VG München, Urteil vom 21.04.2015, Az. M 3 K 13.2621

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Gegenstand

Androhung, Entlassung, Aufhebung, Verweis, Zweck, Fehlverhalten, Schule, Ordnungsmaßnahme, Lehrerkonferenz, Ermessensentscheidung


Entscheidungsgründe

Bayerisches Verwaltungsgericht München

M 3 K 13.2621

Im Namen des Volkes

Urteil

vom 21. April 2015

3. Kammer

Sachgebiets-Nr. 210

Hauptpunkte:

Androhung der Entlassung; Nachträgliche Aufhebung eines schriftlichen Verweises zu dem Zweck, anlässlich des Fehlverhaltens die Androhung der Entlassung auszusprechen

Rechtsquellen:

In der Verwaltungsstreitsache

...

- Kläger -

bevollmächtigt: Rechtsanwalt ...

gegen

Freistaat Bayern

vertreten durch: Regierung von Oberbayern, Prozessvertretung, Bayerstr. 30, 80335 München

- Beklagter -

wegen Androhung der Entlassung

erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 3. Kammer, durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht ..., den Richter am Verwaltungsgericht ..., die Richterin am Verwaltungsgericht ..., den ehrenamtlichen Richter ..., die ehrenamtliche Richterin ... aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. April 2015

am 21. April 2015

folgendes Urteil:

I.

Der Bescheid des Beklagten vom ... Mai 2013 wird aufgehoben.

II.

Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Streitgegenstand ist die gegen den Kläger ausgesprochene Androhung der Entlassung vom A.-Gymnasium in der 9. Jahrgangsstufe mit Bescheid vom ... Mai 2013.

Der Kläger hatte im Schuljahr 2011/2012 das K.-Gymnasium besucht. Ihm gegenüber war mit bestandskräftigem Bescheid des K.-Gymnasiums vom ... April 2012 die Androhung der Entlassung ausgesprochen worden.

Nach seinen Wechsel an das A.-Gymnasium (im Folgenden: die Schule) wurde der Kläger am 28. November 2012 zu einer Nacharbeit wegen nicht gefertigter Hausaufgaben geladen. Am 30. November 2012 erhielt er einen verschärften Verweis wegen Fälschung einer Unterschrift. Am ... Januar 2013 erfolgte ein Hinweis an seine Eltern wegen nicht erledigter Hausaufgaben. Am 7. Februar 2013 wurde dem Kläger ein Verweis wegen unerlaubten Entfernens von der Gruppe während eines Schulausflugs erteilt. Am 12. März 2013 erhielt der Kläger einen weiteren wegen unerlaubten Verlassens des Schulgeländes; der Kläger hatte sich während einer Pause mit einer Gruppe rauchender Schüler auf einem Privatgrundstück in der Nähe der Schule befunden.

Mit Schreiben vom ... März 2013 wies die Schule die Eltern des Klägers auf die oben bezeichneten Maßnahmen hin und informierte sie darüber, dass der Disziplinarausschuss einberufen werde, der dann über die Entlassung des Klägers von der Schule entscheiden könne; der Kläger werde zu der Sitzung geladen und habe dort Gelegenheit, seine Sicht der Dinge darzustellen. Im Übrigen erhielten die Eltern Gelegenheit zur Stellungnahme und wurden auf ihre Rechte nach Art. 86 Abs. 9 Sätze 2 und 3 und Abs. 10 BayEUG hingewiesen.

In ihrer Stellungnahme vom ... März 2013 wiesen die Eltern des Klägers insbesondere im Hinblick auf den verschärften Verweis darauf hin, dass der Kläger deshalb die Unterschrift seiner Mutter auf der Stegreifaufgabe gefälscht habe, weil er sich nicht getraut habe, die Arbeit seiner Mutter zu zeigen, und ihn sein - an diesem Abend abwesender - Vater angesichts des unmittelbar bevorstehenden Rückgabetermins für die Stegreifaufgabe telefonisch angewiesen habe, die Unterschrift der Mutter zu fälschen. Der Verweis vom 7. Februar 2013 sei nicht verständlich. Eine größere Gruppe von Schülern habe während des Ausflugs die Aussage der Lehrerin, sie hätten 15 Minuten Pause, als Erlaubnis, sich zu entfernen, interpretiert. Auf die Frage des Klägers, ob er sich etwas zu essen holen dürfe, die Lehrerin geantwortet, sie wisse nicht, wo es hier etwas gebe. Der Kläger habe sich entfernt und den Rückruf der Lehrerin nicht mehr gehört.

In der Sitzung des Disziplinarausschusses vom 22. März 2013 wurden der Kläger, seine Eltern sowie die von Klägerseite eingeschaltete Lehrkraft des Vertrauens gehört. Mit 6 : 3 Stimmen wurde die Entlassung des Klägers beschlossen. Der auf Antrag der Eltern mitwirkende Elternbeirat sprach sich gegen die Entlassung des Klägers aus. Mit Schreiben vom ... April 2013 erteilte der Ministerialbeauftragte das Einvernehmen zur Entlassung des Klägers nicht und verwies dabei auf die zweifache Verwertung des bereits mit einem Verweis sanktionierten unerlaubten Verlassens des Schulgeländes am 12. März 2013 sowie auf Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Entlassung.

In der Sitzung des Disziplinarausschusses am 16. Mai 2013 schlug der Schulleiter vor, den Verweis vom 12. März 2013 zu widerrufen und noch einmal über eine geeignete Erziehungs- oder Ordnungsmaßnahme ohne erneute Anhörung des Klägers zu entscheiden. Der Disziplinarausschuss beschloss einstimmig die Androhung der Entlassung gegenüber dem Kläger.

Mit Bescheid vom ... Mai 2013 teilte der Schulleiter den Eltern des Klägers mit, dass der Disziplinarausschuss den Verweis vom 12. März 2013 widerrufen habe und die Androhung der Entlassung ausspreche. Zur Begründung wurde auf die dem Kläger gegenüber im Schuljahr 2012/2013 bislang ausgesprochenen Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen verwiesen. Die Schule habe nach dem Vorfall vom 30.11.2012 sehr viel Geduld gezeigt; der Kläger habe jedoch die Chance nicht genutzt. Weiter wurden stichpunktartig Aspekte genannt, die in der Beratung abgewogen worden seien.

Mit Schriftsatz vom ... Juni 2013, bei Gericht eingegangen am 13. Juni 2013 ließ der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München erheben mit dem Antrag:

Die Androhung der Entlassung des Klägers von der Schule - Ordnungsmaßnahme laut Schreiben der Vertreterin des Beklagten vom ... Mai 2013 - wird aufgehoben.

Zur Begründung wurde das bisherige Vorbringen wiederholt und vertieft. Ergänzend ließ der Kläger insbesondere vortragen, die Eltern des Klägers seien über die erneute Einberufung des Disziplinarausschusses nicht informiert worden. Der Kläger und seine Eltern hätten keine Möglichkeit gehabt, ihre Beteiligungsrechte wahrzunehmen oder - seitens der Eltern - die Mitwirkung des Elternbeirats zu beantragen. Die Androhung der Entlassung sei nur formelhaft begründet. Zu dem Vorfall am 12. März 2013 sei zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht rauche und dass Rauchergruppen schon seit längerem außerhalb des Schulgeländes stünden. Der ursprünglich wegen dieses Vorfalls ausgesprochene Verweis hätte nur von der Lehrkraft, nicht jedoch vom Disziplinarausschuss aufgehoben werden können. Da der Verweis somit noch wirksam sei, werde gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen. Auch wegen der Berücksichtigung der vorangegangenen Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen liege ein Verstoß gegen dieses Verbot vor. Der Entscheidung lägen sachfremde Erwägungen zugrunde; auch die Aufhebung des Verweises sei aufgrund von sachfremden Erwägungen erfolgt. Eine Auseinandersetzung mit der Eignung und Notwendigkeit der Ordnungsmaßnahme fehle. Die Androhung der Entlassung sei unverhältnismäßig.

Der Beklagte beantragt

Klageabweisung.

Zur Begründung führte der Beklagte aus, die Schule könne auch das bisherige Fehlverhalten eines Schülers bei der Entscheidung über Ordnungsmaßnahmen berücksichtigen. Eine mildere Ordnungsmaßnahme wäre hier nicht sachgerecht gewesen. Hinsichtlich der Unterschriftsfälschung des Klägers sei die Glaubwürdigkeit der Angaben des Vaters des Klägers fraglich; im Übrigen könne ein 15-Jähriger den Unrechtscharakter einer solchen Anweisung des Vaters erkennen. Zum Vorfall am 12. März 2013 wurde klargestellt, dass Rauchergruppen in und außerhalb des Schulgeländes von der Schule nicht geduldet würden. Bei der Disziplinarausschusssitzung am 16. Mai 2013 sei eine erneute Beteiligung der Eltern des Klägers nicht erforderlich gewesen, da keine neue Sachaufklärung erfolgt, sondern lediglich über die zu ergreifende Ordnungsmaßnahme entschieden worden sei. In der Disziplinarausschusssitzung am 22. März 2013 sei die Gefährdung des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule eingehend in Anwesenheit der Eltern des Klägers begründet worden. Hinsichtlich des aufgehobenen Verweises wurde auf den Zustimmungsvorbehalt des Schulleiters bei Erteilung und Aufhebung von Verweisen hingewiesen. Der Kläger zeige keine Wende in seinem Verhalten. Die Fälschung der Unterschrift, das unerlaubte sich Entfernen sowie das Verlassen des Schulgeländes versuche er damit zu entschuldigen, dass er sein Fehlverhalten eigentlich gar nicht zu vertreten habe. Die Schüler sollten lernen, sich an Regeln der Gemeinschaft zu halten, sich für Fehlverhalten zu verantworten und dieses abzustellen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte, wegen des Inhalts der mündlichen Verhandlung am 21. April 2015 auf die Niederschrift hierüber Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die angefochtene Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Es bestehen bereits formelle Bedenken gegen die streitgegenständliche Ordnungsmaßnahme

Die Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung von der Schule findet ihre Rechtsgrundlage in Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG). Regelungen zum Anhörungsverfahren hierzu sind insbesondere in Art. 86 Abs. 9 und 10 BayEUG enthalten. Nach Art. 86 Abs. 10 Satz 1 BayEUG wirkt bei Ordnungsmaßnahmen nach Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BayEUG auf Antrag eines Erziehungsberechtigten des Schülers der Elternbeirat mit. Dessen Stellungnahme ist vom zuständigen Disziplinarausschuss der Schule (Art. 58 Abs. 1 Satz 3 BayEUG, § 9 Abs. 2 Satz 2 GSO) zu würdigen (Art. 86 Abs. 10 Satz 2 BayEUG). Entspricht der Disziplinarausschuss nicht der Stellungnahme des Elternbeirats, so ist dies gegenüber dem Elternbeirat zu begründen (Art. 86 Abs. 10 Satz 3 Halbsatz 1 BayEUG).

Inwieweit bei einer erneuten Beratung und Beschlussfassung des Disziplinarausschusses über dasselbe, dem Schüler zur Last gelegte Fehlverhalten das Anhörungsverfahren jeweils neu durchzuführen ist, hängt davon ab, inwieweit dies für die Wahrung der Rechte des Schülers und seiner Erziehungsberechtigten im Einzelfall und unter Berücksichtigung des vorangegangenen Verfahrens vor dem Disziplinarausschusses erforderlich ist. In jedem Fall aber müssen der Schüler und seine Erziehungsberechtigten überhaupt über eine erneute Beratung und Beschlussfassung des Disziplinarausschusses und die dabei im Raum stehenden Ordnungsmaßnahmen informiert werden; andernfalls würde ihnen schon die Möglichkeit abgeschnitten, neue - möglicherweise auch der Schule unbekannte - Tatsachen vorzutragen. Darüber hinaus ist die Kenntnis von der erneuten Sitzung auch notwendige Voraussetzung dafür, dass die Erziehungsberechtigten oder der volljährige Schüler einen Antrag auf Mitwirkung des Elternbeirats nach Art. 86 Abs. 10 Satz 1 BayEUG stellen können. Eine erneute Mitwirkung des Elternbeirats ist jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in dem bei der erneuten Beratung und Beschlussfassung des Disziplinarausschusses eine andere Ordnungsmaßnahme als im ersten Verfahren im Raum steht und der Elternbeirat hierüber noch nicht befunden hat, nicht entbehrlich. Vorliegend konnten die Eltern des Klägers, da sie nicht von der erneuten Sitzung des Disziplinarausschusses am 16. Mai 2013 informiert wurden, nicht die Mitwirkung des Elternbeirats nach Art. 86 Abs. 10 Satz 1 BayEUG beantragen. Der Disziplinarausschuss konnte daher auch die Stellungnahme des Elternbeirats nicht, wie in Art. 86 Abs. 10 Satz 2 BayEUG vorgesehen, würdigen. Im Hinblick auf die kritische Haltung des Elternbeirats zur Entlassung des Klägers kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Elternbeirat auch Bedenken gegen die Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung des Klägers geäußert hätte. Ob vorliegend ausnahmsweise davon ausgegangen werden kann, dass etwaige geäußerte Bedenken des Elternbeirats ohne Einfluss auf die Beratung und Beschlussfassung des Disziplinarausschusses geblieben wären (vgl. Art. 46 BayVwVfG), weil der Disziplinarausschuss am 22. März 2013 entgegen der kritischen Stellungnahme des Elternbeirats wegen desselben Fehlverhaltens sogar die Entlassung des Klägers beschlossen hatte, kann letztlich offenbleiben. Denn die Ordnungsmaßnahme ist jedenfalls materiell rechtswidrig.

Die Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung von der Schule darf gemäß Art. 86 Abs. 7 BayEUG nur verhängt werden, wenn der Schüler durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgabe der Schule oder die Rechte anderer gefährdet hat. Für die Wahl der Ordnungsmaßnahme unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit ist maßgeblich, ob und in welchem Maß die Erfüllung des Schulzwecks gestört oder gefährdet und die Erziehungsverantwortung der Schule beeinträchtigt wurde, wie sie in Art. 131 BV und Art. 1, 2 BayEUG niedergelegt ist (BayVGH in ständiger Rechtsprechung, vgl. U.v. 13.6.2012 - 7 B 11.2651 - juris Rn. 19, B.v. 18.5.2009 - 7 ZB 08.1801 - juris Rn. 15). Im Hinblick darauf, dass die Androhung der Entlassung eine der schwerwiegendsten Ordnungsmaßnahmen darstellt, die die Schule selbst verhängen kann, hat sich die Entscheidung, ob diese oder eine weniger einschneidende Ordnungsmaßnahme ausgesprochen wird, daran zu orientieren, ob ein Verhalten des Schülers im Hinblick auf die unbeeinträchtigte Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule oder wegen des Schutzes Dritter nicht mehr hingenommen werden kann und dem Schüler in dieser Deutlichkeit und Konsequenz vor Augen geführt werden muss, dass sein Verhalten nicht geduldet werden kann.

Bei der Entscheidung über die Verhängung einer Ordnungsmaßnahme handelt es sich um eine pädagogische Ermessensentscheidung, die vom Gericht nur eingeschränkt überprüfbar ist. Die Gerichte haben bei ihrer Entscheidung jedoch zu überprüfen, ob die Schule ihre Entscheidung auf Tatsachen und Feststellungen gestützt hat, die einer sachlichen Überprüfung standhalten, und dabei den Sachverhalt hinreichend ermittelt und dokumentiert hat. Bestreitet ein Schüler die Feststellungen, auf denen die Entscheidung der Lehrerkonferenz bzw. des Disziplinarausschusses beruht, so hat das Gericht dem nachzugehen. Weiter ist überprüfbar, ob die Schule frei von sachfremden Erwägungen entschieden hat und ob die pädagogische Bewertung der Schule angemessen und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist (BayVGH, U.v. 13.6.2012 - 7 B 11.2651 - juris Rn.20, B.v. 19.2.2008 - 7 B 06.2352 - juris Rn. 22, B.v. 18.5.2009 - 7 ZB 08.1801 - juris Rn. 15).

Die streitgegenständliche Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung ist aufzuheben, da sie ermessensfehlerhaft auf das Fehlverhalten des Klägers am 12. März 2013 (unerlaubtes Verlassen des Schulgeländes) gestützt wurde.

Art. 86 Abs. 5 Satz 1 BayEUG nennt (abschließend) die Fälle, in denen für dasselbe Fehlverhalten zwei Ordnungsmaßnahmen nebeneinander ausgesprochen werden können. Der Schule ist es daher verwehrt, anlässlich eines Fehlverhaltens, das sie bereits, wie im Fall des Klägers, mit der Ordnungsmaßnahme des schriftlichen Verweises (Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayEUG) geahndet hat, gleichzeitig oder später die Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung auszusprechen.

Dass die Schule im Hinblick darauf den am 12. März 2013 ausgesprochenen Verweis in entsprechender Anwendung des Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG aufgehoben hat, erlaubt es ihr nicht ohne weiteres, nunmehr (unter anderem) auf dieses Fehlverhalten gestützt die Androhung der Entlassung zu verfügen.

Zwar war die Aufhebung des schriftlichen Verweises als belastenden Ausspruchs möglich. Nach Auffassung des Gerichts steht die Aufhebung durch den Disziplinarausschuss anstelle der jeweiligen Lehrkraft nach dem Rechtsgedanken des Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG der Wirksamkeit der Aufhebung nicht entgegen; im Hinblick auf die ausschließlich günstige Wirkung der Aufhebung einer belastenden Maßnahme ist nicht ersichtlich, inwieweit der Kläger durch die - sei es auch durch eine sachlich unzuständige Stelle der Schule verfügte - Aufhebung des Verweises in seinen Rechten verletzt sein könnte.

Bedenken dagegen, dass die Schule nach Aufhebung des Verweises anknüpfend an das Verhalten des Klägers am 12. März 2013 nunmehr die Androhung der Entlassung ausgesprochen hat, bestehen jedoch im Hinblick darauf, dass eine Ordnungsmaßnahme später nicht beliebig gegen eine andere ausgetauscht werden kann. Ordnungsmaßnahmen sind nach Art. 86 Abs. 1 BayEUG Erziehungsmaßnahmen und solchermaßen nur als Reaktionen auf ein konkretes Fehlverhalten des Schülers vorgesehen. Sie dienen der Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags oder dem Schutz von Personen und Sachen. Art. 86 Abs. 2 Satz 1 BayEUG enthält einen abschließenden Katalog der zulässigen Ordnungsmaßnahmen mit jeweils unterschiedlicher Eingriffsintensität. Die Sanktionierung eines Fehlverhaltens mit mehreren Ordnungsmaßnahmen ist nur in den in Art. 86 Abs. 5 Satz 1 BayEUG ausdrücklich genannten Fällen möglich. Bei der Auswahl der Ordnungsmaßnahme übt die Schule pädagogisches Ermessen aus und bezieht sich dabei auf das konkrete Fehlverhalten, aber auch die konkrete Situation des Schülers und die konkreten Folgen in der Schule. Aus dieser Situationsbezogenheit ergeben sich Grenzen des pädagogischen Ermessens; die Schule kann ihre ursprüngliche Bewertung und Sanktionierung eines Fehlverhaltens später - u.U. auch geraume Zeit nach dem jeweiligen Fehlverhalten - nicht ohne weiteres zulasten des Schülers durch eine andere ersetzen. Zum einen ließe sich der Zweck der Ordnungsmaßnahme - die Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags oder der Schutz von Personen und Sachen - rückwirkend nicht ohne weiteres mehr erfüllen. Zum anderen ist auch eine gewisse Schutzwürdigkeit seitens des betroffenen Schülers anzuerkennen, der sich auf die Konsequenzen der ausgesprochenen Ordnungsmaßnahme einstellen soll und muss. Dazu ist aber eine gewisse Verlässlichkeit erforderlich, dass die einmal von der Schule gewählte Maßnahme aus dem Katalog des Art. 86 Abs. 2 Satz 1 BayEUG nicht ohne weiteres später geändert und verschärft wird. Organisatorisch sieht § 27 Abs. 6 der Dienstordnung für Lehrkräfte an staatlichen Schulen in Bayern vor, dass der Schulleiter die Ordnungsmaßnahmen überwacht (Satz 1) und die schriftlichen Mitteilungen an die Erziehungsberechtigten hierzu ihm vor Auslauf vorgelegt werden (Satz 2). Diese Maßgaben tragen nicht nur der Bedeutung der Ordnungsmaßnahmen für den Schüler Rechnung, sondern stellen auch sicher, dass vor Ausspruch einer Ordnungsmaßnahme beim Schulleiter die Informationen über die beabsichtigte Ordnungsmaßnahme und etwaige vorangegangene Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen zusammen fließen. Der Schulleiter hat dadurch auch bei einem von der Lehrkraft zu erteilenden schriftlichen Verweis (Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayEUG) vor dessen Ausspruch Gelegenheit, in Kenntnis etwaiger vorangegangener Ordnungsmaßnahmen das jeweilige Fehlverhalten des Schülers zum Gegenstand einer weiterreichenden Ordnungsmaßnahme anstelle des schriftlichen Verweises zu machen. Geht anlässlich eines bestimmten Fehlverhaltens dem Schüler bzw. seinen Erziehungsberechtigten (nur) ein schriftlicher Verweis zu, erscheint daher aus Sicht des Schülers die Annahme gerechtfertigt, dass die Schule auch in Kenntnis etwaiger vorangegangener Ordnungsmaßnahmen dieses aktuelle Fehlverhalten nicht zum Anlass einer schwerwiegenderen Ordnungsmaßnahme nehmen will.

Vorliegend hatte der Kläger für das unerlaubte Entfernen vom Schulgelände einen schriftlichen Verweis erhalten. Er konnte daher davon ausgehen, dass, von den Möglichkeiten des Art. 86 Abs. 5 Satz 1 BayEUG abgesehen, auf dieses Fehlverhalten keine weiteren Ordnungsmaßnahmen gestützt würden. Sein Vertrauen hierauf ist auch nicht deshalb nicht schutzwürdig, weil die Schule, unter anderem auf das Fehlverhalten vom 12. März 2013 gestützt, am 22. März 2013 sogar die Entlassung ausgesprochen hatte; denn diese Ordnungsmaßnahme war entgegen Art. 86 Abs. 5 Satz 1 BayEUG neben dem schriftlichen Verweis ergangen und daher rechtswidrig. Das schutzwürdige Vertrauen des Klägers darauf, dass es mit der Sanktion des schriftlichen Verweises sein Bewenden habe, hätte bei der Ausübung pädagogischen Ermessens maßgeblich berücksichtigt werden müssen.

Gesichtspunkte, die es vorliegend ausnahmsweise erlauben würden, ungeachtet des Vertrauens des Klägers nachträglich anstelle des schriftlichen Verweises die Androhung der Entlassung auszusprechen, sind nicht ersichtlich. Ob die obigen Erwägungen zur Frage der nachträglichen Abänderbarkeit von Ordnungsmaßnahmen auch dann gelten, wenn später Umstände bekannt werden, die nachvollziehbar zu einer deutlich anderen Bewertung des Fehlverhaltens führen, und ob und unter welchen Voraussetzungen sonst Konstellationen denkbar sind, in denen eine nachträgliche Änderung von Ordnungsmaßnahmen zulasten des Schülers rechtsfehlerfrei in Betracht kommt, kann vorliegend offen bleiben. Denn weder sind hier derartige neue Umstände oder sonstige Besonderheiten ersichtlich noch hat sich der Disziplinarausschuss überhaupt im Rahmen der pädagogischen Ermessensausübung damit auseinander gesetzt, dass der zunächst ausgesprochene schriftliche Verweis nicht beliebig nachträglich verschärft werden kann.

Die Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung ist aus diesem Grund nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Auf die weiteren von der Klägerseite geltend gemachten Bedenken gegen die angegriffene Ordnungsmaßnahme kommt es daher nicht an.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

Rechtsmittelbelehrung:

Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,

Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder

Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München

schriftlich beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.

Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,

Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder

Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München

Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach

einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.

Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.

Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.

Beschluss:

Der Streitwert wird auf EUR 5.000,-- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG- i. V. m. Nr. 38.3 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,-- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,

Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder

Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München

schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.

Datenquelle d. amtl. Textes: Bayern.Recht

Meta

M 3 K 13.2621

21.04.2015

VG München

Urteil

Sachgebiet: K

Zitier­vorschlag: VG München, Urteil vom 21.04.2015, Az. M 3 K 13.2621 (REWIS RS 2015, 12312)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 12312

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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