Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.09.2014, Az. 4 ARs 12/14

4. Strafsenat | REWIS RS 2014, 3030

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Gegenstand

(Verstoß der richterrechtlich entwickelten Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung gegen Art. 103 Abs. 2 GG)


Tenor

Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung zur ungleichartigen Wahlfeststellung fest. Danach ist eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei zulässig.

Gründe

1

[X.]er 2. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:

„1. [X.] entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.

2. Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) [X.]iebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher unzulässig."

2

Er hat gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bei den übrigen Strafsenaten angefragt, ob sie der beabsichtigten Entscheidung zustimmen und entgegenstehende Rechtsprechung aufgeben.

3

[X.]er beabsichtigten Entscheidung des 2. Strafsenats steht Rechtsprechung des 4. Strafsenats entgegen (Beschluss vom 12. Februar 2008 - 4 [X.], [X.], 1394, 1395; Urteile vom 15. Mai 1973 - 4 [X.], [X.], 182; vom 17. Oktober 1957 - 4 StR 73/57, [X.]St 11, 26, 28 und vom 12. September 1951 - 4 StR 533/51, [X.]St 1, 302, 304; sowie - hinsichtlich der Zulässigkeit der Wahlfeststellung nicht tragend - Urteile vom 21. November 2013 - 4 [X.], [X.], 172; vom 11. November 1966 - 4 StR 387/66, [X.]St 21, 152, 153; Beschluss vom 12. Mai 2010 - 4 [X.], [X.], 698). [X.]er Senat hält an seiner Rechtsprechung fest.

I.

4

[X.]ie Verurteilung auf [X.] Grundlage verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB.

5

1. Art. 103 Abs. 2 GG enthält - neben dem hier nicht zu erörternden Rückwirkungsverbot - die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände sowie die Rechtsfolgen eines Verstoßes zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. [X.] 126, 170, 194; 105, 135, 153 f.; 78, 374, 382; 75, 329, 340 f.; st. Rspr.). [X.]iese Verpflichtung dient einem doppelten Zweck. Es geht einerseits um den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: [X.] soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Andererseits soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der rechtsprechenden Gewalt verbietet, Straftatbestände oder Strafen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung - etwa durch die Bildung von Analogien oder die [X.] - zu begründen oder zu verschärfen (vgl. [X.] 130, 1, 43; 126, 170, 197; 71, 108, 115).

6

2. [X.] berührt keine dieser Garantien.

7

a) [X.]er Umstand, dass bei einer Verurteilung auf der Grundlage einer sog. echten Wahlfeststellung nicht feststeht, welcher der alternativ in Betracht kommenden Straftatbestände verletzt worden ist, ändert nichts daran, dass die maßgeblichen strafbewehrten Verbote für den Normadressaten in Tragweite und Anwendungsbereich erkennbar waren. [X.]as Gesetz verbietet zwei Verhaltensweisen, im Ausgangsfall die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache (§ 242 StGB) und das Sichverschaffen einer Sache, die ein anderer gestohlen hat (§ 259 StGB). Für den Normadressaten ergibt sich deshalb keine Ungewissheit darüber, ob sein Verhalten strafbar ist oder nicht.

8

b) [X.]a ein Angeklagter im Fall einer echten Wahlfeststellung nur verurteilt werden darf, wenn die nach der Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten alternativ in Betracht kommenden Sachverhalte jeweils einen (anderen) Straftatbestand vollständig erfüllen und andere [X.]n sicher ausscheiden (vgl. [X.], Beschluss vom 5. März 2013 - 1 [X.], [X.], 42; [X.]/[X.], 26. Aufl., § 261 Rn. 127 mwN), bleibt auch gewährleistet, dass nur der Gesetzgeber über die Strafbarkeit entscheidet ([X.]/Stuckenberg, [X.], § 261 Rn. 149 [Stand: August 2013]; [X.]/[X.], 4. Aufl., [X.] zu § 2 Rn. 77; SK-[X.]/[X.], 4. Aufl., § 261 Rn. 103; [X.]/ Kühl, StGB, 28. Aufl., § 1 Rn. 9; von [X.], StGB, 2010, § 1 Rn. 43; an[X.] [X.]. in [X.] StGB, § 1 Rn. 43; [X.]/[X.]/[X.], [X.], 11. Aufl., § 10 Rn. 36; [X.], [X.] 2013, 271, 274; Schuhr, [X.], 437; [X.], [X.] 1953, 33, 38).

9

c) Es liegt auch kein Verstoß gegen das [X.] oder das Verbot der [X.] vor. [X.]er Angeklagte wird nicht wegen des Verstoßes gegen einen aus den in Betracht kommenden Tatbeständen gebildeten außergesetzlichen [X.] verurteilt, sondern wegen des Verstoßes gegen einen der in der Urteilsformel angeführten und mit dem Junktor „oder" verknüpften gesetzlich bestimmten Einzelstraftatbestände (vgl. [X.], [X.] 2013, 271, 276; Joerden, [X.]yadische Fallsysteme im Strafrecht, 1986, S. 119 f.; [X.], Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrele-vanter Tatsachenzweifel, 1976, S. 167 f.; [X.], [X.] und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der [X.] und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, [X.] ff.; Freund, FS [X.], 2013, [X.], 40, 46 ff.; Montenbruck, Wahlfeststellung und Werttypus in Strafrecht und Strafprozeßrecht, 1976, [X.]). [X.]a bei einer ungleichartigen Wahlfeststellung in Bezug auf jede [X.] sämtliche Voraussetzungen des jeweils in Betracht kommenden [X.]elikts verwirklicht sein müssen, kommt es auch nicht zu einer „Verschleifung" oder „Entgrenzung" von selbstständigen Tatbestandsmerkmalen oder Tatbeständen (vgl. [X.] 126, 170, 211 mwN). [X.]en in Betracht kommenden Strafvorschriften wird durch die Wahlfeststellung inhaltlich weder etwas hinzugefügt noch wird eine einschränkende Voraussetzung der Strafbarkeit außer Acht gelassen (Schuhr, [X.], 437, 438).

Zu der Frage, ob eine Verurteilung eindeutig sein muss oder mehrdeutig sein darf, treffen Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB keine Aussage ([X.]/ Stuckenberg, [X.], § 261 Rn. 149 [Stand: August 2013]; [X.], [X.] 2013, 271, 277 f.; [X.]/[X.], aaO, [X.] zu § 2 Rn. 77 sowie [X.], 584, 585).

d) Soweit der Bestimmtheitsgrundsatz neben den Anforderungen an die Voraussetzungen der Strafbarkeit auch verlangt, dass die mögliche Strafe in einem Gesetz hinreichend bestimmt geregelt sein muss, gerät die Wahlfeststellung auch insoweit nicht mit Art. 103 Abs. 2 GG in Konflikt. Wie bereits das [X.] ausgeführt hat, ist bei der gebotenen Ermittlung des mildesten Gesetzes nicht ein abstrakter Strafrahmenvergleich vorzunehmen, sondern der Tatrichter hat auf der Grundlage der jeweiligen [X.]n jeweils zu erörtern, welche Strafe er für angemessen gehalten hätte, wenn zweifelsfrei die eine oder die andere Handlung nachgewiesen wäre ([X.], 369, 374).

e) [X.]ementsprechend hat auch das [X.], das die Wahlfeststellung nur in engen Grenzen für zulässig erachtet hat, seine restriktive Haltung nicht mit einem Verstoß gegen das auch zum Zeitpunkt seiner Entscheidungen geltende Bestimmtheitsgebot (§ 2 Satz 1 RStGB) begründet (vgl. [X.], 257; 57, 174; 56, 35 f.; 55, 228; 55, 44; 53, 231; 23, 47; 11, 103 f.). Gleiches gilt für die Rechtsprechung des [X.] (vgl. [X.], Beschluss vom 15. Oktober 1956 - [X.], [X.]St 9, 390; Urteile vom 16. April 1953 - 4 StR 377/52, [X.]St 4, 128; vom 2. Oktober 1951 - 1 [X.], [X.]St 1, 327; und vom 19. April 1951 - 3 [X.], [X.]St 1, 127). Soweit ersichtlich, wird vom [X.] lediglich in der Entscheidung vom 1. Juli 1869 ([X.], 213, 216) der „Grundsatz nullum crimen sine lege" auch nur erwähnt.

3. [X.]a somit die Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG durch die Wahlfeststellung nicht berührt werden, kann letztlich dahinstehen, ob es sich bei den Grundsätzen der Wahlfeststellung um eine prozessuale Entscheidungsregel (als Ausnahme zu dem Grundsatz in dubio pro reo) handelt, auf die Art. 103 Abs. 2 GG schon grundsätzlich keine Anwendung findet.

II.

Eine Verurteilung aufgrund [X.] Tatsachengrundlage ist - sofern die alternativ in Betracht kommenden Tatbestände rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sind - auch im Übrigen unbedenklich.

[X.]er Umstand, dass dem Verurteilten bei einer mehrdeutigen Verurteilung in der Urteilsformel immer auch die Erfüllung eines Tatbestandes als möglich angelastet wird, den er tatsächlich nicht verwirklicht hat (vgl. [X.] Vereinigte Strafsenate -, Beschluss vom 2. Mai 1934 - 1 [X.] 1096/33, [X.], 257, 261; [X.], Urteil vom 2. Oktober 1951 - 1 [X.], [X.]St 1, 327, 328; [X.], aaO, [X.] ff., 185), führt nicht zu deren Unzulässigkeit. [X.]a nach den bisher geltenden Grundsätzen zur ungleichartigen Wahlfeststellung eine solche Verurteilung nur erfolgen kann, wenn den mehreren möglicherweise verwirklichten [X.]elikten im allgemeinen Rechtsempfinden eine gleiche oder zumindest ähnliche rechtsethische Bewertung zukommt und eine vergleichbare psychologische Beziehung des [X.] zu den mehreren in Frage kommenden Sachverhalten besteht (vgl. [X.], Beschluss vom 15. Oktober 1956 - [X.], [X.]St 9, 391, 394; Urteil vom 11. November 1966 - 4 StR 387/66, [X.]St 21, 152, 153), wird die mit der alternativen Aufzählung mehrerer [X.]elikte in der Urteilsformel verbundene Belastung für den Verurteilten auf ein Maß begrenzt, das zur Vermeidung lebensfremder und der Gerechtigkeit wi[X.]prechender Ergebnisse (Freispruch trotz zweifelsfreier Strafbarkeit) hinnehmbar ist (vgl. [X.], aaO, S. 113).

III.

[X.]er Zulässigkeit der Wahlfeststellung steht im zugrundeliegenden Fall schließlich auch nicht entgegen, dass eine Verurteilung wegen eines dritten Tatbestandes möglich gewesen wäre, nämlich wegen des formell subsidiären Auffangtatbestands der Unterschlagung gemäß § 246 StGB (vgl. [X.], Wahlfeststellung und in dubio pro reo, 1987, [X.]; [X.], [X.], 584, 586).

Zwar hat die Möglichkeit einer eindeutigen Verurteilung wegen eines milderen Gesetzes grundsätzlich Vorrang vor der Anwendung der Grundsätze über die Wahlfeststellung (vgl. [X.], Urteile vom 12. Oktober 1989 - 4 [X.], [X.]St 36, 262, 268; vom 23. März 1993 - 1 StR 21/93, [X.]St 39, 164, 166 f.). Von diesem Grundsatz ist aber dann eine Ausnahme anzuerkennen, wenn - wie im Ausgangsfall - feststeht, dass der Täter in jeder der möglichen [X.]n über den feststehenden subsidiären Tatbestand hinaus entweder das eine oder das andere schwerer wiegende und konkurrenzdominante [X.]elikt verwirklicht hat (vgl. [X.], Urteil vom 12. Januar 1954 - 1 StR 631/53, [X.]St 5, 280, 281; Urteil vom 11. Juli 1984 - 2 StR 249/84, [X.], 506: Wahlfeststellung zwischen [versuchtem] Raub und [versuchter] räuberischer Erpressung - ungeachtet der in jedem Fall verwirklichten [versuchten] Nötigung; vgl. auch [X.], Wahlfeststellung und in dubio pro reo, 1987, [X.], 90 f.). Andernfalls würde der in jeder Alternative feststehende höhere Schuldgehalt der Tat durch die Verurteilung wegen des subsidiären [X.]elikts nicht ausgeschöpft ([X.]/Stuckenberg, [X.], § 261 Rn. 139 [Stand: August 2013]; [X.], aaO, [X.]).

Sost-Scheible                        [X.]Franke

                         Bender                          [X.]

Meta

4 ARs 12/14

11.09.2014

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: ARs

nachgehend BGH, 8. Mai 2017, Az: GSSt 1/17, Beschluss

§ 1 StGB, § 242 StGB, § 259 StGB, Art 103 Abs 2 GG, § 132 Abs 3 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.09.2014, Az. 4 ARs 12/14 (REWIS RS 2014, 3030)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 3030

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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