Bundesfinanzhof, Beschluss vom 21.07.2016, Az. V S 20/16 (PKH)

5. Senat | REWIS RS 2016, 7770

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Gegenstand

Auslegung von Prozesserklärungen; Würdigung eines Schreibens als Klageerhebung; rechtsschutzgewährende Auslegung; Anspruch auf rechtliches Gehör


Leitsatz

1. NV: Der Erlass eines Sachurteils anstelle eines Prozessurteils begründet einen Verfahrensfehler.

2. NV: Ein Schreiben mit dem Betreff "Antrag auf Akteneinsicht" ist als Erhebung einer Klage auszulegen, wenn ihm eindeutig entnommen werden kann, dass der Rechtsschutzsuchende eine rechtliche Überprüfung der Einspruchsentscheidung begehrt.

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.

Tatbestand

1

I. Die Beigeladene und Antragstellerin (Antragstellerin) begehrt Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten für eine beabsichtigte Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des [X.] ([X.]) vom 11. März 2016  9 K 9255/13. Danach ist streitig, ob das am ... 1996 geborene [X.] S im Zeitraum von Dezember 2010 bis August 2013 in den Haushalt der Antragstellerin (Mutter) oder in denjenigen des [X.] (Kläger) aufgenommen war.

2

Die Beschwerdegegnerin (Familienkasse) erbrachte zunächst [X.]ergeldleistungen an die Antragstellerin. Nachdem der Kläger die rückwirkende Festsetzung von [X.]ergeld beantragt hatte, hob die Familienkasse die Festsetzung des [X.]ergeldes gegenüber der Antragstellerin auf. Dem dagegen eingelegten Einspruch der Antragstellerin half die Familienkasse --nach Hinzuziehung des [X.] mit der Einspruchsentscheidung vom 25. Juni 2013 ab. Diese wurde dem Kläger am 26. Juni 2013 mit einfachem Brief zugesandt. Am 25. Juli 2013 gingen bei der Familienkasse drei handschriftlich verfasste Schreiben des [X.] mit den Gegenstandsbezeichnungen "Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand", "Eidesstattliche Versicherung" und "Antrag auf Akteneinsicht" ein. Mit letzterem beantragte er u.a., die Entscheidung zu widerrufen bzw. neu zu verhandeln sowie Fristverlängerung zuzüglich einer Frist für die Klageerstellung. Das [X.] legte das Rechtsschutzbegehren des [X.] als fristgerecht erhobene Klage aus, die auch begründet sei. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass das gemeinsame [X.] S ab Dezember 2010 dauerhaft im Haushalt des [X.] gelebt habe.

3

Die Antragstellerin bringt vor, das [X.] habe zu Unrecht das dritte Schreiben des [X.] als Klageerhebung angesehen. Darüber hinaus sei ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden, weil sich das [X.] nicht mit ihrem Vorbringen zur Zahlung von "[X.]sunterhalt" im Schriftsatz vom 14. Oktober 2014 auseinandergesetzt habe.

Entscheidungsgründe

4

[X.] Der Antrag auf [X.] ist unbegründet und daher abzulehnen.

5

1. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

6

a) Nach § 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) i.V.m. § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag [X.], wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Rechtsverfolgung verspricht hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn für dessen Eintritt bei summarischer Prüfung eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (Beschlüsse des [X.] --[X.]-- vom 15. April 2014 V S 5/14 ([X.]), [X.], 1381, und vom 17. März 2008 II S 24/07 ([X.]), [X.], 1176, unter [X.]1.).

7

b) Wird [X.] für die Durchführung eines Rechtsmittelverfahrens beantragt und wird --wie hier-- nicht zugleich innerhalb der Rechtsmittelfrist durch eine vor dem [X.] postulationsfähige Person oder Gesellschaft (vgl. § 62 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 [X.]O) Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision eingelegt, kann die beabsichtigte Rechtsverfolgung nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn damit zu rechnen ist, dass dem Antragsteller wegen unverschuldeter Versäumung der Rechtsmittelfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 Abs. 1 [X.]O) zu gewähren ist. Das ist der Fall, wenn der Antragsteller innerhalb der Rechtsmittelfrist alle erforderlichen Voraussetzungen für eine positive Entscheidung über seinen Antrag schafft. Insbesondere muss er das Streitverhältnis unter Angabe der Beweismittel --in zumindest laienhafter [X.] darstellen und darlegen, dass die Zulassungsvoraussetzungen gemäß § 115 [X.]O gegeben sein könnten (ständige Rechtsprechung, z.B. [X.]-Beschluss in [X.], 1381, Rz 6).

8

c) Nach diesen Maßstäben kann der Antragstellerin [X.] nicht bewilligt werden. Die von ihr angestrebte Nichtzulassungsbeschwerde bietet bei der gebotenen summarischen Prüfung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg:

9

aa) Die Auslegung des Schreibens des [X.] vom 25. Juli 2013 als Klageerhebung begründet --entgegen der Ansicht der [X.] keinen Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O).

(1) Die Vorschriften der [X.]O, die die Frage regeln, unter welchen Voraussetzungen das Gericht in einem anhängig gemachten Prozess zur Sache entscheidet, gehören zu den Vorschriften des gerichtlichen Verfahrens, deren fehlerhafte Handhabung mit Verfahrensrügen geltend gemacht werden kann. Ob ein Verfahrensmangel vorliegt, richtet sich nach der objektiven Rechtslage im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung (vgl. [X.]-Beschluss vom 16. Mai 2002 VII B 29/01, [X.]/NV 2002, 1321, unter [X.]). Daher stellt der Erlass eines [X.] statt eines Prozessurteils einen Verfahrensfehler dar (vgl. [X.]-Beschluss vom 16. Juli 2015 IV B 72/14, [X.]/NV 2015, 1351, Leitsatz 3).

(2) Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] sind [X.] wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung (vgl. [X.]-Beschluss vom 7. November 2007 I B 104/07, [X.], 799). Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden (vgl. [X.]-Beschluss vom 16. April 2007 VII B 98/04, [X.]/NV 2007, 1345). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes --GG--) Rechnung (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 17. September 2014 VI B 75/14, [X.]/NV 2015, 51, sowie vom 17. Januar 2002 VI B 114/01, [X.]E 198, 1, [X.] 2002, 306).

(3) Nach diesen Grundsätzen ist das [X.] zu Recht davon ausgegangen, dass das Schreiben des [X.] vom 25. Juli 2013 mit dem Betreff "Antrag auf Akteneinsicht" die Erhebung einer Klage enthält. Denn dem Schreiben ist eindeutig zu entnehmen, dass der Kläger eine rechtliche Überprüfung der Einspruchsentscheidung begehrte. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass er beantragte, die Entscheidung (Einspruchsentscheidung) zu widerrufen bzw. neu zu verhandeln. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger gleichzeitig um eine "Fristverlängerung zgl. einer Frist für die Klageerstellung" bat. Unter Berücksichtigung des [X.] aller drei Schreiben sowie der vorausgegangenen E-Mail konnte das [X.] diese Ausführungen dahingehend verstehen, dass die Gewährung einer weiteren Frist für die Erstellung der Klagebegründung gemeint war.

bb) Soweit die Antragstellerin rügt, das [X.] habe wesentlichen Vortrag aus ihrem Schriftsatz vom 14. Oktober 2014 ("Kindsunterhalt") nicht bei der Entscheidungsfindung in Erwägung gezogen, liegt ersichtlich keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 [X.]O) und damit kein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O vor.

Auf Seite 3 des [X.]-Urteils hat das [X.] ausführlich den Vortrag der Antragstellerin wiedergegeben, wonach der Kläger im Streitzeitraum weiterhin [X.] in Höhe von monatlich 150 € erbracht habe, obwohl er dazu im Falle der Haushaltsaufnahme von S bei seiner Familie gar nicht verpflichtet gewesen sei. Der dazugehörige Klägervortrag ist auf Seite 6 des Urteils dargestellt. In den Urteilsgründen hat sich das [X.] mit diesem Vorbringen dezidiert auseinandergesetzt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die monatlichen Überweisungen in Höhe von 150 € an die Antragstellerin für eine Haushaltsunterbringung beim Kläger sprechen. Damit ist eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ausgeschlossen. Dieser gewährleistet nur, dass das [X.] den Beteiligten "hören" muss, aber nicht, dass es ihn "erhören", sich also seinen rechtlichen Ansichten anschließen müsste (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 19. Februar 2016 [X.] ([X.]), [X.]/NV 2016, 940, sowie vom 24. März 2015 X B 127/14, [X.]/NV 2015, 809).

cc) Im [X.] richten sich diese Ausführungen der Antragstellerin gegen die Rechtsauffassung des [X.], dessen Entscheidung falsch sei. Damit macht sie eine materiell-rechtlich unzutreffende Entscheidung durch das [X.] geltend, die grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision führen kann (vgl. [X.]-Beschluss vom 30. Juli 2013 IV B 107/12, [X.]/NV 2013, 1928).

2. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Gerichtsgebühren entstehen nicht (§ 142 Abs. 1 [X.]O i.V.m. § 118 Abs. 1 Sätze 4 und 5 ZPO; § 1 Abs. 2 Nr. 2, § 3 Abs. 2 des [X.] in Verbindung mit dem Kostenverzeichnis).

Meta

V S 20/16 (PKH)

21.07.2016

Bundesfinanzhof 5. Senat

Beschluss

§ 142 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 114 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 21.07.2016, Az. V S 20/16 (PKH) (REWIS RS 2016, 7770)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 7770

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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