Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27.11.2019, Az. 9 C 6/18

9. Senat | REWIS RS 2019, 1106

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tatbestand

1

Die Kläger wenden sich gegen ihre Heranziehung zur Zweitwohnungssteuer für das Jahr 2017.

2

Sie haben ihren Hauptwohnsitz in der Stadt [X.] In der Gemeinde [X.], die Mitgliedsgemeinde der beklagten Samtgemeinde ist, gehört ihnen ein selbstgenutztes Wochenendhaus.

3

Die Gemeinde [X.] erhebt eine Zweitwohnungssteuer auf der Grundlage ihrer Zweitwohnungssteuersatzung in der Fassung der Änderungssatzung vom 3. November 2015 ([X.]). Die Steuer bemisst sich gemäß § 5 Abs. 1 [X.] nach dem Mietwert der Wohnung. § 5 Abs. 2 bis 5 [X.] lauten:

(2) Als Mietwert gilt die [X.], die im Rahmen der Objektbewertung durch das Finanzamt festgestellt und im jeweiligen Einheitswertbescheid an den [X.] ausgewiesen worden ist. § 79 des Bewertungsgesetzes ([X.]) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Februar 1991 ([X.]) in der zur [X.] gültigen Fassung findet mit der Maßgabe Anwendung, dass die [X.]n, die gemäß Art. 2 des Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes vom 13. August 1965 ([X.]) vom Finanzamt auf die Wertverhältnisse des [X.] 1. Januar 1964 festgestellt wurden, jeweils für das Erhebungsjahr auf den September des Vorjahres hochgerechnet werden.

Die Hochrechnung erfolgt bis Januar 1995 entsprechend der Steigerung der Wohnungsmieten (Bruttokaltmiete) nach dem Preisindex der Lebenshaltung aller privaten Haushalte im früheren [X.], der vom statistischen [X.] veröffentlicht wird.

Ab Januar 1995 erfolgt die Hochrechnung entsprechend der Steigerung der Wohnungsmieten (Nettokaltmiete) nach dem Preisindex der Lebenshaltung aller privaten Haushalte im [X.], der vom statistischen [X.] veröffentlicht wird.

Festsetzungen in DM werden entsprechend in Euro umgerechnet.

(3) Ist die [X.] nach Absatz 2 nicht bekannt, wird sie in Anlehnung an die Miete, die für Räume gleicher oder ähnlicher Art, Lage und Ausstattung zum Hauptfeststellungszeitpunkt 1. Januar 1964 regelmäßig bezahlt wird, geschätzt und entsprechend Absatz 2 hochgerechnet.

(4) Ist eine Mietfestsetzung nach vorstehenden Absätzen nicht möglich, gilt als Mietwert die übliche Miete i.S. des § 79 Abs. 2 [X.].

(5) Ist auch die übliche Miete nicht zu ermitteln, so treten an deren Stelle (6 v.H.) des gemeinen Wertes der Wohnung. § 9 [X.] findet entsprechende Anwendung.

4

Mit Bescheid vom 12. Januar 2017 zog die Beklagte die Kläger zur Zweitwohnungssteuer in Höhe von 262,94 € heran. Die hiergegen erhobene Klage blieb vor dem Verwaltungsgericht erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht wies die Berufung der Kläger mit Urteil vom 20. Juni 2018 zurück. Es hielt den an die [X.] zum 1. Januar 1964 anknüpfenden Steuermaßstab auch nach dem Urteil des [X.] vom 10. April 2018 (- 1 BvL 11/14 u.a. - [X.] 148, 147) zur Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung für zulässig, ließ jedoch unter Hinweis auf dieses Urteil die Revision zu.

5

Mit [X.] vom 18. Juli 2019 (- 1 BvR 807/12 und 1 BvR 2917/13 -, juris) erkannte das [X.] zu den [X.] zweier [X.] Gemeinden, dass die Bemessung einer Zweitwohnungssteuer nach dem Maßstab einer auf den 1. Januar 1964 festgestellten [X.] mit dem Grundsatz der Lastengleichheit bei der Besteuerung nicht vereinbar und seit dem [X.] verfassungswidrig ist. Gleichzeitig ordnet es für die von den dortigen Verfassungsbeschwerden betroffenen Steuersatzungen deren Fortgeltung bis zum 31. März 2020 an.

6

Zur Begründung ihrer Revision beziehen sich die Kläger auf den vorgenannten Beschluss. Aus diesem ergebe sich die Verfassungswidrigkeit auch der streitgegenständlichen Satzung. Anders als das [X.] seien die Verwaltungsgerichte aber nicht zur Anordnung der Fortgeltung einer verfassungswidrigen Satzung berechtigt. Die Regelung in § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verlange die Aufhebung von Bescheiden, die auf einer verfassungswidrigen Satzungsgrundlage beruhen.

7

Die Kläger beantragen,

das Urteil des [X.] vom 20. Juni 2018 sowie das Urteil des [X.] vom 20. April 2017 zu ändern und den Steuerbescheid der Beklagten vom 12. Januar 2017 aufzuheben.

8

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

9

Sie macht geltend, auch die Verwaltungsgerichte seien in Ausnahmefällen zu einer auf die Vergangenheit begrenzten Fortgeltungsanordnung für eine rechtswidrige Satzungsbestimmung befugt. Eine solche Anordnung sei hier im Hinblick auf das Vertrauen der Kommunen auf die Zulässigkeit des Steuermaßstabs der indexierten [X.] und wegen ansonsten drohender Einnahmeverluste gerechtfertigt.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist begründet. Das [X.]erufungsurteil beruht auf der Verletzung von [X.]undesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO, 1.). Es stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar; das [X.] kann in der Sache selbst entscheiden und den angefochtenen [X.]escheid unter Abänderung der vorinstanzlichen Urteile aufheben (2.).

1. Das [X.]erufungsurteil beruht auf der Verletzung von [X.]undesrecht, soweit es den in § 5 Abs. 2 und 3 [X.] der Gemeinde L. geregelten Steuermaßstab der "indexierten [X.]" mit dem Grundsatz der steuerlichen [X.]elastungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) für vereinbar hält und den angefochtenen [X.]escheid auf diese Satzungsgrundlage stützt (a); eine Fortgeltungsanordnung für die verfassungswidrige Satzungsbestimmung kommt nicht in [X.]etracht (b).

1. Gleichheitsrechtlicher Ausgangspunkt im Steuerrecht ist der Grundsatz der Lastengleichheit. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt stets auch eine gleichheitsgerechte Ausgestaltung der [X.]emessungsgrundlage. Der Normgeber hat für die Wahl der [X.]emessungsgrundlage und die Ausgestaltung der Regeln ihrer Ermittlung einen großen Spielraum, solange diese nur prinzipiell dazu geeignet sind, den [X.] der Steuer zu erfassen. [X.]ei der Wahl des geeigneten Maßstabs darf sich der Gesetzgeber auch von [X.] leiten lassen, die je nach Zahl der zu erfassenden [X.]ewertungsvorgänge an [X.]edeutung gewinnen und so auch in größerem Umfang Typisierungen und Pauschalierungen rechtfertigen können, dabei aber deren verfassungsrechtliche Grenzen wahren müssen (stRspr des [X.], vgl. Urteil vom 10. April 2018 - 1 [X.]vL 11/14 - [X.]E 148, 147 Rn. 96 ff.; [X.] vom 18. Juli 2019 - 1 [X.]vR 807/12 und 1 [X.]vR 2917/13 - juris Rn. 29, jeweils m.w.N.).

[X.]ei der [X.]emessung einer Zweitwohnungssteuer nach der auf den 1. Januar 1964 festgestellten [X.] gemäß § 79 [X.] kommt es durch erhebliche Wertverzerrungen zu Ungleichbehandlungen, die vor Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr gerechtfertigt sind. Da die Verwendung dieses Maßstabs ganz generell keine realitätsnahe und relationsgerechte [X.]ewertung mehr ermöglicht, können jedenfalls seit dem [X.] weder das Ziel der Verwaltungsvereinfachung noch Gründe der Typisierung und Pauschalierung die Verwendung des Maßstabs rechtfertigen ([X.], [X.] vom 18. Juli 2019 - 1 [X.]vR 807/12 und 1 [X.]vR 2917/13 - juris Rn. 32 f.).

[X.]ei diesem auch von der Gemeinde L. verwendeten Steuermaßstab werden seit 1964 veränderte Ausstattungsstandards von Gebäuden ebenso wenig berücksichtigt wie Veränderungen der Lage oder verkehrlichen Anbindung von Grundstücken. Dies führt dazu, dass mit diesem Steuermaßstab der durch das Halten einer Zweitwohnung betriebene Aufwand nicht bei allen [X.] gleichmäßig abgebildet wird, sondern erhebliche Wertverzerrungen auftreten, die eine gleichheitsgerechte Erhebung der Zweitwohnungssteuer verhindern. Die Wertverzerrungen werden nicht durch die Hochrechnung der [X.] entsprechend dem Preisindex der Lebenshaltung für Wohnungsmieten ausgeglichen, vielmehr wird die ungleiche [X.]ehandlung unterschiedlicher Zweitwohnungsinhaber im Gemeindegebiet durch die Hochrechnung perpetuiert ([X.], [X.] vom 18. Juli 2019 - 1 [X.]vR 807/12 und 1 [X.]vR 2917/13 - juris Rn. 32 und 34 f.).

b) Die Verwaltungsgerichte sind grundsätzlich nicht befugt, eine zeitlich befristete Fortgeltung für verfassungswidrige Satzungsbestimmungen anzuordnen (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 11. Dezember 2018 - 2 [X.]vL 4/11 u.a. - [X.]E 150, 204 Rn. 70 zur entsprechenden Frage nach Nichtigerklärung eines Parlamentsgesetzes; [X.]VerwG, Urteil vom 9. Juni 2010 - 9 [X.]N 1.09 - [X.]VerwGE 137, 123 Rn. 29 zum Normenkontrollverfahren). Sie sind vielmehr gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verpflichtet, angefochtene Steuerbescheide aufzuheben, wenn diese keine Grundlage in einer gültigen Satzung finden und deshalb die Steuerschuldner in ihren Rechten verletzen ([X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 26. Januar 1995 - 8 [X.] - [X.] 310 § 113 VwGO Nr. 273 S. 8 und vom 10. Februar 2000 - 11 [X.] - [X.] 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 9 S. 20). Allenfalls in besonderen Ausnahmefällen, in denen die Erklärung der Satzung als unwirksam bzw. die darauf beruhende Aufhebung der Steuerbescheide einen "Notstand" zur Folge hätte, könnte etwas Anderes gelten ([X.]VerwG, Urteil vom 9. Juni 2010 - 9 [X.]N 1.09 - [X.]VerwGE 137, 123 Rn. 29; [X.]eschluss vom 27. Juli 2010 - 9 [X.] 109.09 - juris Rn. 8). Von einem derartigen Notstand kann hier ersichtlich keine Rede sein. Einen darüber hinaus gehenden Spielraum hinsichtlich der Rechtsfolgen verfassungswidriger Satzungsbestimmungen hat der Gesetzgeber den Verwaltungsgerichten nicht eingeräumt. Das [X.]undesverfassungsgericht stützt seine Praxis auf die speziellen Regelungen in § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 1 [X.]G (s. zuletzt [X.], [X.]eschluss vom 11. Dezember 2018 - 2 [X.]vL 4/11 u.a. - [X.]E 150, 204 Rn. 108), die in der Verwaltungsgerichtsordnung keine Entsprechung finden.

Es besteht hier auch kein Grund dafür, einem durch die bisherige Rechtsprechung zur Zulässigkeit des Steuermaßstabs (s. [X.]VerwG, Urteil vom 29. Januar 2003 - 9 [X.] 3.02 - [X.]VerwGE 117, 345) begründeten Vertrauenstatbestand mittels Übergangsregelungen Rechnung zu tragen. Das [X.]undesverfassungsgericht hat zwar angenommen, dass durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung ein Vertrauenstatbestand begründet und bei Änderung dieser Rechtsprechung dem erforderlichenfalls durch [X.]estimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit oder [X.]illigkeitserwägungen im Einzelfall Rechnung getragen werden kann ([X.], [X.]eschluss vom 15. Januar 2009 - 2 [X.]vR 2044/07 - [X.]E 122, 248 <277 f.>).

Eine solche Situation liegt jedoch nicht vor.

[X.]ereits durch den ausführlich begründeten Vorlagebeschluss des [X.]undesfinanzhofs zur Verfassungswidrigkeit der Einheitsbewertung vom 22. Oktober 2014 (- [X.]/13 - [X.]FHE 247, 150) wurde das Vertrauen auf den dauerhaften Fortbestand der Rechtsprechung zum Steuermaßstab der indexierten [X.] erschüttert (vgl. zum Unzulässigwerden des [X.] bei der [X.] [X.]VerwG, Urteil vom 13. April 2005 - 10 [X.] 5.04 - [X.]VerwGE 123, 218 <234>). Nachdem das [X.]undesverfassungsgericht die Regelungen über die Einheitsbewertung wegen der gravierenden Wertverzerrungen durch das Festhalten am Hauptfeststellungszeitpunkt zum 1. Januar 1964 durch das Urteil vom 10. April 2018 (- 1 [X.]vL 11/14 - [X.]E 148, 147) für verfassungswidrig erklärt hatte, konnten die Gemeinden erst recht nicht mehr davon ausgehen, dass ein Steuermaßstab mit der Anknüpfung an die Wertverhältnisse des Jahres 1964 auf Dauer beibehalten werden kann.

Auch wenn in der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung im [X.] an dieses Urteil des [X.]undesverfassungsgerichts zum Teil noch die Auffassung vertreten wurde, der betreffende Steuermaßstab sei gleichwohl für die Zweitwohnungssteuer weiterhin zulässig, so konnte doch - zudem angesichts gegenteiliger Urteile - nicht mehr auf eine gefestigte Rechtsprechung vertraut werden.

Unzumutbare Auswirkungen auf den Gemeindehaushalt durch die Aufhebung von Steuerbescheiden infolge der Nichtigkeit der Satzungsgrundlage sind regelmäßig und auch hier nicht zu befürchten. Denn für die Vergangenheit sind nur die noch nicht bestandskräftigen [X.]escheide betroffen. Es besteht keine Verpflichtung, unanfechtbare [X.]escheide zu überprüfen und anzupassen. Darüber hinaus sind die Kommunen berechtigt, eine ungültige Satzung rückwirkend durch eine neue Satzung zu ersetzen und auf dieser Grundlage Steuern auch für einen zurückliegenden Zeitraum neu zu erheben (stRspr, s. [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 26. Januar 1995 - 8 [X.] - [X.] 310 § 113 VwGO Nr. 273 S. 8).

2. Das Urteil stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO); das [X.] kann in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Die angefochtenen [X.]escheide können nicht auf § 5 Abs. 4 [X.] gestützt werden. Das [X.]erufungsgericht legt diese Regelung zwar dahin aus, dass sie nicht an die Verhältnisse am 1. Januar 1964, sondern an die Wertverhältnisse im Zeitpunkt der Erhebung der Zweitwohnungssteuer anknüpft. Indes kommt die so verstandene Satzungsbestimmung nach der maßgeblichen Auffassung des [X.]erufungsgerichts nur ausnahmsweise zur Anwendung, soweit eine [X.] weder vom Finanzamt festgestellt wurde noch gemäß der vorrangigen Regelung in § 5 Abs. 3 [X.] zum 1. Januar 1964 geschätzt und mit der Preissteigerungsrate hochgerechnet werden kann.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Meta

9 C 6/18

27.11.2019

Bundesverwaltungsgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend OVG Lüneburg, 20. Juni 2018, Az: 9 LB 123/17, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27.11.2019, Az. 9 C 6/18 (REWIS RS 2019, 1106)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 1106

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvL 11/14

2 BvR 2044/07

II R 16/13

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.