Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2011, Az. B 9 SB 45/11 B

9. Senat | REWIS RS 2011, 2615

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Berufung - Berufungsbeschränkung - Untätigkeitsklage - Wert des Beschwerdegegenstandes - Sachentscheidung - Prozessurteil - Zurückverweisung - Durchentscheidung


Leitsatz

1. Von der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 Alt 2 SGG werden auch Untätigkeitsklagen erfasst, die auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet sind, der Geld-, Dienst- oder Sachleistungen betrifft, die einen Wert von 750 Euro nicht übersteigen.

2. Hat das LSG über eine zulassungsbedürftige, aber nicht zugelassene Berufung in der Sache entschieden, kann das BSG auf Nichtzulassungsbeschwerde die Berufung als unzulässig verwerfen.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 11. April 2011 abgeändert.

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des [X.] vom 13. Dezember 2010 wird als unzulässig verworfen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten für das Berufungs- und das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage.

2

Nachdem das [X.] ([X.]) mit Beschluss vom [X.] die Erinnerung gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss zurückgewiesen hatte, beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin am [X.] beim beklagten Land, die Gebühren für ihre Tätigkeit im Erinnerungsverfahren auf 124,95 Euro festzusetzen. Dieses teilte daraufhin mit Schreiben vom [X.] den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass es nicht bereit sei, Gebühren für das Erinnerungsverfahren zu erstatten. Das [X.] habe mit Beschluss vom [X.] entschieden, dass im Erinnerungsverfahren keine Kostenentscheidung ergehe und insofern auch kein Kostenerstattungsanspruch bestehe. Hiergegen legten die Prozessbevollmächtigten am 13.8.2009 Widerspruch ein.

3

Nachdem der Beklagte daraufhin mit Schreiben vom 19.8.2009 und 3.12.2009 die Auffassung geäußert hatte, bei dem Schreiben vom [X.] habe es sich nicht um einen Bescheid, sondern nur um eine Mitteilung gehandelt, sodass der Erlass eines Widerspruchsbescheids nicht in Betracht komme, erhoben die Prozessbevollmächtigten am 11.12.2009 (Untätigkeits-)Klage zum [X.] mit dem Ziel, den Beklagten zur Bescheidung des Widerspruchs zu verpflichten. Das [X.] hat mit Gerichtsbescheid vom 13.12.2010 der Klage stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, den Widerspruch zu bescheiden. Auf die Berufung des Beklagten hat das [X.] [X.] (L[X.]) mit Urteil vom 11.4.2011 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die (Untätigkeits-)Klage abgewiesen, weil diese unzulässig sei.

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim [X.] (B[X.]) eingelegt, die sie mit grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G), dem Vorliegen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) sowie eines [X.] (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) begründet. Das L[X.] hätte im Hinblick auf den Gegenstandswert des Verfahrens die Berufung des beklagten [X.] als unzulässig verwerfen müssen.

5

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des L[X.] ist unter Verstoß gegen Verfahrensrecht ergangen. Das L[X.] hätte die Berufung als unzulässig verwerfen müssen. Der von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel führt entsprechend § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G zur Abänderung des Urteils des L[X.] und zur Verwerfung der Berufung des Beklagten.

6

Die Klägerin hat den als Zulassungsgrund geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G) gerügt. Mit ihrer Rüge, das L[X.] hätte im Hinblick auf den Gegenstandswert des Verfahrens die Berufung des Beklagten als unzulässig verwerfen müssen, macht die Klägerin sinngemäß geltend, dass statt der Entscheidung in der Sache ein Prozessurteil hätte ergehen müssen. Damit hat sie einen Verfahrensmangel bezeichnet (vgl B[X.]E 34, 236, 237 = [X.] zu § 51 [X.]G; B[X.] SozR 4-3250 § 69 [X.] Rd[X.]6; B[X.] SozR 4-1750 § 174 [X.]).

7

Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor, denn das L[X.] hat zu Unrecht in der Sache entschieden. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des [X.] vom 13.12.2010 war nicht zulässig, sie hätte gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G der Zulassung bedurft.

8

Nach § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G (in der hier anwendbaren Fassung des Art 1 [X.]4 Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes <[X.]GArbGGÄndG> vom [X.] - BGBl I 444) bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des [X.] oder auf Beschwerde durch Beschluss des L[X.], wenn der Wert des [X.] bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt.

9

Verschiedene [X.]e der [X.]e (vgl etwa L[X.] Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8.11.2007 - L 15 [X.]/07 SO [X.] - Rd[X.]; L[X.] Berlin-Brandenburg Beschluss vom [X.] AS 925/09 [X.] - RdNr 8; L[X.] Berlin-Brandenburg Urteil vom [X.] AS 886/10 - Rd[X.]3, 27; L[X.] Baden-Württemberg Urteil vom 18.11.2010 - L 7 SO 2708/10 - Rd[X.]5) sind zwar der Auffassung, dass die Wertgrenze des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G nicht für Untätigkeitsklagen gelte, weil mit diesen nur der Erlass eines beantragten, aber bisher nicht ergangenen Verwaltungsakts oder die Bescheidung eines Widerspruchs begehrt werden könne; eine Untätigkeitsklage sei demnach nicht auf eine Geld- oder Sachleistung gerichtet. Diese Auffassung übersieht jedoch, dass der Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G zwei Alternativen enthält, zum einen Klagen, "die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung" betreffen (1. Alt), zum anderen Klagen, die "einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt" betreffen (2. Alt).

Von der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] 2. Alt [X.]G werden auch Untätigkeitsklagen erfasst, denn diese sind entweder auf die Vornahme eines beantragten, aber ohne zureichenden Grund innerhalb von sechs Monaten nicht erlassenen Verwaltungsakts gerichtet (§ 88 Abs 1 [X.]G), oder sie haben den Erlass eines Widerspruchsbescheides zum Gegenstand, wenn ohne zureichenden Grund innerhalb von drei Monaten über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist (§ 88 Abs 2 [X.]G). Betreffen die zu erlassenden Verwaltungsakte Geld-, Dienst- oder Sachleistungen, die einen Wert von 750 Euro nicht übersteigen, unterliegt auch die Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung.

Diese sich aus dem Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] 2. Alt [X.]G ergebende Auslegung wird auch vom Sinn und Zweck der durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 ([X.]) eingeführten Regelung gestützt. Danach sollen die Berufungsgerichte von vermögensrechtlichen Streitsachen von geringem Wert (sog [X.]) entlastet werden (vgl BT-Drucks 12/1217, [X.], 71; BT-Drucks 16/7716, [X.]; B[X.] SozR 3-1500 § 144 [X.]6 S 45; B[X.] SozR 3-2500 § 81 [X.]). Die gewählte Klageart ist mithin für die Anwendung des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G bedeutungslos (so bereits [X.], [X.] 1993, 285, 288; vgl auch [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 9. Aufl 2008, § 144 RdNr 8). Entscheidend ist, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betrifft. Demnach kann auch eine Untätigkeitsklage der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G unterliegen, etwa wenn die Untätigkeit der Verwaltung darin besteht, dass sie über einen geltend gemachten Leistungsanspruch von geringem Wert nicht entscheidet oder einen Widerspruch, der einen sog Bagatellfall betrifft, nicht bescheidet (im Ergebnis ebenso L[X.] [X.] Beschluss vom 5.9.2008 - L 1 KR 13/08 [X.] - Rd[X.]1; L[X.] Baden-Württemberg Urteil vom [X.] 5449/09 - [X.] 2010, 877, 879 = [X.] 2011, 77, 78). So liegt der Fall hier.

Die Klägerin hat, nachdem der Beklagte mit Schreiben vom [X.] mitgeteilt hatte, es bestehe kein Kostenerstattungsanspruch (in Höhe der von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin geltend gemachten 124,95 Euro), Widerspruch eingelegt und, nachdem dieser nach Ablauf von drei Monaten nicht beschieden worden war, Untätigkeitsklage nach § 88 Abs 2 [X.]G erhoben. Die Berufung des Beklagten gegen den der Untätigkeitsklage stattgebenden Gerichtsbescheid hätte mithin im Hinblick auf den [X.] von 124,95 Euro nach § 144 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]G der Zulassung im Gerichtsbescheid des [X.] oder auf Beschwerde durch Beschluss des L[X.] bedurft. Eine solche Zulassung liegt nicht vor. Eine Entscheidung über die Zulassung ist weder dem Tenor noch den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen [X.] zu entnehmen. Das [X.] hat dem Gerichtsbescheid lediglich die bei zulässiger Berufung übliche Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Diese genügt jedoch nicht den Anforderungen an eine positive Entscheidung über die Zulassung der Berufung (vgl etwa B[X.]E 5, 92, 95; B[X.] SozR 3-1500 § 158 [X.] S 5; B[X.] SozR 3-1500 § 158 [X.] S 13). Das L[X.] hätte deshalb die Berufung des Beklagten nach § 158 [X.]G als unzulässig verwerfen müssen. Zugleich hätte es diesen darauf hinweisen können, dass innerhalb der noch offenen Jahresfrist des § 66 Abs 2 [X.]G eine Nichtzulassungsbeschwerde (§ 145 [X.]G) eingelegt werden kann.

Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen. Der [X.] macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit insoweit Gebrauch, als er das in der Sache entscheidende Urteil des L[X.] abändert. Von einer Zurückverweisung sieht er deshalb ab, weil das L[X.] - wie ausgeführt - die Berufung nur als unzulässig verwerfen könnte. Unter diesen Umständen kann der [X.] die gebotene Entscheidung auch selbst treffen (zum ausnahmsweise zulässigen [X.] bei unzulässiger Klage: B[X.] SozR 4-1500 § 160a [X.] Rd[X.]2 f; B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] VJ 7/05 B - Rd[X.]8).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 [X.]G.

Meta

B 9 SB 45/11 B

06.10.2011

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Hannover, 13. Dezember 2010, Az: S 12 SB 189/10, Gerichtsbescheid

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 Alt 2 SGG vom 26.03.2008, § 88 Abs 1 SGG, § 88 Abs 2 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2011, Az. B 9 SB 45/11 B (REWIS RS 2011, 2615)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2615

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