Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.04.2019, Az. 1 StR 153/19

1. Strafsenat | REWIS RS 2019, 7894

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Gegenstand

Tatsächliche Verständigung vor Aussetzung der Hauptverhandlung


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 6. Dezember 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

I.

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Wohnungseinbruchdiebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung, wegen [X.] in 16 Fällen, jeweils in Tateinheit mit schwerem Bandendiebstahl und Sachbeschädigung, und wegen versuchten [X.] in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit versuchtem schweren Bandendiebstahl und Sachbeschädigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Rüge der Verletzung der Mitteilungspflicht gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO Erfolg.

2

1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

3

Zu Beginn der Hauptverhandlung beantragte der Angeklagte nach Bekanntgabe der Gerichtsbesetzung die Unterbrechung der Hauptverhandlung für die Dauer einer Woche, um die Gerichtsbesetzung zu überprüfen. Die Hauptverhandlung nahm zunächst mit seinem Einverständnis seinen Fortgang. Nach Verlesung des Anklagesatzes durch den [X.] der Staatsanwaltschaft stellte das Gericht fest, dass Gespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten gemäß §§ 202a, 212, 257c StPO nicht stattgefunden haben. Der Angeklagte und die drei Mitangeklagten wurden sodann über ihr Aussageverweigerungsrecht belehrt. Auf Anregung sämtlicher Verteidiger fand im [X.] daran in unterbrochener Hauptverhandlung ein [X.] statt, an dem die Mitglieder der [X.], der Vertreter der Staatsanwaltschaft und sämtliche Verteidiger teilnahmen. Nach Wiedereintritt in die Hauptverhandlung wurde der Inhalt des [X.]s vom Vorsitzenden protokolliert. Die [X.] gab sodann bekannt, welchen Inhalt eine Verständigung gemäß § 257c StPO im Falle allseitiger Zustimmung haben könnte. Dem Angeklagten wurden im Falle eines umfassenden Geständnisses hinsichtlich einer zu verhängenden Gesamtfreiheitsstrafe eine Strafobergrenze von fünf Jahren und sechs Monaten sowie eine Strafuntergrenze von fünf Jahren vorgeschlagen, die „das Gericht gemäß der Zusage nicht überschreiten würde“. Mögliche [X.] blieben von einer Verständigung unberührt. Die Hauptverhandlung wurde sodann unterbrochen.

4

Am nächsten Sitzungstag erhob der Angeklagte durch seinen Verteidiger eine Besetzungsrüge, der sich die Mitangeklagten nicht anschlossen. Die [X.] gab daraufhin bekannt, dass erwogen werde, das Verfahren gegen den Angeklagten abzutrennen und später erneut zu terminieren. Im [X.] daran erklärten sich sämtliche Angeklagte bereit, dem [X.] des [X.]s zuzustimmen. Sodann wurden die Angeklagten gemäß § 257c Abs. 5 StPO darüber belehrt, unter welchen Voraussetzungen die Bindung der [X.] an die Zusage entfällt und das Geständnis der Angeklagten dann nicht mehr verwertet werden dürfte (§ 257c Abs. 4 StPO). Die Angeklagten, auch der Beschwerdeführer, stimmten im [X.] daran dem [X.] zu.

5

Das [X.] wies den Angeklagten in der Folge darauf hin, dass für den Fall der Aufrechterhaltung der Besetzungsrüge das Verfahren gegen ihn abzutrennen und erneut zu verhandeln sein werde. Im [X.] teilte der Angeklagte durch seinen Verteidiger mit, dass die Besetzungsrüge aufrechterhalten bleibe. Das [X.] trennte daraufhin das Verfahren gegen den Angeklagten ab, setzte es aus und verkündete einen Haftfortdauerbeschluss, in dem unter anderem ausgeführt wurde, dass der Angeklagte im ausgesetzten Verfahren trotz eines umfänglichen Geständnisses eine ([X.] von fünf Jahren bis fünf Jahre und sechs Monate zu erwarten gehabt habe; ob in der erneuten Hauptverhandlung ein Geständnis abgelegt werde, sei der [X.] nicht bekannt und die Straferwartung wäre ohne Geständnis deutlich höher. Eine explizite Belehrung des Angeklagten darüber, dass die getroffene Verständigung nach erfolgter Aussetzung des Verfahrens für die neue Hauptverhandlung keine Gültigkeit mehr habe, erfolgte durch das [X.] nicht.

6

In der neu begonnen Hauptverhandlung teilte das [X.] im Wege der Berichterstattung mit, dass in der Sache bereits verhandelt und das Verfahren gegen den Angeklagten ausgesetzt und deshalb neu terminiert worden sei. Nach Verlesung des Anklagesatzes durch den Vertreter der Staatsanwaltschaft wurde die im ausgesetzten Verfahren erfolgte Verfahrensverständigung nicht erwähnt. Vielmehr wurde ausdrücklich festgestellt, dass „Gespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht im Sinne von §§ 202a, 212, 257c StPO nicht stattgefunden“ haben. Der Angeklagte wurde sodann gemäß § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO darüber belehrt, dass es ihm frei stehe, sich zur Sache und zu den persönlichen Verhältnissen zu äußern oder nicht auszusagen. Eine (qualifizierte) Belehrung darüber, ob die im ausgesetzten Verfahren getroffene Verständigung (noch) Gültigkeit habe, erfolgte auch zu diesem Zeitpunkt nicht. Im Verhandlungsverlauf gab der Angeklagte wiederum eine geständige Erklärung zur Sache ab, ohne dass (weitere) [X.] stattgefunden haben.

7

2. Die Revision rügt, dass das [X.] in der Hauptverhandlung nicht gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO darauf hingewiesen habe, dass eine Verständigung in der ausgesetzten Hauptverhandlung erfolgt sei und zudem, dass der Angeklagte in [X.] daran nicht qualifiziert darüber belehrt worden sei, dass die bisherige Verständigung aus dem ersten [X.] keine „Gültigkeit mehr habe“ und der Angeklagte hieran „nicht mehr gebunden“ sei.

II.

8

1. Die Rüge hat - entsprechend dem Antrag des [X.] - bereits mit der Angriffsrichtung, dass die Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO verletzt sei, Erfolg.

9

a) Nach dieser Vorschrift hat der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes und vor Belehrung und Vernehmung des Angeklagten mitzuteilen, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO greift bei sämtlichen Vorgesprächen ein, die auf eine Verständigung abzielen (vgl. nur [X.], Urteil vom 13. Februar 2014 - 1 [X.] Rn. 8 mwN).

b) Demzufolge musste der Vorsitzende vorliegend auch die [X.], den Inhalt der tatsächlich erfolgten Verständigung sowie den Umstand und gegebenenfalls den Grund mitteilen, dass und warum die Verständigung im ausgesetzten Verfahren nicht zum Tragen gekommen ist. Dass die ursprüngliche Verständigung im ausgesetzten Verfahren ordnungsgemäß im Rahmen der Hauptverhandlung mitgeteilt und protokolliert wurde, genügt zur Erfüllung der Mitteilungspflicht nicht, denn die Hauptverhandlung im Sinne von § 243 Abs. 4 StPO ist diejenige, die zum Urteil geführt hat. Außerdem besteht nicht nur für den Angeklagten, sondern auch für die Schöffen und die Öffentlichkeit im Fall einer erneut begonnenen Hauptverhandlung ein berechtigtes Interesse, über stattgefundene [X.] bzw. über eine tatsächlich erfolgte Verständigung informiert zu werden (vgl. [X.] aaO Rn. 11).

c) Bei Verstößen gegen die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO ist regelmäßig davon auszugehen, dass das Urteil auf diesem Verstoß beruht; ein Ausnahmefall, bei dem Abweichendes vertretbar ist (vgl. nur [X.] aaO Rn. 13 mwN), liegt nicht vor.

Es hätte daher der Darlegung der ursprünglichen [X.] und deren Ergebnis in öffentlicher Hauptverhandlung schon deshalb bedurft, um alle Verfahrensbeteiligten darüber in Kenntnis zu setzen, wie die prozessuale Lage nach ausgesetzter Hauptverhandlung, in der eine Verfahrensverständigung erfolgt ist, zu beurteilen ist. Insbesondere ist der Angeklagte von Seiten des Gerichts darüber aufzuklären und zu belehren, dass die Bindungswirkung der ursprünglichen Verfahrensverständigung entfallen ist und sein vormaliges Geständnis nicht verwertet werden darf. Die in der ausgesetzten Hauptverhandlung gemäß § 257c Abs. 5 StPO erfolgte Belehrung genügt hierfür nicht, zumal sie die vorliegende Fallgestaltung nicht erfasst. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass der Angeklagte im Falle der Mitteilung des Inhalts der vorausgegangenen [X.] und der sich hieraus ergebenden prozessualen Folgen, über die er vom Gericht hinzuweisen war, sein [X.] hierauf eingestellt hätte. Dass der [X.] der Staatsanwaltschaft den Angeklagten bereits vor der Verfahrensaussetzung „nachdrücklich“ darauf hingewiesen hat, dass die Verständigung im Aussetzungsfall entfallen würde, reicht allein für eine Aufklärung über die prozessuale Sachlage nicht aus; es wäre in der Verantwortung des Gerichts gewesen, den Angeklagten hierüber in Kenntnis zu setzen und entsprechend zu belehren.

2. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

Raum     

        

Jäger     

        

Bellay

        

Fischer     

        

Hohoff     

        

Meta

1 StR 153/19

24.04.2019

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München I, 6. Dezember 2018, Az: 271 Js 199034/18 - 8 KLs

§ 243 Abs 4 S 1 StPO, § 257c Abs 1 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.04.2019, Az. 1 StR 153/19 (REWIS RS 2019, 7894)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 7894

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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