Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 14.12.2011, Az. 1 BvR 2735/11

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2011, 479

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Versagung von Beratungshilfe für Beantragung einer Erwerbsminderungsrente verletzt Betroffenen nicht in Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG) - Vorrang der kostenfreien Beratung durch zuständige Behörde


Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Nichtgewährung von Beratungshilfe für die anwaltliche Beratung im Vorfeld einer Rentenantragstellung.

I.

2

Der Beschwerdeführer suchte einen Rechtsanwalt auf, um sich über die Möglichkeit beraten zu lassen, beim zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen Erwerbsminderung zu beantragen. Anschließend beantragte er beim [X.]für diese Beratung Beratungshilfe. Der Rechtspfleger lehnte dies ab, weil sich der Beschwerdeführer bei der örtlich zuständigen Stadtverwaltung oder beim zuständigen Rentenversicherungsträger beraten lassen könne.

3

Die Erinnerung hiergegen wurde vom Amtsgericht zurückgewiesen. Der Rechtspfleger habe den Antrag zu Recht abgelehnt. Die Beratung durch die zuständige Behörde, zu der diese verpflichtet sei, stelle eine andere, für den Beschwerdeführer zumutbare Möglichkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 Beratungshilfegesetzes ([X.]) dar.

4

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung der Erinnerung durch das Amtsgericht. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz sowie des Sozialstaatsprinzips.

II.

5

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.]G nicht vorliegen. Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil sie unbegründet ist.

6

1. Die angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts verletzt den Beschwerdeführer nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten.

7

a) Die Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Das [X.]kann hier nur dann eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffenen Entscheidungen Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtswahrnehmungsgleichheit, die auch im außergerichtlichen Bereich Geltung beansprucht (vgl. [X.]E 122, 39 <50>; [X.]K 15, 585 <586>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 12. Juni 2007 - 1 BvR 1014/07 -, NJW-RR 2007, S. 1369), beruhen (vgl. [X.]E 56, 139 <144>; 81, 347 <358>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 12. Juni 2007 - 1 BvR 1014/07 -, NJW-RR 2007, S. 1369). Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung der Bestimmungen des Beratungshilfegesetzes zukommt, jenseits der [X.] erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird (vgl. [X.]E 81, 347 <358>). Art. 3 Abs. 1 GG verlangt dabei in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip keine vollständige Gleichstellung [X.]r mit [X.], sondern nur eine weitgehende Angleichung (vgl. [X.]E 81, 347 <357>; 122, 39 <51>). [X.] brauchen nur solchen [X.] gleichgestellt zu werden, die ihre rechtliche Situation vernünftig abwägen und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigen (vgl. [X.]E 9, 124 <130 f.>; 81, 347 <357>; 122, 39 <49>; [X.]K 15, 585 <586>). Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG steht damit auch einer Besserstellung derjenigen, die ihre Rechtsberatungskosten nicht aus eigenen Mitteln bestreiten müssen und daher von vornherein kein Kostenrisiko tragen, gegenüber den [X.], die ihr Kostenrisiko wägen müssen, entgegen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 18. November 2009 - 1 BvR 2455/08 -, NJW 2010, S. 988 <989>). Insbesondere dürfen Rechtsuchende zunächst auf zumutbare andere Möglichkeiten für eine fachkundige Hilfe bei der Rechtswahrnehmung verwiesen werden (vgl. [X.]E 122, 39 <51>; [X.]K 15, 585 <586>). Als Leistung der staatlichen Daseinsfürsorge kann die Bewilligung von Beratungshilfe zudem nur dann beansprucht werden, wenn ihr Einsatz sinnvoll ist (vgl. [X.]E 9, 256 <258>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 12. Juni 2007 - 1 BvR 1014/07 -, NJW-RR 2007, S. 1369).

8

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts gerecht.

9

Das Amtsgericht hat den Beschwerdeführer darauf verwiesen, sich vor Inanspruchnahme von Beratungshilfe zunächst durch den zuständigen Rentenversicherungsträger beraten zu lassen. In diesem Verweis liegt angesichts der gemäß § 14 Sozialgesetzbuch Erstes Buch ([X.]) bestehenden Beratungspflicht des Rentenversicherungsträgers keine von Verfassungs wegen unzulässige Benachteiligung des unbemittelten Bürgers gegenüber dem bemittelten, da auch ein bemittelter verständiger Bürger zunächst versuchen würde, die kostenfreie Beratung durch die zuständige Behörde in Anspruch zu nehmen (vgl. [X.]K 15, 585 <587>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 12. Juni 2007 - 1 BvR 1014/07 -, NJW-RR 2007, S. 1369 <1370>). Dies gilt um so mehr, als Aufwendungen für die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes im Verwaltungsverfahren - anders als im Widerspruchsverfahren - auch im Erfolgsfall nicht erstattet werden können (vgl. [X.], 92 ff.; [X.], in: von [X.], [X.], 7. Aufl. 2010, § 63 Rn. 6 m.w.N.) und der Bemittelte daher unabhängig vom Ausgang des Verfahrens in jedem Fall die Kosten der Rechtsverfolgung zu tragen hätte (vgl. [X.]K 15, 585 <586>).

Hinzu kommt, dass die rechtliche Betreuung nach dem Beratungshilfegesetz schon nach dem Willen des historischen Gesetzgebers lediglich vorhandene Lücken an rechtlicher Betreuung schließen, nicht aber bestehende Beratungsmöglichkeiten durch besonders sachkundige Stellen verdrängen sollte (vgl. BTDrucks 8/3311, S. 8, 11 i.V.m. BTDrucks 8/3695, [X.]). Der vom Amtsgericht angenommene Vorrang der Behördenauskunft ist auch aufgrund dieses Gesichtspunktes nicht zu beanstanden (vgl. [X.], Beschluss der 3. Kammer des [X.] vom 12. Juni 2007 - 1 BvR 1014/07 -, NJW-RR 2007, S. 1369 <1370>).

2. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]G abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2735/11

14.12.2011

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend AG Frankfurt, 21. Oktober 2011, Az: 27 II 1631/11, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 1 Abs 1 Nr 2 BeratHiG, § 14 S 1 SGB 1

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 14.12.2011, Az. 1 BvR 2735/11 (REWIS RS 2011, 479)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 479

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

B 4 AS 44/23 C

1 BvR 2607/15

1 BvR 2869/11

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