Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.02.2021, Az. 1 BvR 2743/19

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2021, 8925

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit bei Erlass einer einstweiligen Unterlassensverfügung ohne Einbeziehung des Unterlassungsschuldners - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 31. Oktober 2019 - 2-03 O 457/19 - die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes verletzt.

2. Das [X.] hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im [X.] zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das [X.] auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine einstweilige Verfügung, die die Pressekammer des [X.] ohne Anhörung der Beschwerdeführerin in einer äußerungsrechtlichen Angelegenheit erlassen hat.

2

1. Das zugrundeliegende Verfahren betrifft die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen.

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Am 13. September 2019 veröffentlichte die Beschwerdeführerin auf einer von ihr verantworteten Internetplattform einen Artikel zu angeblichen fragwürdigen Praktiken der Passvergabe durch bestimmte [X.]. Im Rahmen dessen berichtete die Beschwerdeführerin in Wort und Bild über den Antragsteller des [X.] (im Folgenden: der Antragsteller). Die Berichterstattung befasste sich unter anderem mit einem Vorfall am [X.]. Die [X.] hatte im Handgepäck einer aus M. einreisenden Frau mehrere Diplomatenpässe entdeckt. Im Artikel hieß es auszugsweise:

"Als die [X.] die Dokumente überprüfen will, tritt … hinzu …. Überraschend zückt er einen Diplomatenpass, der ihn als 'Sonderberater' von [X.] ausweist. Die Papiere, so behauptet er, sollten zur Botschaft in B. gebracht werden. Doch ein Blick in den Computer lässt die Polizisten aufmerken: Mehrere der Ausweise sind auf Personen ausgestellt, die in kriminelle Machenschaften verwickelt sein sollen. Es geht unter anderem um Drogendelikte, Urkundenfälschung und Versicherungsbetrug. …

Auch gegen …, den Begleiter der Frau …, ermitteln [X.] Staatsanwälte. Ein Haftbefehl gegen ihn liegt allerdings nicht vor, beide können an dem Tag im Mai gegen Mitternacht weiterreisen. …

Unter [X.]n Anlegern hatte sich [X.] aus … äußerst unbeliebt gemacht. … und ein Kompagnon sammelten Geld ein, um im großen Stil in Solaranlagen zu investieren. Vermittler priesen die Investments als 'besser als [X.]' an. Doch die Wertanlagen waren hochriskant.

Mehrere Unternehmen der beiden sind inzwischen pleitegegangen. Die Staatsanwaltschaft B. ermittelt gegen … und seinen früheren Geschäftspartner wegen des Verdachts der Insolvenzverschleppung und des Betrugs. Im Raum steht ein Gesamtschaden im 'höheren sechsstelligen Bereich', teilte die Behörde mit, 'wobei die Ermittlungen dazu noch andauern'. … hat strafbares Verhalten stets bestritten."

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Die Berichterstattung wurde ergänzt durch ein Foto des Antragstellers.

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2. Mit Schreiben vom 17. September 2019 mahnte der Antragsteller die Beschwerdeführerin hinsichtlich bestimmter Teile der oben wiedergegebenen Wortberichterstattung sowie des den Antragsteller zeigenden Bildnisses ab und forderte sie zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf. Die Abmahnung, mit der eine [X.] auf denselben Tag gesetzt wurde, machte eine unzulässige Verdachtsberichterstattung geltend. Es fehle an einem aus dem Artikel heraus ersichtlichen Mindestbestand an [X.]. Eine offizielle, öffentliche Verlautbarung der Staatsanwaltschaft liege nicht vor. Zudem sei der Antragsteller im Vorfeld der [X.] mit den darin über ihn getätigten Aussagen nicht in ausreichend konkreter Weise konfrontiert worden. Außerdem rügte der Antragsteller in seiner Abmahnung eine Verletzung des Kunsturhebergesetzes (KUG) und der ausschließlichen Nutzungsrechte an dem verwendeten Bild, dies jedoch ohne nähere Erläuterung. Das [X.] umfasste sieben Seiten.

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Die Beschwerdeführerin wies die mit der Abmahnung geltend gemachten Unterlassungsansprüche zurück. Eine ausführliche Stellungnahme zu dem [X.] erfolgte mit Schreiben vom 18. September 2019. Die Beschwerdeführerin berief sich unter anderem auf die offizielle Bestätigung laufender Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaften [X.] und zitierte aus einem Schreiben der B. Staatsanwaltschaft. Hinsichtlich des Vorwurfs der unzulässigen Bildveröffentlichung machte die Beschwerdeführerin in ihrem Erwiderungsschreiben geltend, dass nicht nachvollziehbar sei, woraus sich das angeblich verletzte geistige Eigentum des Betroffenen an dem Foto ergebe und weshalb in der [X.] des Bildnisses als solcher - unabhängig von der Frage der Zulässigkeit der konkreten Wortberichterstattung - eine Verletzung der §§ 22, 23 KUG liegen solle.

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3. Mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2019 beantragte der Antragsteller beim [X.] den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Beschwerdeführerin. Der Verfügungsantrag des Antragstellers ging auf das Erwiderungsschreiben der Beschwerdeführerin umfassend ein, stellte insbesondere die Authentizität der offiziellen staatsanwaltschaftlichen Verlautbarungen infrage, bestritt teils die Kenntnis vom Gegenstand der gegen den Betroffenen geführten Ermittlungen und erläuterte erstmals den geltend gemachten Verstoß gegen die §§ 22 f. KUG sowie die angebliche Verletzung von Urheberrechten. Der Schriftsatz des Antragstellers umfasste 20 Seiten.

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4. Mit angegriffenem Beschluss vom 31. Oktober 2019 gab das [X.] ohne mündliche Verhandlung dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung statt und verpflichtete die Beschwerdeführerin antragsgemäß, die [X.] der angegriffenen Teile der Wortberichterstattung sowie des den Antragsteller zeigenden Bildnisses zu unterlassen. Zur Begründung verwies das [X.] auf die Antragsschrift. Die einstweilige Verfügung wurde der Beschwerdeführerin am 11. November 2019 zugestellt.

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5. Die Beschwerdeführerin erhob am 11. Dezember 2019 Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des [X.] vom 31. Oktober 2019 und rügte eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit.

6. Auf den Widerspruch der Beschwerdeführerin hin hob das [X.] die angegriffene einstweilige Verfügung mit Urteil vom 13. August 2020 auf.

7. Das [X.] und der Antragsteller des [X.] haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Die Akten des [X.] waren beigezogen.

Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.] liegen vor. Die für die Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Rechtsfragen hat das [X.] bereits entschieden. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchst. b [X.]). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig (vgl. näher [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 10; Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12 und vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 12). Der Rechtsweg ist erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]), denn die [X.] beziehen sich auf eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung selbst. Die insoweit geltend gemachten Grundrechtsverletzungen können vor den Fachgerichten nicht wirksam angegriffen werden. Zwar können - wie im vorliegenden Fall erfolgreich geschehen - die einstweiligen Verfügungen mit Blick auf andere Rechtsverletzungen - auch wegen Verstoßes gegen das rechtliche Gehör - fachgerichtlich angegriffen werden. Vorliegend wendet sich die Beschwerdeführerin jedoch gegen ein ihrem Vorbringen nach bewusstes und systematisches Übergehen ihrer prozessualen Rechte, das die Fachgerichte im Vertrauen daraufhin praktizierten, dass diese Rechtsverletzungen angesichts später eröffneter Verteidigungsmöglichkeiten folgenlos blieben.

Diesbezüglich besteht kein fachgerichtlicher Rechtsbehelf. Insbesondere gibt es keine prozessrechtliche Möglichkeit, etwa im Wege einer Feststellungsklage eine fachgerichtliche Kontrolle eines solchen Vorgehens zu erwirken. Die Verfassungsbeschwerde kann damit ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung selbst erhoben werden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 10; Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 12 und vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 16).

Zudem besteht ein besonderes Feststellungsinteresse und damit ein Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin, obwohl das [X.] die angegriffene einstweilige Verfügung mit Urteil vom 13. August 2020 aufgehoben hat. Das Rechtsschutzbedürfnis besteht auch nach Erledigung des ursprünglichen Begehrens im Falle einer Wiederholungsgefahr fort, wenn also ein Gericht die bereits herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht beachtet hat und bei hinreichend bestimmter Gefahr einer gleichartigen Entscheidung bei gleichartiger Sach- und Rechtslage zu befürchten ist, dass es diese auch in Zukunft verkennt (vgl. [X.]E 10, 302 <308>; 21, 139 <143>; 69, 257 <266>; 81, 138 <140>; 81, 208 <213>; stRspr).

Das [X.] hat bereits mehrfach betont, dass es bei der Geltendmachung einer Verletzung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit im Wege einer auf Feststellung gerichteten Verfassungsbeschwerde eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses bedarf (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 6. Juni 2017 - 1 BvQ 16/17 u.a. -, Rn. 11; vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 11 und vom 30. September 2018 - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 24; Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 8. Oktober 2019 - 1 BvR 1078/19 u.a. -, Rn. 3 und vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 9). Die Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses ist nur ausnahmsweise entbehrlich, solange eine offenkundig prozessrechtswidrig erlassene einstweilige Verfügung noch fortwirkt und schwere, grundrechtlich erhebliche Nachteile des Beschwerdeführers im Sinne der § 32 Abs. 1, § 90 Abs. 2 Satz 2 [X.] geltend gemacht werden, die ein Einschreiten des [X.]s noch während des laufenden fachgerichtlichen Verfahrens gebieten (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12 f.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 9 bis 12 und vom 23. September 2020 - 1 BvR 1617/20 -, Rn. 7).

Die bloße Geltendmachung eines error in procedendo reicht für die Darlegung eines besonders gewichtigen Feststellungsinteresses nicht aus (vgl. [X.]E 138, 64 <87 Rn. 71> m.w.N. - zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Die Geltendmachung eines auf Wiederholungsgefahr gestützten Feststellungsinteresses bedarf nach der Klärung der Rechtslage durch den stattgebenden [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 - näherer Darlegungen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 8. Oktober 2019 - 1 BvR 1078/19 u.a. -, Rn. 3). Das Bestehen einer Wiederholungsgefahr setzt demnach voraus, dass die Zivilgerichte die aus dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit folgenden Anforderungen grundsätzlich verkennen und ihre Praxis hieran unter Missachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht ausrichten (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 10 und vom 23. September 2020 - 1 BvR 1617/20 -, Rn. 6).

Eine solche konkrete Wiederholungsgefahr hat die Beschwerdeführerin hinreichend dargelegt. Ausweislich ihres Vortrags handelt es sich bei der Vorgehensweise der [X.], in der die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Verfahrensrechte erblickt, nicht um einen Einzelfall. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass die Rechtsprechung des [X.]s zur prozessualen Waffengleichheit der Pressekammer bekannt war, hat sie diese grundlegend verkannt.

2. Der Beschluss des [X.] vom 31. Oktober 2019 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

a) Die hier maßgeblichen Rechtsfragen hat das [X.] bereits entschieden (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 14 ff. und vom 30. September 2018 - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 25 ff.; sowie Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 15 ff.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 14 und vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 19 ff.).

aa) Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem [X.] aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als [X.] (vgl. [X.]E 70, 180 <188>) gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen (vgl. [X.]E 9, 89 <96>; 57, 346 <359>). [X.] ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde (vgl. näher [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 15). Im Presse- und [X.] kann von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen jedenfalls nicht als Regel ausgegangen werden (vgl. auch [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 31).

bb) Von der Frage der Anhörung und Einbeziehung der Gegenseite zu unterscheiden ist die Frage, in welchen Fällen über den Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann. Für die Beurteilung, wann ein dringender Fall im Sinne des § 937 Abs. 2 ZPO vorliegt und damit auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, haben die Fachgerichte einen weiten Wertungsrahmen. Die Annahme einer Dringlichkeit setzt freilich sowohl seitens des Antragstellers als auch seitens des Gerichts eine entsprechend zügige Verfahrensführung voraus (vgl. näher [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 19 f.).

cc) Über eine einstweilige Verfügung wird in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten gleichwohl angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden müssen. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung berechtigt ein Gericht jedoch nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten (vgl. näher [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 21 bis 24; sowie Beschluss der [X.] des [X.] vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 21). Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern.

Dabei ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Gericht in solchen Eilverfahren es der Gegenseite vorprozessual erlaubt, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Hierfür kann auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden.

Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügen die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn der Verfügungsantrag in [X.] an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht wird, die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sind und der Antragsteller ein etwaiges [X.] des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht eingereicht hat. Nur dann ist sichergestellt, dass der Antragsgegner hinreichend Gelegenheit hatte, sich zu dem vor Gericht geltend gemachten Vorbringen des Antragstellers in gebotenem Umfang zu äußern. Demgegenüber ist dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der bei Gericht eingereichte Antrag auf eine Erwiderung des Antragsgegners inhaltlich eingeht (vgl. näher [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 14 ff.; sowie Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 18 f.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 14 und vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 22) oder sonst mit ergänzendem Vortrag begründet wird.

b) Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Beschwerdeführerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit.

Durch den Erlass der einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung der Beschwerdeführerin war vorliegend keine Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber dem [X.] gewährleistet. Zwar hatte der Antragsteller die Beschwerdeführerin außerprozessual abgemahnt und ihr eine (sehr kurze) Frist zur Stellungnahme gesetzt. Die Beschwerdeführerin wies die Unterlassungsansprüche zurück. Der Antragsteller ließ in der Folge 40 Tage verstreichen, ohne gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Im Ergebnis hat der Antragsteller keine überzeugenden Gründe vorgetragen, warum ihm eine gerichtliche Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs nicht unmittelbar möglich gewesen sein sollte. Dies war auch für die Pressekammer aufgrund der eingereichten Schriftsätze und Unterlagen erkennbar. Trotz der offensichtlich nachlässigen Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs seitens des Antragstellers erließ das [X.] die einstweilige Verfügung wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung und ohne Anhörung der Beschwerdeführerin.

Die Einbeziehung der Beschwerdeführerin wäre bereits aufgrund der fehlenden Kongruenz zwischen vorprozessualer Abmahnung und Verfügungsantrag verfassungsrechtlich geboten gewesen (vgl. auch [X.], Beschlüsse der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 21 sowie vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 16). Neben einem augenscheinlichen Unterschied im Umfang (sieben Seiten gegenüber 20 Seiten) enthielt der Verfügungsantrag im Verhältnis zur Abmahnung für die Pressekammer erkennbar relevanten replizierenden Vortrag, insbesondere zur Frage der Urheberschaft des Bildnisses und des offiziellen Charakters der von der Beschwerdeführerin herangezogenen staatsanwaltlichen Schreiben. Nach den Grundsätzen der prozessualen Waffengleichheit ist in solchen Konstellationen fehlender Kongruenz von Abmahnung und Antrag der Gegenseite hinsichtlich der Replik und sonstigem neuen Vortrag des Antragstellers rechtliches Gehör zu gewähren. Dies wäre dem Antragsteller selbst bei einer - hier gerade nicht vorliegenden - besonderen Dringlichkeit der Sache zumutbar, denn sowohl der Umfang der vorprozessualen Abmahnung als auch deren Kongruenz mit dem späteren Verfügungsantrag liegen in seiner Hand.

Die Einbeziehung der Beschwerdeführerin durch das Gericht vor Erlass der einstweiligen Verfügung wäre damit offensichtlich geboten gewesen. Eine Frist zur Stellungnahme hätte durchaus kurz bemessen sein können. Unzulässig ist es jedoch, wegen einer gegebenenfalls durch die Anhörung des Antragsgegners befürchteten Verzögerung oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einer einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungsverfügung zu überziehen.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 [X.] und den Grundsätzen für die Festsetzung des [X.] im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. [X.]E 79, 365 <366 ff.>; [X.]K 20, 336 <337 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 2743/19

04.02.2021

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Frankfurt, 31. Oktober 2019, Az: 2-03 O 457/19, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 935 ZPO, § 937 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.02.2021, Az. 1 BvR 2743/19 (REWIS RS 2021, 8925)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 8925

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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