekte des [X.] nach § 35a [X.], auf den sich der im Streit stehende Kostenerstattungsanspruch bezieht, zum Gegenstand. Ihr [X.] wird ferner dadurch deutlich, dass nach den Angaben der Beschwerde diesbezügliche Fragen durch das Oberverwaltungsgericht bereits in der mündlichen Verhandlung an die Eltern des [X.] gerichtet worden sind, diese aber eine Antwort in Anwesenheit des Beklagtenvertreters verweigert haben. Der [X.] der ohne den Beklagtenvertreter durchgeführten Erörterung wird im Übrigen nicht deshalb in Frage gestellt, weil das Oberverwaltungsgericht zugesichert hat, das mit den Eltern des [X.] Besprochene werde "keinen Einfluss auf die Entscheidung" haben; nichts Anderes gilt mit Blick darauf, dass es sich nur um ein kurzes Gespräch gehandelt haben soll. Nach § 138 Nr. 4 VwGO ist der Mangel fehlender gesetzlicher Vertretung nur dann unbeachtlich, wenn der nicht nach Vorschrift des Gesetzes Vertretene der Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat. Das ist hinsichtlich des Beklagten offensichtlich nicht der Fall. Ob in einem solchen Fall ein Mangel fehlender Vertretung nicht anzunehmen ist, wenn dem ausgeschlossenen Beteiligten der Inhalt der weiteren Erörterung im Nachhinein zur Kenntnis gebracht wird, bedarf keiner Entscheidung, weil ein solcher Fall hier nicht vorliegt.

5

Der danach anzunehmende wesentliche Verfahrensmangel in Gestalt des Verstoßes gegen § 138 Nr. 4 VwGO, bei dem es sich um einen absoluten Revisionsgrund handelt, hat zur Folge, dass die angefochtene Entscheidung ohne Weiteres als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist. Einer Prüfung der übrigen mit der Beschwerde geltend gemachten Verfahrensfehler bedarf es damit nicht mehr.

6

Das Oberverwaltungsgericht wird bei einer erneuten Verhandlung und Entscheidung auch zu erwägen haben, ob bzw. inwieweit die von ihm für unerheblich gehaltene Frage einer dem Kläger zuzurechnenden Verletzung der Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 ff. [X.], auf die der Beklagte seinen Ablehnungsbescheid im Sinne einer Beweislastentscheidung gestützt hat, etwa die Rechtzeitigkeit der Antragstellung oder die Eilbedürftigkeit des geltend gemachten Hilfebedarfs (§ 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 3 [X.]) in Frage stellen kann (vgl. zu der Problematik: [X.], Beschluss vom 23. Juni 2005 - 12 CE 05.1128 - juris Rn. 15; [X.], Beschlüsse vom 5. Februar 2015 - 12 A 1261/14 - juris Rn. 7 ff. und vom 23. Januar 2009 - 12 A 2897/08 - juris Rn. 8 sowie Urteile vom 14. März 2003 - 12 A 122/02 - NVwZ-RR 2003, 867 juris Rn. 19 und - 12 A 1193/01 - NVwZ-RR 2003, 864 juris Rn. 19; [X.], in: [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2017, § 36a Rn. 23 ff.; von [X.], in: [X.], jurisPK-[X.], 2. Aufl. 2018 [Stand 20. Mai 2021], § 36a Rn. 57; [X.], in: [X.]/[X.], [X.], Stand Dezember 2014, § 36a Rn. 35; Meysen, in: [X.] Kommentar [X.], 8. Aufl. 2019, § 36a Rn. 46; [X.], in: [X.] Sozialrecht, Stand 1. März 2021, § 36a [X.], Rn. 20; [X.], in: [X.], [X.], 5. Aufl. 2015, § 36a Rn. 51). Wegen des sich daran gegebenenfalls anschließenden weiteren Aufklärungsbedarfs in tatsächlicher Hinsicht bedarf es zudem keiner Entscheidung über den von der Beschwerde des Beklagten diesbezüglich ebenfalls geltend gemachten Zulassungsgrund der Grundsatzbedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, der im Übrigen auch nicht hinreichend dargelegt worden ist.

Meta

5 B 23/20

14.07.2021

Bundesverwaltungsgericht 5. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Sächsisches Oberverwaltungsgericht, 23. September 2020, Az: 3 A 975/19, Urteil

§ 36a Abs 2 SGB 8, §§ 60ff SGB 1, § 60 SGB 1, § 104 Abs 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 138 Nr 4 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 14.07.2021, Az. 5 B 23/20 (REWIS RS 2021, 4101)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 4101

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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