Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.12.2013, Az. B 11 AL 82/13 B

11. Senat | REWIS RS 2013, 215

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - neuer entscheidungserheblicher Tatsachenvortrag und Berufungsbegründung nach Anhörung - Verletzung der Pflicht zur erneuten Anhörung


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 21. Mai 2013 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt die Stundung einer Erstattungsforderung der [X.].

2

Den Stundungsantrag des [X.] lehnte die Beklagte wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 76 Abs 2 S 1 [X.] [X.] ([X.]) ab (Bescheid vom 9.2.2011, Widerspruchsbescheid vom 27.10.2011). Die sofortige Einziehung der Rückforderung stelle keine erhebliche Härte dar; zudem werde durch eine Stundung der Anspruch gefährdet.

3

Das Sozialgericht ([X.]) hat nach mündlicher Verhandlung die auf Aufhebung der Bescheide der [X.] sowie auf Neubescheidung des Stundungsantrags gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 7.12.2012). Die ursprünglich erlassene Anordnung des persönlichen Erscheinens des [X.] ist im Termin aufgehoben worden, weil der Kläger am Verhandlungstag arbeitsunfähig erkrankt gewesen ist. Das [X.] ist davon ausgegangen, der Kläger werde auch nach einer Stundung nicht eher in der Lage sein, die Forderung der [X.] zu erfüllen.

4

Gegen dieses Urteil hat der Kläger fristgerecht Berufung eingelegt, diese jedoch zunächst nicht innerhalb der hierfür vom [X.] (L[X.]) gesetzten Frist begründet. Daraufhin hat das L[X.] die Beteiligten zu einer Zurückweisung der Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz ([X.]G) angehört. Innerhalb der zugleich gesetzten Frist zur Stellungnahme hat der Kläger die Berufung begründet und ua vorgetragen, durch eine Stundung werde der Anspruch der [X.] nicht gefährdet. Zwar blieben seine Einnahmen tatsächlich voraussichtlich konstant; seine Belastungen würden aber stetig geringer. Die Restschuld des [X.] schwinde durch stetige Tilgung, die Unterhaltspflicht gegenüber seinem [X.] ende in absehbarer Zeit und seine Ehefrau könne in Kürze die Rückzahlung eines Sparbriefs erwarten.

5

Mit Beschluss vom [X.] hat das L[X.] die Berufung des [X.] gegen das Urteil des [X.] durch Entscheidung der Berufsrichter nach § 153 Abs 4 [X.]G zurückgewiesen. Eine mündliche Verhandlung sei auch unter Berücksichtigung der Berufungsbegründung des [X.] nicht erforderlich. Dessen Hinweis auf die stetige Darlehenstilgung zeige, dass er bereits gegenwärtig leistungsfähig sei. Unerheblich sei der Verweis auf Vermögenswerte seiner Ehefrau, weil diese offenbar nicht gewillt sei, sich an der Tilgung der Erstattungsforderung der [X.] zu beteiligen. Auch auf den bevorstehenden Wegfall der Unterhaltspflicht gegenüber seinem [X.] komme es nicht an.

6

Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensmangel eine Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G mit der Folge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts und eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs. Mit der Vorgehensweise, durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 [X.]G zu entscheiden, habe das L[X.] ihm die Möglichkeit der Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung genommen, in der er die - aus Sicht des L[X.] entscheidungserheblichen, aber nicht vollständig geklärten - Tatsachenfragen hätte beantworten können. Der Auffassung des L[X.], es könne ohne mündliche Verhandlung entscheiden, liege eine grobe Fehleinschätzung zugrunde. Es fehle zumindest an einer erneuten Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs 4 [X.] [X.]G, die erforderlich geworden sei, nachdem sich die [X.] seit der erfolgten Anhörung durch die Vorlage der Berufungsbegründung wesentlich geändert habe.

7

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der Beschwerdeführer hat einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G schlüssig bezeichnet (§ 160a Abs 2 S 3 [X.]G). Dieser Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor.

8

Der angefochtene Beschluss des L[X.] ist unter Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G ergangen. Damit ist auch der Anspruch des [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.

9

Nach § 153 Abs 4 S 1 [X.]G kann das L[X.], außer in den Fällen des § 105 Abs 2 S 1 [X.]G, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Formale Voraussetzung für eine solche Vorgehensweise des L[X.] ist die vorherige Anhörung der Beteiligten (§ 153 Abs 4 [X.] [X.]G). Im vorliegenden Fall fehlt es bereits an einer ordnungsgemäßen Anhörung.

Die [X.] nach § 153 Abs 4 [X.] [X.]G ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs, das auch bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im [X.] nicht verletzt werden darf (B[X.] SozR 4-1500 § 153 [X.] Rd[X.] mwN). Dies beinhaltet nach ständiger Rechtsprechung des [X.], dass eine neue Anhörungsmitteilung erfolgen muss, wenn sich gegenüber der ersten Anhörungsmitteilung die [X.] entscheidungserheblich geändert hat (zuletzt B[X.] vom [X.] - [X.] [X.] 33/12 B - Juris RdNr 8; vgl auch ua B[X.] SozR 4-1500 § 153 [X.]5 Rd[X.]0 mwN). Dies ist etwa der Fall, wenn nach Zugang der Anhörungsmitteilung von einem Beteiligten neue entscheidungserhebliche Tatsachen vorgetragen werden (vgl B[X.] SozR 4-1500 § 153 [X.]4 Rd[X.]4 f) oder wenn die Berufung erst dann (substantiiert) begründet wird ([X.] in [X.]/ [X.]/[X.], [X.]G, 10. Aufl 2012, § 153 RdNr 20a unter Hinweis auf BVerwG [X.] 312 EntlG [X.]2, 50).

Im Berufungsverfahren hat sich mit der Vorlage der Berufungsbegründung durch den Kläger eine wesentliche Änderung der prozessualen Situation ergeben. Zum Zeitpunkt der Anhörung nach § 153 Abs 4 [X.] [X.]G durch das L[X.] war nicht erkennbar, warum der Kläger das Urteil des [X.] für unzutreffend hält. Dagegen enthält die Berufungsbegründung substantiierte Angriffe auf die das erstinstanzliche Urteil tragende Erwägung, der Anspruch der [X.] werde durch eine Stundung gefährdet. Dazu hat der Kläger (nach der Anhörungsmitteilung des L[X.]) auch neuen Tatsachenvortrag in das Verfahren eingeführt, der - ausgehend von der Rechtsauffassung des L[X.] - entscheidungserheblich war. Dies gilt insbesondere für die vom Kläger behauptete Verbesserung seiner Zahlungsfähigkeit in naher Zukunft.

Unter diesen Umständen durfte der Kläger davon ausgehen, dass das L[X.] ihm entweder Gelegenheit geben würde, seinen Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung zu vertiefen, oder ihm durch eine erneute Anhörungsmitteilung bekanntgeben würde, dass der L[X.]-Senat sein Rechtsmittel auch unter Berücksichtigung der Berufungsbegründung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Dies hätte dem Kläger etwa Gelegenheit gegeben, vor der Entscheidung des L[X.] konkrete Beweisanträge zu stellen, um eine weitere Sachverhaltsaufklärung in seinem Sinne zu erreichen (siehe zu dieser Funktion der Anhörungsmitteilung B[X.] vom 6.6.2001 - B 2 U 117/01 B - Juris RdNr 2). Indem das L[X.] dies unterlassen und am [X.] die Berufung des [X.] im [X.] nach § 153 Abs 4 S 1 [X.]G zurückgewiesen hat, hat es die [X.] nach § 153 Abs 4 [X.] [X.]G und den Anspruch des [X.] auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör verletzt.

Die angefochtene Entscheidung kann auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruhen. Es ist nicht auszuschließen ist, dass das L[X.] infolge des nach einer weiteren Anhörungsmitteilung zu erwartenden vertieften Sachvortrags des [X.] zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

Bei dem derzeitigen Verfahrensstand erscheint es dem Senat untunlich, sich zu den Voraussetzungen der begehrten Stundung zu äußern. Hingewiesen sei nur darauf, dass zunächst das Vorliegen oder Fehlen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 76 Abs 2 S 1 [X.] [X.] zu beurteilen ist, ehe es auf eine eventuelle Ermessensentscheidung der [X.] ankommen kann.

Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]G).

Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des L[X.] vorbehalten.

Meta

B 11 AL 82/13 B

17.12.2013

Bundessozialgericht 11. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AL

vorgehend SG Karlsruhe, 7. Dezember 2012, Az: S 17 AL 4839/11, Urteil

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 62 SGG, § 76 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB 4

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.12.2013, Az. B 11 AL 82/13 B (REWIS RS 2013, 215)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 215

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