Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28.06.2011, Az. 1 C 18/10

1. Senat | REWIS RS 2011, 5416

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Gegenstand

Allgemeines Aufenthaltsrecht; ausländerbehördliche Zuständigkeitskonzentration


Leitsatz

Die in § 71 Abs. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) geregelte Zuständigkeit der Ausländerbehörden ist eine über das Aufenthaltsgesetz hinausgehende, generalklauselartige Kompetenzzuweisung und gilt auch für aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen gegenüber Unionsbürgern nach dem FreizügG/EU.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein [X.] Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Feststellung des Beklagten, dass er sein Aufenthaltsrecht in [X.] verloren habe (sog. Verlustfeststellung).

2

Der inzwischen 57-jährige Kläger kam 1972 nach [X.], war mit einer [X.] Staatsangehörigen verheiratet und hat aus dieser Ehe zwei Töchter. Seit 1987 besaß er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, später ein Daueraufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz/[X.]. Er war fast 30 Jahre lang bei demselben Arbeitgeber beschäftigt.

3

2005 wurde der Kläger wegen Anstiftung zur Körperverletzung mit Todesfolge zu einer 10-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte einen Bekannten gedrängt und ihn dafür bezahlt, dem vermeintlichen Liebhaber seiner Frau "eine Abreibung zu verpassen". Bei dem Anschlag verlor das Opfer sein Leben. Die Ehe wurde geschieden und das Sorgerecht für die Töchter allein seiner früheren Ehefrau übertragen. Frau und Töchter befinden sich seit Jahren in einem Zeugenschutzprogramm. Der Kläger hat zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüßt. Die Verbüßung der [X.] ist zur Bewährung ausgesetzt worden.

4

Das [X.] hat die Verurteilung des [X.] zum Anlass genommen, den Verlust seines Aufenthaltsrechts in [X.] festzustellen. Das Verwaltungsgericht hat der Klage gegen diese Verlustfeststellung stattgegeben; das [X.] könne sich hierbei nicht auf die erforderlichen zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit stützen.

5

Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die streitige Verlustfeststellung sei bereits deshalb rechtswidrig, weil das [X.] hierfür sachlich nicht zuständig gewesen sei. Die Zuständigkeitsverordnung der [X.] Landesregierung, in der die Zuständigkeit nicht der unteren Ausländerbehörden, sondern der Regierungspräsidien für derartige Verlustfeststellungen vorgesehen sei, sei insoweit unwirksam. Sie sei auf § 71 Abs. 1 [X.] als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gestützt. Diese Vorschrift erlaube zwar eine ausländerbehördliche Zuständigkeitskonzentration. Sie sei im Rahmen des für Unionsbürger geltenden Freizügigkeitsgesetzes/[X.] aber nicht anwendbar. Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes fänden dort nur Anwendung, wenn im Freizügigkeitsgesetz/[X.] ausdrücklich auf sie verwiesen werde. Das treffe für die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 [X.] nicht zu. Im Hinblick auf diese formelle Rechtswidrigkeit der Verlustfeststellung komme es auf die Frage ihrer materiellen Rechtmäßigkeit nicht mehr an.

6

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beklagte mit seiner Revision.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision des Beklagten ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass § 71 Abs. 1 [X.] bei aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/[X.] - [X.]/[X.]) keine Anwendung finde und der angefochtene Bescheid deshalb formell rechtswidrig sei, weil er von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden sei (1.). Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil zur materiellen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids kann der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden (2.). Das Verfahren ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

8

1. Die vom Kläger angefochtene Verlustfeststellung ist nicht formell rechtswidrig. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wurde der Bescheid von der zuständigen Behörde erlassen. Die Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 [X.]/[X.]. Die sachliche Zuständigkeit für derartige Feststellungen ist in [X.] nach § 6 Abs. 3 der Verordnung der Landesregierung und des Innenministeriums über Zuständigkeiten nach dem [X.], dem Asylverfahrensgesetz und dem Flüchtlingsaufnahmegesetz sowie über die Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer (Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO) vom 2. Dezember 2008 (GBl [X.] S. 465) bei den Regierungspräsidien konzentriert. Diese landesrechtliche Zuständigkeitsregelung beruht auf der bundesgesetzlichen Ermächtigung in § 71 Abs. 1 [X.]. Danach sind für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen die Ausländerbehörden zuständig (Satz 1). Die Landesregierung oder die von ihr bestimmte Stelle kann bestimmen, dass für einzelne Aufgaben nur eine oder mehrere bestimmte Ausländerbehörden zuständig sind (Satz 2).

9

§ 71 Abs. 1 [X.] gilt auch für Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Freizügigkeitsgesetz/[X.]. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 findet das [X.] zwar grundsätzlich keine Anwendung auf Unionsbürger. Dies steht nach der genannten Regelung aber unter dem Vorbehalt, dass nicht "durch Gesetz" etwas anderes bestimmt ist. Solch eine gesetzliche Regelung ist § 71 Abs. 1 [X.]. Diese Vorschrift enthält ausdrücklich eine über das [X.] hinausgehende, generalklauselartige Kompetenzzuweisung, die auch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Freizügigkeitsgesetz erfasst. Insoweit bedurfte es daher entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keiner Rückverweisung in § 11 [X.]/[X.] auf das [X.].

Mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 Nr. 1 [X.], wonach das [X.] keine Anwendung findet auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Freizügigkeitsgesetz/[X.] geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist, ist es ohne Weiteres zu vereinbaren, nicht nur die Rückverweisungen auf das [X.] im Freizügigkeitsgesetz/[X.], sondern auch eine im [X.] selbst getroffene abweichende Regelung - wie die in § 71 Abs. 1 [X.] - zu erfassen. Der Wortlaut des § 71 Abs. 1 [X.] macht seinerseits deutlich, dass sich die Zuständigkeitsregelung nicht nur Geltung beimisst im Rahmen des [X.]es, sondern auch für ausländerrechtliche Bestimmungen "in anderen Gesetzen".

Zusätzlich spricht der systematische Zusammenhang zwischen § 71 Abs. 1 [X.] und § 11 [X.]/[X.] dafür, dass sich die fragliche Zuständigkeitsregelung über das [X.] hinaus auch auf aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen gegenüber Unionsbürgern - also auch auf Verlustfeststellungen wie hier - bezieht. Dass eine Verlustfeststellung nach § 6 [X.]/[X.] eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme bzw. Entscheidung nach einer ausländerrechtlichen Bestimmung in einem anderen Gesetz (als dem [X.]) im Sinne des § 71 Abs. 1 [X.] darstellt, bedarf keiner weiteren Begründung. Zudem setzt das Freizügigkeitsgesetz/[X.] die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 [X.] ersichtlich voraus. Das Freizügigkeitsgesetz/[X.] enthält selbst keine eigene Zuständigkeitsregelung, sondern knüpft an die Regelungen im [X.] an. So spricht das Freizügigkeitsgesetz/[X.] in § 11 Abs. 2 von der für Verlustfeststellungen zuständigen "Ausländerbehörde". Auch in § 5 Abs. 3 und § 7 Abs. 1 [X.]/[X.] ist nicht von der nach Landesrecht zuständigen Behörde, sondern ausdrücklich von der (zuständigen) "Ausländerbehörde" die Rede. Insofern ist nach dieser gesetzlichen Systematik davon auszugehen, dass die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 [X.] nicht auf Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz beschränkt ist, sondern als allgemeine Kompetenzzuweisung auch im Bereich des [X.]/[X.] Anwendung findet. Wegen des unmittelbaren Zusammenhangs mit der Zuständigkeitsregelung in Satz 1 gilt dies ebenfalls für die [X.] in § 71 Abs. 1 Satz 2 [X.].

Weiterhin streiten auch Sinn und Zweck der maßgeblichen Vorschriften dafür, § 71 Abs. 1 [X.] als generalklauselartige Kompetenzzuweisung zu verstehen, die über das [X.] hinausgeht. Es kann nicht angenommen werden, dass der Bundesgesetzgeber den Vollzug des [X.]/[X.] aus dem [X.], das er den Ländern mit dem bundesrechtlichen Begriff der "Ausländerbehörde" vorgegeben hat, herausnehmen wollte. Dagegen spricht vor allem der eigene Zuständigkeitsbereich des [X.] an Familienangehörige von Unionsbürgern (vgl. § 2 Abs. 4 [X.]/[X.] und § 71 Abs. 2 [X.]). Hätte der Gesetzgeber die Regelungen in § 71 [X.] auf Maßnahmen nach dem [X.] beschränken wollen, hätte er seine originäre Zuständigkeit für diesen Aufgabenbereich teilweise aufgegeben. Dabei handelt es sich aber um eine Zuständigkeit, die jedenfalls im Ausland von [X.] nicht wahrgenommen werden kann.

Die Entstehungsgeschichte der Vorschriften steht dieser Auslegung nicht entgegen. Zwar findet sich in der Begründung zum Entwurf des [X.]/[X.] das Ziel, eine vom allgemeinen Ausländerrecht weitestgehend losgelöste Regelung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen zu erreichen (BTDrucks 15/420 S. 102). Ähnlich geht der Gesetzentwurf zum [X.] in seiner Begründung davon aus, dass aufgrund der fortschreitenden Einigung [X.] und der weitreichenden Sonderstellung des Freizügigkeitsrechts Unionsbürger grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen werden. Eine Anwendung komme nur in Betracht, wenn "ein anderes Bundesgesetz" Vorschriften dieses Gesetzes ausdrücklich für anwendbar erkläre (BTDrucks 15/420 S. 68). Diese Zielvorstellungen haben im Wortlaut der Vorschriften, insbesondere in § 1 Abs. 2 [X.], aber jedenfalls hinsichtlich der Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 [X.] keinen Niederschlag gefunden. Die unionsrechtliche Ausrichtung der Gesetzesbegründungen bezieht sich bei verständiger Würdigung zudem auf die Ausgestaltung des materiellen Rechts und nicht auf [X.]. Denn das Gemeinschaftsrecht überlässt es in aller Regel den Mitgliedstaaten, die behördlichen Vollzugskompetenzen selbst zu regeln. Für diese Deutung spricht auch, dass in der Gesetzesbegründung zu § 71 [X.] ausdrücklich auf die inhaltsgleiche Vorgängervorschrift in § 63 AuslG 1990 Bezug genommen worden ist, die auch den Anwendungsbereich des vor dem Freizügigkeitsgesetz/[X.] geltenden [X.]/EWG erfasste (BTDrucks 15/420 S. 94).

2. Die materielle Rechtmäßigkeit der vom Kläger angefochtenen Verlustfeststellung kann im Revisionsverfahren mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil nicht abschließend beurteilt werden. Da der Kläger seinen Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im [X.] hatte, kann eine Verlustfeststellung in Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/[X.] und des Rates vom 29. April 2004 - sog. Unionsbürgerrichtlinie - nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 [X.]/[X.]). Was unter zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit in diesem Sinne zu verstehen ist, ist dem Urteil des Gerichtshofs der [X.] vom 23. November 2010 in der Sache Tsakouridis ([X.]. [X.]/09 - [X.] 2011, 45) zu entnehmen. Hierbei ist zu beachten, dass der [X.] die Anforderungen an derartige zwingende Gründe teilweise anders beurteilt hat als der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen. Das Berufungsgericht wird in diesem Zusammenhang insbesondere den Hintergründen der vom Kläger zu verantwortenden Tat und der Tatbegehung nachzugehen haben.

Meta

1 C 18/10

28.06.2011

Bundesverwaltungsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 14. September 2010, Az: 11 S 1415/10, Urteil

§ 1 Abs 2 Nr 1 AufenthG 2004, § 71 Abs 1 AufenthG 2004, § 2 FreizügG/EU, § 6 FreizügG/EU, § 11 FreizügG/EU, § 6 Abs 3 AufenthGZustV BW, Art 28 Abs 3 EGRL 38/2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28.06.2011, Az. 1 C 18/10 (REWIS RS 2011, 5416)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 5416

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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M 25 K 14.2838

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