Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.08.2016, Az. 1 StR 334/16

1. Strafsenat | REWIS RS 2016, 6972

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Gegenstand

Beweisaufnahme im Strafverfahren: Vernehmungsersetzende Verlesung der Stellungnahme eines Sachverständigen


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 10. März 2016 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 17 tatmehrheitlichen Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Herstellen von kinderpornographischen Bildaufnahmen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfahrensrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 [X.]); im Übrigen ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 [X.].

2

1. Der Angeklagte beanstandet zu Recht eine Verletzung des § 250 [X.] durch Verlesung einer Stellungnahme einer [X.], bei der die Geschädigte wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in Behandlung war.

3

a) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4

Im Vorfeld der Hauptverhandlung ist auf Anordnung der Vorsitzenden die Stellungnahme der [X.], die als Sachverständige nicht allgemein vereidigt war, dem Verteidiger zur Kenntnis gebracht worden. Diese Stellungnahme befasste sich mit dem Inhalt der Behandlung der Geschädigten in ihrer Praxis sowie den Diagnosen und [X.]. Zugleich ist durch die Vorsitzende mitgeteilt worden, dass das Gericht beabsichtige, „die [X.] durch Verlesung der beigefügten Stellungnahme festzustellen“. In der Hauptverhandlung ist diese Stellungnahme sodann verlesen worden, ohne dass Erörterungen hierzu stattgefunden hätten. Eine Beanstandung als unzulässig erfolgte nicht. Von keinem Verfahrensbeteiligten ist ein Einverständnis zur Verlesung erteilt worden. Es ist weder ein Grund für die Verlesung angegeben, noch ist ein Beschluss hierzu gefasst worden. Die [X.] ist nicht in der Hauptverhandlung vernommen worden.

5

Im Urteil ist ausgeführt, dass die Feststellungen hinsichtlich der belastenden [X.] für die Geschädigte auf dem Attest der [X.] beruhten und diese Folgen strafschärfend zu berücksichtigen seien.

6

b) Die [X.] ist zulässig. Der Angeklagte hat einen Sachverhalt vorgetragen, der es dem Revisionsgericht ohne weiteres ermöglicht, allein aufgrund seines Vortrags zu überprüfen, ob der gerügte Rechtsfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen werden (vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 14. Oktober 2014 – 3 [X.], [X.], 148 und vom 29. April 2015 – 1 StR 235/14, [X.], 278; Urteil vom 15. Dezember 2015 – 1 [X.]). Damit sind die Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 [X.] erfüllt. Insbesondere bedurfte es entgegen der Auffassung des [X.] nicht des Vortrags, dass die vor der Hauptverhandlung erfolgte Mitteilung zur beabsichtigten Verlesung auch an Staatsanwaltschaft und [X.] erfolgt ist. Denn die Frage, ob eine Verletzung des [X.] vorlag, kann von der vor der Hauptverhandlung erfolgten und in dieser auch nicht wieder thematisierten bloßen Ankündigung, etwas verlesen zu wollen, nicht beeinflusst werden. Zumal diese Absichtserklärung ohne Angabe  eines [X.] erfolgte.

7

c) Die [X.] zeigt auch einen Rechtsfehler auf. Die Verlesung der Stellungnahme im Wege des [X.] war nicht zulässig. Die Voraussetzungen der die vernehmungsersetzende Verlesung ausnahmsweise gestattenden § 251 Abs. 1 [X.] oder § 256 [X.] lagen nicht vor; einer Beanstandung nach § 238 Abs. 2 [X.] bedurfte es nicht (vgl. [X.], Beschluss vom 25. Oktober 2011 – 3 [X.], [X.], 585).

8

aa) Schon die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 [X.] liegen nicht vor. Ein Einverständnis mit der Verlesung ist weder vom Angeklagten oder seinem Verteidiger noch seitens der Staatsanwaltschaft ausdrücklich erteilt worden. Eine stillschweigende Zustimmung liegt nicht vor. Eine solche kommt überhaupt nur in Betracht, wenn auf Grund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden darf, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst waren ([X.], Beschluss vom 12. Juli 1983 – 1 [X.], NJW 1984, 65 f.; [X.], Beschluss vom 15. September 1987 – [X.], [X.], 31; vgl. auch [X.], Urteil vom 17. Mai 1956 – 4 StR 36/56, [X.]St 9, 230, 232 f.; Löwe/[X.]/[X.], [X.], 26. Aufl., § 251 Rn. 22 mwN). Daran fehlt es hier. Zu keinem Zeitpunkt ist eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 [X.] gestützte oder durch Einverständnis legitimierte Verlesung thematisiert worden. Auch ist die Anordnung entgegen § 251 Abs. 4 Satz 1 und 2 [X.] vom Gericht nicht beschlossen und der Grund der Verlesung nicht bekanntgegeben worden. Damit konnte dem Angeklagten und dem Verteidiger aber unter keinen Umständen bewusst sein, dass es entscheidend auf ihre Zustimmung ankommen könnte. Allein ihr Schweigen auf eine Verlesung kann daher nicht dahin gedeutet werden, dass sie mit der Verlesung einverstanden gewesen wären.

9

bb) Die Stellungnahme enthielt auch kein Zeugnis oder ein Gutachten einer öffentlichen Behörde (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 a [X.]), eines allgemein vereidigten Sachverständigen (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 b [X.]) oder eines Arztes (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 c, Nr. 2 [X.]).

2. a) Der [X.] kann jedoch ein Beruhen des im Übrigen revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Schuldspruchs auf diesem Rechtsfehler ausschließen. Das [X.] hat die Stellungnahme für seine diesbezügliche Überzeugung nicht herangezogen, sondern sich insoweit auf andere gewichtige Beweismittel, u.a. das weitreichende Geständnis des Angeklagten, gestützt.

b) Der gesamte Strafausspruch kann hingegen wegen des Rechtsfehlers keinen Bestand haben. Denn die Strafzumessung ist ausweislich der Urteilsgründe maßgeblich durch die [X.], wie sie sich nur aus der Stellungnahme der [X.] ergeben, beeinflusst.

Graf                                  [X.]                          Radtke

                Mosbacher                            Fischer

Meta

1 StR 334/16

09.08.2016

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Deggendorf, 10. März 2016, Az: 1 KLs 4 Js 6095/15

§ 251 Abs 1 Nr 1 StPO, § 251 Abs 4 S 1 StPO, § 251 Abs 4 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.08.2016, Az. 1 StR 334/16 (REWIS RS 2016, 6972)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 6972

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