Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.12.2013, Az. 3 StR 531/12

3. Strafsenat | REWIS RS 2013, 352

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Gegenstand

Verbot der Doppelbestrafung nach Gemeinschaftsrecht: Begriff "derselben Tat"


Leitsatz

Zum Begriff "derselben Tat" im Sinne des Art. 54 SDÜ.

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 25. September 2012 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der [X.] mit besonders schwerer räuberischer Erpressung und versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung schuldig ist.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Geiselnahme in Tateinheit mit besonders schwerer räuberischer Erpressung, versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Freiheitstrafe von sieben Jahren verurteilt sowie bestimmt, dass hierauf die in [X.] erlittene Auslieferungshaft im Verhältnis eins zu eins angerechnet wird. Mit seiner Revision erhebt der Angeklagte zwei Aufklärungsrügen und beanstandet die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel führt zu der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Änderung des Schuldspruchs; im Übrigen bleibt es ohne Erfolg.

2

Nach den [X.]ststellungen des [X.]s kam es am späten Abend des 5. [X.]bruar 2005 zu einem Streit zwischen dem Angeklagten und seiner Ehefrau in der gemeinsamen Wohnung in [X.]    . In dessen Verlauf äußerte der Angeklagte, seine vier Jahre alte Tochter M.     mit nach [X.] nehmen zu wollen. Der Angeklagte verfügte über zwei Schusswaffen nebst Munition und zwei Handgranaten, von denen er eine in die Hand nahm und entsicherte. Nach dem Erscheinen mehrerer Polizeibeamter äußerte er, er müsse wahrscheinlich bereits aus diesem Grunde in [X.] mindestens fünf Jahre ins Gefängnis. Sodann entschloss er sich, die gemeinsame Ausreise mit seiner Tochter nach [X.] zu erzwingen. Er zog den Sicherungsstift einer Handgranate und erklärte, er werde diese den Beamten erst übergeben, wenn er in [X.] sei; andernfalls werde er sich und seine Tochter umbringen und noch ein paar Polizeibeamte "mitnehmen". Daraufhin gestatteten die Polizeibeamten dem Angeklagten, mit seiner Tochter in seinem PKW wegzufahren. Aus Sorge um das Leben des Kindes versuchten die Polizeibeamten nicht, den Angeklagten aufzuhalten. Der Angeklagte fuhr nicht in Richtung [X.], sondern den Rastplatz F.    an, gab dort zwei Schüsse in die Luft ab und parkte neben einer Zapfsäule. Er bedrohte einen Polizeibeamten mit der Schusswaffe sowie der Handgranate und forderte diesen auf, seine Waffe abzulegen und das Fahrzeug zu betanken. Der Polizeibeamte weigerte sich, diesen Forderungen nachzukommen. Als der Angeklagte dies erkannte, setzte er seine Fahrt auf der [X.] in Richtung [X.] fort. Einige Kilometer vor der Raststätte [X.].    wendete er und erklärte den ihn verfolgenden Polizeibeamten, wenn er auf der nächsten Raststätte nicht tanken dürfe, werde er ohne Rücksicht auf Verluste auf irgendjemanden schießen. Er wolle mit dem Kind "raus aus [X.]", man solle ihn fahren lassen. Sodann setzte er seine Fahrt bis zur Raststätte [X.].     fort. Dort betankte er das Fahrzeug und erklärte, er wolle mit seiner Tochter nach [X.], falls nötig werde er sich selbst und das Kind töten. Sodann verlangte er von einer Polizeibeamtin, für das Kind Speisen und Getränke aus der Tankstelle zu besorgen, was diese unter dem Eindruck der Drohungen befolgte. Danach forderte er die Beamtin auf, ihm die Rechnung nach [X.] zu schicken und setzte seine Fahrt fort. Auf einem Rastplatz in [X.] erklärte er unter Vorzeigen der entsicherten Handgranate gegenüber einem Polizeibeamten, man solle ihm nicht zu nahe kommen, dann geschehe nichts. Sodann fuhr der Angeklagte weiter durch [X.] und [X.] bis nach [X.]. Dort gab er die mitgeführten Waffen heraus und setzte die Fahrt bis nach [X.]-Herzegowina fort.

3

Der Angeklagte wurde am 23. [X.]bruar 2007 von dem Amtsgericht in [X.] ([X.]) durch im Strafbefehlsverfahren ergangenes Urteil wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem Urteil lag zugrunde, dass der Angeklagte am 6. [X.]bruar 2005 um 13.00 Uhr auf dem Gebiet der Gemeinde [X.], Stadt [X.], unter Verstoß gegen die Bestimmungen des Art. 11 Abs. 1 Punkt 5, 6 und 8 des [X.] Waffengesetzes im Besitz zweier "[X.]" sowie eines Gewehrs und einer Patrone für dieses war und dadurch eine Straftat gegen die öffentliche Ordnung (unerlaubter Besitz der Waffen und Explosivsubstanzen, Art. 335 Abs. 1 des [X.] Strafgesetzbuchs) beging. Der Verbleib der zweiten Schusswaffe, die der Angeklagte in [X.] neben diesen Waffen führte, ergibt sich weder aus dem hiesigen Urteil noch aus der [X.] Entscheidung.

4

Am 2. Juni 2010 wurde der Angeklagte vom [X.] ([X.]-Herzegowina) wegen Kindesentziehung zu einer Geldstrafe in Höhe von 2.000 KM verurteilt.

5

Gegen den Angeklagten wurde unmittelbar nach der Tat wegen der in [X.] begangenen Taten ein internationaler Haftbefehl erlassen. Die bosnisch-herzegowinischen Behörden verweigerten in der Folgezeit jedoch die Auslieferung ihres Staatsangehörigen. Am 17. [X.]bruar 2011 stellte sich der Angeklagte den [X.] Behörden. Er befand sich vom 7. Juli 2011 bis zum 6. März 2012 in [X.] in Auslieferungshaft und wurde am 7. März 2012 nach [X.] ausgeliefert. Die Auslieferung wurde versagt, soweit der Angeklagte bereits wegen Kindesentziehung, unerlaubten Waffenbesitzes und Verstoßes gegen das [X.] in [X.]-Herzegowina bzw. [X.] bestraft worden war.

6

I. Die Tat ist hinsichtlich des [X.] zwischenzeitlich eingetretener Verjährung nicht mehr verfolgbar. Im Übrigen besteht kein Verfahrenshindernis.

7

1. Soweit der Angeklagte wegen [X.] begangenen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt worden ist, ist die Tat verjährt. Sie wurde am 6. [X.]bruar 2005 begangen. Die Verjährungsfrist für ein Vergehen nach § 113 Abs. 1 StGB beträgt fünf Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB). Die Verjährung wurde zuletzt am 10. [X.]bruar 2005 durch den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeklagten unterbrochen (§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StGB). Die Anklage wurde im April 2012 erhoben und das Hauptverfahren im August 2012 eröffnet (§ 78c Abs. 1 Nr. 6 und 7 StGB); zu diesen Zeitpunkten war die Verjährung bereits eingetreten. Ein förmliches Auslieferungsersuchen, das nach § 78b Abs. 5 StGB zum Ruhen der Verjährung geführt hätte, ist ebenfalls erst nach Ablauf der Verjährungsfrist gestellt worden. Da das Verfahrenshindernis nur eine von mehreren [X.] (§ 52 StGB) begangenen Gesetzesverletzungen betrifft, scheiden eine Teilaufhebung des Urteils und Teileinstellung des Verfahrens aus; vielmehr hat es mit der Änderung des Schuldspruchs sein Bewenden ([X.], [X.], 56. Aufl., § 206a Rn. 5).

8

2. Ein darüber hinausgehendes Verfahrenshindernis besteht nicht. Der Aburteilung des Angeklagten steht insbesondere nicht mit Blick auf die Verurteilung wegen unerlaubten Besitzes von Waffen und Explosivsubstanzen durch das Amtsgericht in [X.] ([X.]) das Verbot der [X.] ("ne bis in idem") nach Art. 54 [X.] entgegen (zum Verhältnis von Art. 54 [X.] zu Art. 50 [X.] vgl. [X.], Beschluss vom 25. Oktober 2010 - 1 StR 57/10, [X.]St 56, 11, 14 f.). Diese Norm bestimmt, dass derjenige, der durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, nicht durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat verfolgt werden darf, wenn im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des [X.] nicht mehr vollstreckt werden kann. Sie statuiert somit das Verbot, einen Beschuldigten wegen einer bestimmten Tat im prozessualen Sinne mehrfach in verschiedenen Vertragsstaaten mit einem Strafverfahren zu überziehen ([X.], [X.], 162, 163). Im vorliegenden Fall betrifft die [X.] Entscheidung allerdings nicht dieselbe Tat im Sinne des Art. 54 [X.], wie sie dem hiesigen Strafverfahren zugrunde liegt. Die vom [X.] aufgeworfenen weiteren Fragen, etwa ob das in [X.] entscheidende Tatgericht bei der Bewertung der Einheitlichkeit der Tat an die Beurteilung, die der vorangegangenen [X.] [X.] zugrunde liegt, vor allem mit Blick auf den europarechtlichen Grundsatz des "effet utile" zur Vermeidung unterschiedlicher Betrachtungsweisen gebunden ist, sind danach nicht entscheidungserheblich. Im Einzelnen:

9

a) Die Anwendbarkeit von Art. 54 [X.] ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil das [X.] in [X.] noch nicht galt, als das dortige Urteil erging, sondern erst anlässlich des am 1. Juli 2013 wirksam gewordenen Beitritts von [X.] zur [X.] in [X.] gesetzt wurde (s. Anhang II Nr. 2 zum Beitrittsvertrag). Die Frage der Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" stellt sich erst zu dem Zeitpunkt, zu dem in einem anderen Vertragsstaat - hier: [X.] - ein zweites Strafverfahren gegen dieselbe Person durchgeführt wird. Nach der Rechtsprechung des [X.] ([X.], Urteil vom 9. März 2006 - [X.]/04 - [X.] -, NJW 2006, 1781) ist es daher nicht entscheidend, ob das [X.] für den ersten Vertragsstaat zu dem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene dort rechtskräftig abgeurteilt wurde, noch nicht verbindlich war. Vielmehr ist das in Art. 54 [X.] niedergelegte Verbot der [X.] auch auf ein Strafverfahren anzuwenden, das in einem Vertragsstaat wegen einer Tat eingeleitet worden ist, die in einem anderen Vertragsstaat bereits zur Verurteilung des Betroffenen geführt hat, selbst wenn das [X.] in diesem letztgenannten Staat zum Zeitpunkt der Verkündung dieser Verurteilung noch nicht in [X.] war, sofern es in den betreffenden Vertragsstaaten zu dem Zeitpunkt gilt, zu dem das mit dem zweiten Verfahren befasste Gericht die Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" zu prüfen hat.

b) Da es sich bei dem Verbot der [X.] gemäß Art. 54 [X.] um ein Verfahrenshindernis handelt ([X.], Beschlüsse vom 25. Oktober 2010 - 1 StR 57/10, [X.]St 56, 11; vom 9. Juni 2008 - 5 [X.], [X.], 2931, 2932; [X.]/[X.]/[X.]/Hackner, [X.], 5. Aufl., Art. 54 [X.] Rn. 18), dessen Vorliegen in jeder Lage des Verfahrens, mithin auch noch in der Revisionsinstanz, von Amts wegen zu berücksichtigen ist ([X.], [X.], 56. Aufl., [X.]. Rn. 150; vgl. auch zu Art. 50 [X.] [X.], aaO, [X.]St 56, 11), kommt es weiter nicht darauf an, dass das tatgerichtliche Urteil im hiesigen Verfahren ebenfalls vor dem Beitritt [X.]s zur [X.] ergangen ist.

c) Bei der Entscheidung des Amtsgerichts in [X.] vom 23. [X.]bruar 2007 handelt es sich um eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne des Art. 54 [X.], verstanden als eine Entscheidung, die nach [X.]m Recht als endgültig und bindend anzusehen ist mit der Folge, dass sie in [X.] den sich aus dem Verbot der [X.] ergebenden Schutz bewirkt (vgl. [X.], Beschluss vom 22. Dezember 2008 - [X.]/07 - [X.] -, NStZ-RR 2009, 109, 110). Gemäß der sachverständigen Stellungnahme des [X.] in [X.], welcher der Senat folgt, erging das genannte Urteil in einem speziellen Verfahren für den Erlass eines Strafbefehls. Es entspricht in seiner Wirkung einer "normalen" Verurteilung im [X.] an eine Hauptverhandlung und bewirkt nach [X.]m Recht mit dem Eintritt der Rechtskraft, an dem hier nach den konkreten Umständen des Falles keine Zweifel bestehen, den sich aus dem Verbot der [X.] ergebenden Schutz.

d) Der durch das Amtsgericht [X.] abgeurteilte Sachverhalt und derjenige, der Grundlage der hier angefochtenen Entscheidung ist, betreffen indes nicht dieselbe Tat im Sinne des Art. 54 [X.]. Hierzu gilt:

aa) Nach [X.] innerstaatlichen Recht ist das Verbot der [X.] in Art. 103 Abs. 3 GG verankert. Der Begriff der Tat im Sinne dieser Vorschrift richtet sich nach der verfahrensrechtlichen Bestimmung des § 264 [X.] und ist somit als der geschichtliche sowie damit zeitlich und sachverhaltlich begrenzte Vorgang zu verstehen, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Der materiellrechtliche und der prozessuale Tatbegriff stehen indes nicht völlig beziehungslos nebeneinander. Vielmehr stellt ein durch den Rechtsbegriff der Tateinheit nach § 52 StGB zusammengefasster Sachverhalt in der Regel auch verfahrensrechtlich eine einheitliche prozessuale Tat dar. Umgekehrt liegen im Falle sachlichrechtlicher Tatmehrheit nach § 53 StGB grundsätzlich auch mehrere Taten im prozessualen Sinne vor (vgl. im Einzelnen [X.], Beschluss vom 5. März 2009 - 3 StR 566/08, [X.]R [X.] § 264 Abs. 1 Tatidentität 47).

Von diesen Grundsätzen sind allerdings jeweils unter Berücksichtigung der Besonderheiten der abgeurteilten Delikte Ausnahmen zu machen. Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass bei einem weiten Verständnis des prozessualen Tatbegriffs die Kognitionspflicht des zuerst entscheidenden Tatgerichts ausgedehnt und damit dessen Leistungsfähigkeit möglicherweise überschritten wird. So werden etwa von einer Verurteilung wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung (§§ 129, 129a StGB) trotz materiellrechtlicher Tateinheit diejenigen vom Täter begangenen konkreten Straftaten nicht erfasst, die in dem früheren Verfahren tatsächlich nicht - auch nicht als mitgliedschaftlicher Beteiligungsakt - Gegenstand der Anklage und Urteilsfindung waren und mit Blick auf ihre Strafdrohung schwerer wiegen als die abgeurteilten Delikte (vgl. [X.], Urteil vom 11. Juni 1980 - 3 StR 9/80, [X.]St 29, 288, 292 ff.; Beschluss vom 4. September 2009 - StB 44/09, [X.], 287, 288). Im Übrigen sprechen gute Gründe dafür, dass bei sich unter Umständen lange hinziehenden Delikten wie Organisations- oder Dauerstraftaten sowie Bewertungseinheiten auch dann mehrere prozessuale Taten anzunehmen sind, wenn nur einzelne Betätigungen Gegenstand der früheren Anklage und gerichtlichen Untersuchung waren und der Angeklagte nicht darauf vertrauen durfte, dass durch das frühere Verfahren alle strafbaren Handlungen erfasst wurden ([X.], Beschluss vom 30. März 2001 - StB 4 und 5/01, [X.]R StGB § 129a Strafklageverbrauch 1).

bb) Nach der für die nationalen Gerichte verbindlichen Auslegung des Art. 54 [X.] in mehreren Entscheidungen des [X.] ([X.], Urteile vom 11. [X.]bruar 2003 - [X.]/01 - [X.] und [X.] -; vom 9. März 2006 - [X.]/04 - [X.] -, NJW 2006, 1781; vom 28. September 2006 - [X.]/04 - [X.] -; vom 28. September 2006 - [X.]/05 - Van Straaten -; vom 18. Juli 2007 - [X.]/05 - [X.] -, NJW 2007, 3412; vom 18. Juli 2007 - [X.] -, [X.], 164; vom 22. Dezember 2008 - [X.]/07 - [X.] -, NStZ-RR 2009, 109; vom 16. November 2010 - [X.]/09 [X.] -, NJW 2011, 983) gilt im Rahmen dieser Vorschrift indes ein im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen eigenständiger, autonom nach unionsrechtlichen Maßstäben auszulegender Tatbegriff. Danach ist maßgebendes Kriterium für die Anwendung des Art. 54 [X.] allein die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen. Das Verbot der [X.] greift ein, wenn ein solcher Komplex unlösbar miteinander verbundener Tatsachen besteht und die verschiedenen Verfahren jeweils Tatsachen aus dem einheitlichen Komplex zum Gegenstand haben ([X.], Beschluss vom 9. Juni 2008 - 5 [X.], [X.], 2931, 2932 f.). Auf materiellrechtliche Bewertungen, insbesondere dahin, ob die verschiedenen begangenen Delikte nach [X.] Recht sachlichrechtlich im Verhältnis von Tateinheit oder Tatmehrheit stehen, kommt es demnach nicht an.

Die nähere Auslegung dieses Tatbegriffs im Sinne des Art. 54 [X.] hat sich in erster Linie am Zweck dieser Norm auszurichten, der darin besteht, die ungehinderte Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit der Unionsbürger zu sichern. Wer wegen eines Tatsachenkomplexes bereits in einem Vertragsstaat abgeurteilt ist, soll sich ungeachtet unterschiedlicher rechtlicher Maßstäbe in den einzelnen [X.] darauf verlassen können, dass er nicht - auch nicht unter einem anderen rechtlichen Aspekt - [X.] wegen derselben Tatsachen strafrechtlich verfolgt wird. Demgegenüber ist die Einordnung der Tatsachen nach den Strafrechtsordnungen der Vertragsstaaten unbeachtlich. Die Qualifizierung eines Tatsachenkomplexes als eine Tat im Sinne des Art. 54 [X.] ist darüber hinaus von dem jeweils rechtlich geschützten Interesse unabhängig; denn dieses kann wegen der fehlenden Harmonisierung der nationalen Strafvorschriften von einem Vertragsstaat zum anderen unterschiedlich sein. Allein aus dem Umstand, dass die Taten durch einen einheitlichen Vorsatz auf [X.] verbunden sind, lässt sich die Identität der Sachverhalte nicht herleiten; erforderlich ist vielmehr eine objektive Verbindung der zu beurteilenden Handlungen (vgl. [X.], jeweils aaO).

Ob im konkreten Fall nach diesen Kriterien eine einheitliche Tat anzunehmen ist, obliegt der Beurteilung durch die nationalen Gerichte ([X.], Urteile vom 9. März 2006 - [X.]/04 - [X.] -, NJW 2006, 1781; vom 28. September 2006 - [X.]/04 - [X.] -).

cc) Bei Anwendung dieser Maßstäbe liegt hier eine einheitliche Tat im Sinne des Art. 54 [X.] nicht vor. Der Sachverhalt, der die Grundlage der hiesigen Verurteilung bildet, und derjenige, den das Amtsgericht in [X.] abgeurteilt hat, bilden weder in zeitlicher noch in örtlicher Hinsicht noch unter [X.] einen Komplex unlösbar miteinander verbundener Tatsachen. Zwar plante der Angeklagte von Beginn an, mit seinem Kind bis nach [X.]-Herzegowina zu fahren. Auch verwendete er diejenigen Waffen, deren Besitz in [X.] abgeurteilt wurde, bereits bei seinen strafbaren Handlungen in [X.] und übte durchgängig die tatsächliche Gewalt über sie aus. Es kann dahinstehen, ob diese Umstände nach inner[X.] Strafrecht sachlichrechtlich zur Annahme von Tateinheit führen würden (zum nach [X.] Recht allerdings eingeschränkten Strafklageverbrauch bei einer Verurteilung wegen Besitzes und/oder Führens von Waffen vgl. [X.], Urteile vom 16. März 1989 - 4 StR 60/89, [X.]St 36, 151; vom 15. April 1998 - 2 [X.], [X.], 8). Sie verknüpfen jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht das jeweils abgeurteilte Geschehen nicht so stark, dass ein insgesamt einheitlicher, untrennbarer Tatsachenkomplex anzunehmen ist.

(1) Für die an den zwei Raststätten in [X.] begangene vollendete und die versuchte besonders schwere räuberische Erpressung folgt dies bereits daraus, dass diese Delikte lediglich das jeweilige, in sich insoweit abgeschlossene Geschehen in [X.] betreffen. Dieses steht weder zeitlich noch örtlich noch inhaltlich in einem engen, unlösbaren Zusammenhang mit dem Besitz der Waffen am Mittag des nächsten Tages in [X.].

(2) Entsprechendes gilt im Verhältnis der Geiselnahme in [X.] zu dem Waffenbesitz in [X.].

Bezüglich dieses Delikts erhält das von § 239b StGB erfasste Geschehen in [X.] sein wesentliches Gepräge dadurch, dass der Angeklagte sich seiner Tochter bemächtigte bzw. diese entführte und die Waffen nicht nur besaß, sondern sie darüber hinaus als Mittel zu einer qualifizierten Drohung mit dem Tod von sich selbst, seiner Tochter und Polizeibeamten aktiv und bewusst einsetzte. Weder dem in dem hiesigen Verfahren ergangenen Urteil noch demjenigen des Amtsgerichts [X.] lässt sich entnehmen, dass der Angeklagte die in [X.] zuletzt auf einem Rastplatz in [X.] ausgesprochenen Drohungen nach Verlassen des [X.] weiterhin aufrecht erhielt. Die [X.]ststellungen des in [X.] ergangenen Urteils stellen im Gegenteil eindeutig lediglich darauf ab, dass der Angeklagte am Mittag des 6. [X.]bruar 2012 in [X.] im Besitz des größten Teils der Waffen war; davon, dass der Angeklagte dort oder sonst wo in [X.] noch auf irgendjemanden nötigend einwirkte, ist nicht die Rede.

Diese jeweiligen Urteilsfeststellungen stehen im Einklang mit dem vom Senat darüber hinaus bei der Prüfung des Bestehens eines Verfahrenshindernisses im Freibeweisverfahren zu verwertenden Beweisstoff. Danach ist davon auszugehen, dass der Angeklagte das in [X.] aufgebaute Bedrohungsszenario nach Verlassen des [X.] nicht aufrecht erhielt und allenfalls noch einmal kurzzeitig erneuerte. Zunächst ist für die anschließende Fahrt durch [X.] eine irgendwie geartete konkrete [X.] oder sonstige Nötigungshandlung nicht belegt (Bericht [X.].   vom 9. [X.]bruar 2005, [X.], [X.]). Während der Fahrt durch [X.] erklärte er lediglich bei der Einreise, man habe in [X.] auf ihn geschossen; er sei bereit, seine Tochter und sich selbst zu töten (Bericht [X.] vom 10. [X.]bruar 2005, [X.] Bl. 153). Während seines Aufenthalts am Grenzübergang zwischen [X.] und [X.] drohte der Angeklagte demgegenüber nicht erneut damit, seine Handgranaten zur Explosion zu bringen. In der Folgezeit übergab er sogar freiwillig die zwei Handgrananten und eine weitere Waffe an die ihn observierenden [X.] Polizeibeamten (Bericht [X.] vom 2. März 2005, [X.] Bl. 158). Sein Verhalten in [X.] unterschied sich somit ganz wesentlich von demjenigen in [X.].

Demnach fehlt es auch mit Blick auf die sonstigen Umstände an einer ausreichenden objektiven Verbindung der zu bewertenden [X.]. Der Angeklagte durfte nicht berechtigterweise darauf vertrauen, die Aburteilung in [X.] wegen bloßen Waffenbesitzes umfasse auch das schwere Straftaten verwirklichende Geschehen in der Bundesrepublik [X.]. Ihm musste vielmehr ohne Weiteres klar sein, dass die strafrechtliche Ahndung in [X.] nicht das Gesamtgeschehen umfasste, sondern sich allein auf das konkrete Geschehen in [X.] bezog, wie es in der Verurteilung dargestellt ist. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch unter Berücksichtigung der Vorgaben des [X.] von Bedeutung, dass die Kognitionspflicht des ersten Tatgerichts - eingedenk der Unterschiedlichkeit der nationalen Strafrechtsordnungen - nicht überdehnt werden darf. Nach alldem ist der Angeklagte durch die Durchführung des Strafverfahrens in [X.] in seinem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der [X.] nicht in rechtsstaatswidriger Weise beeinträchtigt.

dd) Die Annahme unterschiedlicher Taten steht auch im Einklang mit den Ergebnissen in den bisher von der Rechtsprechung zu Art. 54 [X.] entschiedenen Fällen. Ein den dortigen [X.]ststellungen vergleichbar einheitliches, durchgängiges Gesamtgeschehen ist hier nicht gegeben; das im vorliegenden Fall zu beurteilende tatsächliche Geschehen unterscheidet sich vielmehr wesentlich von den Sachverhalten, in denen bislang eine einheitliche Tat im Sinne des Art. 54 [X.] angenommen wurde. Dies war der Fall etwa bei einer Ausfuhr von Betäubungsmitteln aus einem Vertragsstaat ([X.]) und anschließender Einfuhr in einen anderen Vertragsstaat ([X.]) ([X.], Urteil vom 9. März 2006 - [X.]/04 - [X.] -, NJW 2006, 1781) sowie bei der Übernahme geschmuggelten ausländischen Tabaks in [X.] und dessen Einfuhr nach und Besitz in [X.], wobei von Anfang an der Plan bestand, den Tabak nach Verbringung in den ersten Vertragsstaat zu seinem endgültigen Bestimmungsort zu transportieren ([X.], Urteil vom 18. Juli 2007 - [X.]/05 - [X.] -, NJW 2007, 3412; [X.], aaO, [X.], 2931). Eine einheitliche Tat kommt auch in Betracht bei der Vermarktung einer Ware (Olivenöl) in einem Vertragsstaat nach deren ursprünglicher Einfuhr in einen anderen Vertragsstaat ([X.], Urteil vom 28. September 2006 - [X.]/04 - [X.] -).

Soweit es in diesen Entscheidungen um den Transport von Rauschgift durch mehrere Vertragsstaaten ging, war dieser insgesamt und durchgängig Teil eines einheitlichen, auf die Verwertung des Rauschgifts und damit einen einheitlichen übergeordneten objektiven Zweck gerichteten Gesamtvorgangs, dessen Aufspaltung in voneinander zu trennende Phasen dem engen Zusammenhang des Gesamtgeschehens nicht entsprochen hätte. Entsprechendes gilt in den Fällen des geschmuggelten Tabaks sowie der Einfuhr und anschließenden Verwertung des Olivenöls. Bei dem Verbringen der Betäubungsmittel nach [X.] waren zudem maßgebend die konkreten Einzelfallumstände und dabei insbesondere, dass keine wesentliche Unterbrechung des Transports oder ein längeres Zwischenlagern der Ware vorlag und der genaue Ablauf des Transports bereits vor dessen Beginn geplant war ([X.], aaO, [X.], 2931, 2933). Im Gegensatz hierzu ist im vorliegenden Fall das Geschehen in [X.] wesentlich durch die Begründung und Aufrechterhaltung der Bemächtigungslage sowie die massiven Drohungen des Angeklagten geprägt, während bei dem in [X.] abgeurteilten Geschehen allein der Besitz der Waffen maßgebend ist. Deshalb ist, obwohl der Angeklagte den Großteil der Waffen bis nach [X.] mit sich führte, ein den "[X.]" entsprechender übergeordneter, die einzelnen Komplexe gleichermaßen prägender objektiver und durchgängig einheitlicher Zweck nicht gegeben. Dies zeigt sich schließlich auch darin, dass der Angeklagte seine Fahrt auch nach Abgabe der Schusswaffe und Handgranaten in [X.] unbewaffnet bis zu seinem Ziel in [X.]-Herzegowina fortsetzte.

II. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der [X.] hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, so dass es bei der durch die Verjährung des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte bedingten Änderung des Schuldspruchs sein Bewenden hat. Die beiden erhobenen Aufklärungsrügen (§ 244 Abs. 2 [X.]) haben aus den zutreffenden Gründen der Antragsschrift des [X.]s jedenfalls in der Sache keinen Erfolg. Dasselbe gilt, soweit der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts beanstandet. Diesbezüglich bedarf lediglich der folgende Gesichtspunkt der ergänzenden Erörterung:

Die auf den Handlungen des Angeklagten an den Rastplätzen F.    und [X.].     beruhende Verurteilung wegen [X.] begangener vollendeter und versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung begegnet keinen durchgreifenden Bedenken. Zwar waren bei dem Geschehen an der Raststätte F.      nach der Vorstellung des Angeklagten der genötigte Polizeibeamte und der geschädigte [X.] nicht personenidentisch. Auch lassen es die [X.]ststellungen offen, ob der Vermögensnachteil bei dem Geschehen an der Raststätte [X.].    bei der genötigten Polizeibeamtin oder dem dortigen [X.] eintrat. Diese Umstände begründen jedoch keinen Rechtsfehler. Nach dem Wortlaut des § 253 StGB kann der Nachteil bei dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen eintreten. Nach ständiger Rechtsprechung, von der abzuweichen der vorliegende Fall keinen Anlass bietet, ist die Norm insoweit dahin einschränkend auszulegen, dass nicht jedes einem Dritten abgenötigte vermögensschädigende Verhalten eine Strafbarkeit wegen Erpressung begründen kann. Vielmehr ist zwischen dem Genötigten und dem in seinem Vermögen Geschädigten ein Näheverhältnis dergestalt erforderlich, dass das [X.] spätestens im Zeitpunkt der Tatbegehung auf der Seite des [X.] steht und ihm dessen Vermögensinteressen nicht gleichgültig sind (vgl. etwa [X.], Urteil vom 20. April 1995 - 4 StR 27/95, [X.]St 41, 123, 125 f.; [X.]/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 253 Rn. 6).

Ein solches Näheverhältnis liegt hier vor. Der Schutz von [X.] Dritter vor Straftaten ist wesentlicher Bestandteil der Berufspflicht eines jeden Polizeibeamten ([X.], Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 358/92, [X.]St 38, 388, 390). Eine Erpressung ist deshalb auch anzunehmen, wenn Polizeibeamte in Erfüllung ihrer Aufgaben anstelle des Geschädigten handeln, indem sie etwa dem Genötigten vom Täter geforderte Gelder zur Verfügung stellen und deren Übergabe übernehmen ([X.], Urteil vom 30. November 1995 - 5 [X.], [X.]St 41, 368, 371). Dasselbe gilt, wenn Polizeibeamte wie hier in Ausübung ihres Amtes zunächst an Stelle des [X.] Adressat der Nötigung werden (vgl. hierzu schon [X.], Urteil vom 8. Mai 1929 - [X.], [X.]St 63, 164, 165).

III. Die Änderung des Schuldspruchs berührt nicht die Höhe der Strafe, auf die das [X.] erkannt hat. Nach der Wertung der Strafkammer fiel der [X.] abgeurteilte Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bei der Bemessung der Strafe nicht wesentlich ins Gewicht ([X.]). Im Übrigen können auch im Urteil festgestellte strafbare Sachverhalte, deren Verfolgung wegen [X.] nicht mehr möglich ist, in angemessenem Umfang bei der Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden. Es ist deshalb auszuschließen, dass das [X.] auf eine geringere Strafe erkannt hätte, wenn es bedacht hätte, dass das [X.] begangene Vergehen nach § 113 Abs. 1 StGB nicht mehr verfolgt werden durfte.

I[X.] Der geringe Teilerfolg der Revision macht es nicht unbillig, den Angeklagten in vollem Umfang mit den entstandenen Kosten und Auslagen zu belasten (§ 473 Abs. 4 [X.]).

Becker                        [X.]                        [X.]

               Gericke                        Spaniol

Meta

3 StR 531/12

12.12.2013

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Mönchengladbach, 25. September 2012, Az: 21 KLs 11/12

Art 54 SchÜbkDÜbk, Art 103 Abs 3 GG, § 52 StGB, § 53 StGB, § 264 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.12.2013, Az. 3 StR 531/12 (REWIS RS 2013, 352)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 352

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Strafverfahren: Verfahrenshindernis des Strafklageverbrauchs bei Verurteilung wegen derselben Tat; Strafvollstreckung bei zur Bewährung ausgesetzter Freiheitsstrafe


2 StR 302/19 (Bundesgerichtshof)

Strafrecht: Verbot der Doppelbestrafung im transnationalen Bereich beim unerlaubten Finanzproduktevertrieb und Vorverurteilung in der Schweiz


1 StR 39/17 (Bundesgerichtshof)


5 StR 342/04 (Bundesgerichtshof)


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