Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.12.2020, Az. 1 BvR 1837/19

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2020, 3169

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) STAATSRECHT UND STAATSORGANISATIONSRECHT GRUNDRECHTE MEDIZIN SUIZID MEDIZINRECHT STERBEHILFE

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung einer Erlaubnis zum Erwerb eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung wegen Subsidiarität unzulässig - Wegfall der Strafnorm des § 217 StGB durch Senatsurteil vom 26.02.2020 (2 BvR 2347/15 ua) ermöglicht Inanspruchnahme legaler Hilfe zur Verwirklichung eines selbstbestimmten Lebensendes


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Die Beschwerdeführer, in den Jahren 1937 und 1944 geborene Eheleute, wenden sich gegen die im gerichtlichen Verfahren bestätigte Weigerung des [X.] ([X.]), ihnen eine Erlaubnis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zum Erwerb jeweils einer tödlichen Dosis [X.] zum Zweck der Selbsttötung zu erteilen. Sie tragen vor, dass die Ermöglichung ihres Wunsches nach einer selbstbestimmten Beendigung des eigenen Lebens durch Erteilung einer betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnis nicht - wie vom [X.] angenommen - davon abhängig gemacht werden dürfe, dass eine "extreme Notlage" in Gestalt einer medizinischen Indikation bestehe.

2

In Anbetracht des Urteils des [X.] vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u.a. -, mit dem das strafrechtliche Verbot der gewerblichen Suizidbeihilfe (§ 217 StGB) wegen unzumutbarer Erschwerung der Möglichkeit, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, für nichtig erklärt wurde, tragen die Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom August 2020 weiter vor. Sie meinen, dass sich ihr mit der Verfassungsbeschwerde verfolgtes Anliegen durch das Urteil des [X.] nicht erledigt habe. Insbesondere seien die Beschwerdeführer nicht darauf zu verweisen, sich das begehrte Medikament nach § 13 BtMG ärztlich verschreiben zu lassen. Das ärztliche Standesrecht des [X.] gestatte eine solche Verschreibung nicht. Angebote von Suizidbeihilfe bestünden auch nach Wegfall der Strafdrohung des § 217 StGB faktisch nicht. Andere Möglichkeiten als eine Erlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG, um das verfassungsgerichtlich anerkannte Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu realisieren, seien daher nicht vorhanden.

3

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ist weder aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung noch zur Durchsetzung der Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte der Beschwerdeführer geboten (§ 93a Abs. 2 [X.]), weil sie infolge des Urteils des [X.] vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u.a. - unzulässig geworden ist.

4

1. Die Verfassungsbeschwerde genügt angesichts des Urteils des [X.] vom 26. Februar 2020 nicht mehr den aus der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]) sich ergebenden Anforderungen. Vielmehr sind die Beschwerdeführer in Anbetracht der durch dieses Urteil grundlegend veränderten Situation gehalten, ihr verfassungsgerichtlich anerkanntes Recht, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, durch aktive Suche nach suizidhilfebereiten Personen im Inland, durch Bemühungen um eine ärztliche Verschreibung des gewünschten Wirkstoffs oder auf anderem geeignetem Weg konkret zu verfolgen.

5

a) Nach dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde sind Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde und auch noch während des Verfahrens gehalten, sämtliche nach Lage der Sache zumutbaren Möglichkeiten und Rechtsbehelfe auszuschöpfen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren abzuwenden oder zu beseitigen (vgl. [X.] 68, 384 <388 f.>; 77, 381 <401>; 81, 97 <102 f.>; 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; stRspr). Bei [X.], die sich unmittelbar gegen Gesetze richten und bei denen ein Rechtsweg daher fehlt, fordert das [X.] dementsprechend im Grundsatz ein Ausschöpfen aller annähernd gleichwertigen fachgerichtlichen Rechtschutzmöglichkeiten, solange davon verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erhoffen sind (vgl. [X.] 150, 309 <326 f.>). Diese Obliegenheit besteht allerdings nur im Rahmen des [X.] (vgl. [X.] 77, 275 <282>; 85, 80 <86>). Zu den danach zumutbar in Anspruch zu nehmenden Rechtsbehelfen gehören bei einer zwischenzeitlichen erheblichen Änderung der Entscheidungsgrundlage unter Umständen auch ein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 VwGO, entsprechende Bemühungen gegenüber den zuständigen Behörden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 20. Dezember 2006 - 1 BvR 271/05 -, Rn. 11; Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. August 2020 - 1 BvQ 94/20 -, Rn. 7) oder andere geeignete Anstrengungen jenseits formalisierter Verfahren.

6

b) Ausgehend hiervon ist den Beschwerdeführern in der vorliegenden Sondersituation zuzumuten, mit Blick auf die Entscheidung des [X.] vom 26. Februar 2020 ihre Bemühungen darum, die tatsächlichen Voraussetzungen für die Realisierung ihres Wunsches nach einem selbstbestimmten Tod zu schaffen, wiederaufzunehmen, um eine Vereitelung ihres Wunsches auf diesem Wege selbst abzuwenden.

7

aa) Die Möglichkeit der Beschwerdeführer, ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Lebensende zu verwirklichen, ist infolge der Entscheidung des [X.] wesentlich verbessert. Infolge der Nichtigerklärung des § 217 StGB liegt nicht mehr auf der Hand, dass eine aktive, auch andere Bundesländer als das [X.] in den Blick nehmende Suche der Beschwerdeführer nach medizinisch kundigen Suizidbeihelfern und verschreibungswilligen und -berechtigten Personen aussichtslos wäre. Unter strafrechtlichem Blickwinkel dürfte eine solche Leistung vielmehr angeboten werden. Nicht zuletzt an dem Umstand, dass das Verfahren, das zur Aufhebung dieser Strafnorm führte, auch von mehreren Ärzten betrieben wurde, zeigt sich, dass ein Kreis medizinisch kundiger Personen existiert, der zu entsprechenden Verschreibungen und anderen Unterstützungshandlungen bereit und dazu - in strafrechtlicher und betäubungsmittelrechtlicher Hinsicht - nunmehr auch befugt wäre. Damit ist vorliegend nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführer alle ihnen zumutbar zu Gebot stehenden Möglichkeiten, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende zu verwirklichen, ausgeschöpft haben.

8

bb) Zugleich sind von einer Vorabklärung der durch das Urteil des [X.] grundlegend modifizierten tatsächlichen und rechtlichen Situation im Rahmen eigener Bemühungen um suizidhilfebereite Personen und der damit verbundenen Abklärung des nunmehr geltenden fachrechtlichen Rahmens erheblich verbesserte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgrundlagen zu erhoffen. Insbesondere lässt sich nur aufgrund neuerlicher Anstrengungen zur Realisierung des Suizidwunsches der Beschwerdeführer ermessen, welche konkreten Gestaltungsmöglichkeiten und tatsächlichen Räume die nunmehr geltende Rechtslage bietet. Nur auf Grundlage einer solchen Klärung der Sach- und Rechtslage ist absehbar, ob infolge der Nichtigerklärung des § 217 StGB nunmehr ausreichende praktische und zumutbare Möglichkeiten bestehen, einen Suizidwunsch zu realisieren. Im Rahmen solcher neuerlicher Anstrengungen und dadurch angestoßener rechtlicher Verfahren könnten auch auf die neue Situation angepasste Konzepte des medizinischen und pharmakologischen Missbrauchsschutzes (vgl. zu dessen fortgesetzter Berechtigung [X.], Urteil des [X.] vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u.a. -, Rn. 338, 342) erarbeitet und zur Anwendung gebracht werden. Eine verfassungsgerichtliche Sachentscheidung zum jetzigen Zeitpunkt müsste demgegenüber auf weitgehend unsicherer Grundlage hinsichtlich der gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten ergehen. [X.] davor soll der Subsidiaritätsgrundsatz des § 90 Abs. 2 [X.] schützen.

9

cc) Schließlich würde eine verfassungsgerichtliche Sachentscheidung zum jetzigen Zeitpunkt - ohne vorangehende Klärung der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in Ansehung der geänderten Umstände - den vom [X.] anerkannten politischen Gestaltungsspielraum bei der Erarbeitung eines übergreifenden legislativen Schutzkonzepts (vgl. dazu [X.], Urteil des [X.] vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u.a. -, Rn. 338 ff.) weitgehend einschränken und die Gestaltungsentscheidung faktisch vorwegnehmen.

2. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1837/19

10.12.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BVerwG, 28. Mai 2019, Az: 3 C 6/17, Urteil

§ 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 5 Abs 1 Nr 6 BtMG 1981, § 13 BtMG 1981, § 217 StGB, § 80 Abs 7 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.12.2020, Az. 1 BvR 1837/19 (REWIS RS 2020, 3169)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3169


Verfahrensgang

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Az. 1 BvR 1837/19

Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 1837/19, 10.12.2020.


Az. 3 C 6/17

Bundesverwaltungsgericht, 3 C 6/17, 28.05.2019.


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