Bundesfinanzhof, Urteil vom 13.11.2014, Az. III R 18/14

3. Senat | REWIS RS 2014, 1397

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Gegenstand

(Kindergeld: Anwendung der Zuständigkeitsregelungen der Art. 13 ff. der VO (EWG) Nr. 1408/71)


Leitsatz

1. NV: Die Versagung des Kindergeldanspruchs eines Wanderarbeitnehmers kann nicht ausschließlich mit der nach Art. 13 ff. VO (EWG) Nr. 1408/71 erfolgten Zuständigkeitszuweisung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union begründet werden, wenn die nach Art. 2 VO Nr. 1408/71 erforderlichen Voraussetzungen für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 nicht festgestellt wurden.

2. NV: Auch für den Fall, dass der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist und die Regelungen der Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 eine vorrangige Zuständigkeit des anderen Mitgliedstaats begründen, ergibt sich daraus keine Sperrwirkung gegenüber der Anwendung des nationalen Rechts.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist [X.] Staatsangehöriger und lebte im Streitzeitraum (Juni 2007 bis August 2007) mit seiner Ehefrau und seinen drei Kindern in [X.].

2

Der Kläger war im Streitzeitraum bei einem Arbeitgeber mit Sitz in [X.] nichtselbständig beschäftigt. Ausweislich einer von diesem Unternehmen erstellten Bescheinigung wurde der Kläger u.a. für den Zeitraum 11. Juni 2007 bis 31. August 2007 an einen Betrieb in der [X.] ([X.]) entsandt. Ein Versicherungspflichtverhältnis zur [X.] bestand in dieser Zeit laut der Arbeitgeberbescheinigung nicht.

3

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) lehnte den Antrag des [X.], ihm u.a. für den Streitzeitraum Kindergeld für seine drei Kinder zu gewähren, mit Bescheid vom 23. November 2007 und Einspruchsentscheidung vom 18. Februar 2008 ab. Zur Begründung verwies die Familienkasse im Wesentlichen darauf, dass der Kläger in [X.] beschäftigt gewesen sei und deshalb ausschließlich [X.] für die [X.] zuständig sei. Ferner sei ein Anspruch in [X.] gemäß § 65 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) aufgrund der in [X.] gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen ausgeschlossen.

4

Die hiergegen gerichtete Klage wies das Finanzgericht ([X.]) ab. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen darauf, dass der Kläger nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a, Nr. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) --in der für den streitigen Zeitraum geltenden [X.] ausschließlich den [X.] Rechtsvorschriften unterfalle.

5

Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

6

Der Kläger beantragt, das angefochtene [X.]-Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 23. November 2007 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 18. Februar 2008 insoweit aufzuheben, als sie die streitgegenständlichen Zeiträume betreffen, und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für die drei Kinder des [X.] für den Zeitraum Juni 2007 bis einschließlich August 2007 in Höhe von insgesamt 1.386 € festzusetzen.

7

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Familienkasse … der [X.] ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.] Familienkasse eingetreten (s. dazu Beschluss des [X.] --BFH-- vom 3. März 2011 V B 17/10, [X.], 1105, unter II.A.). Das Rubrum wurde entsprechend angepasst.

III.

9

Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) insoweit zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung, als das [X.] über den Anspruch auf Kindergeld für die drei Kinder des [X.] für den Zeitraum Juni 2007 bis einschließlich August 2007 entschieden hat.

1. Zu Unrecht ist das [X.] davon ausgegangen, dass ein Kindergeldanspruch des [X.] in jedem Fall deshalb ausgeschlossen ist, weil nach den maßgeblichen Zuständigkeitsregelungen der Art. 13 ff. [X.] Nr. 1408/71 ausschließlich [X.] Recht zur Anwendung kommt.

a) Die Anwendung von Vorschriften der [X.] Nr. 1408/71 setzt zunächst voraus, dass u.a. deren persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist. Nach Art. 2 Abs. 1 [X.] Nr. 1408/71 gilt die Verordnung u.a. für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Zur Beantwortung der Frage, ob der Kläger insbesondere unter den Begriff des Arbeitnehmers fällt, hätte das [X.] zunächst gemäß der in Art. 1 Buchst. a [X.] Nr. 1408/71 enthaltenen Definition des Begriffes "Arbeitnehmer" Feststellungen zum Versichertenstatus treffen müssen (s. im Einzelnen Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 55/08, [X.], 316, [X.], 619, unter II.2.c).

b) Auch für den Fall, dass der persönliche Geltungsbereich der [X.] Nr. 1408/71 eröffnet wäre und die Regelungen der Art. 13 ff. [X.] Nr. 1408/71 eine vorrangige Zuständigkeit des Mitgliedstaates [X.] begründen würden, wäre hierdurch eine Anwendung der §§ 62 ff. EStG nicht ausgeschlossen.

Wie der Senat im [X.] an die Entscheidungen des Gerichtshofs der [X.] (Urteil [X.], [X.]/06, [X.]:C:2008:290, sowie Urteil [X.], [X.]/10, [X.]:[X.]; Beschluss [X.], [X.]/10, [X.]:[X.]) entschieden hat, entfalten die Zuständigkeitsregelungen der Art. 13 ff. [X.] Nr. 1408/71 keine Sperrwirkung gegenüber der Anwendung des nationalen Rechts (s. im Einzelnen z.B. Senatsurteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, [X.], 1040, Rz 12 ff., und vom 14. November 2013 III R 12/11, [X.], 506, Rz 12 ff.).

2. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das [X.] hat --aus seiner Sicht zu [X.] keine Feststellungen dazu getroffen, ob der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 62 f. EStG erfüllt hat.

a) Nach § 62 Abs. 1 EStG hat für Kinder i.S. des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld u.a., wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Nr. 1) oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Nr. 2 Buchst. b).

Hinsichtlich der insoweit im zweiten Rechtsgang nachzuholenden Feststellungen wird insbesondere auf die Ausführungen in den [X.] vom 24. Mai 2012 III R 14/10 ([X.], 239, [X.], 897, Rz 10 ff.), in [X.], 511, [X.], 1040, Rz 21) und vom 18. Dezember 2013 III R 44/12 ([X.], 344, Rz 8 zum Fall eines Zweitwohnsitzes) verwiesen.

b) Sollte sich danach ergeben, dass der Kläger im Streitzeitraum die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 62 f. EStG erfüllt hat, wäre zu prüfen, wie das Konkurrenzverhältnis zu dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen in [X.] aufzulösen ist.

aa) Insoweit verweist der Senat darauf, dass das Konkurrenzverhältnis nach nationalem Recht zu lösen ist, wenn [X.] nach den Bestimmungen der Art. 13 ff. [X.] Nr. 1408/71 der nicht zuständige Mitgliedstaat und auch nicht der Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes ist (s. im Einzelnen Senatsurteil in [X.], 511, [X.], 1040, Rz 28).

bb) Im Falle der Anwendbarkeit des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wäre das [X.] im Grundsatz verpflichtet, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob für ein Kind ein Anspruch auf Gewährung von dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen nach ausländischem Recht besteht (s. im Einzelnen Senatsurteile vom 13. Juni 2013 III R 63/11, [X.], 34, [X.] 2014, 711, Rz 17 ff., und vom 13. Juni 2013 III R 10/11, [X.], 562, [X.] 2014, 706, Rz 20 ff.).

3. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 [X.]O i.V.m. § 121 Satz 1 [X.]O).

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 18/14

13.11.2014

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 16. Oktober 2008, Az: 16 K 94/08, Urteil

§§ 62ff EStG 2002, Art 13ff EWGV 1408/71, Art 13 EWGV 1408/71, Art 2 EWGV 1408/71, § 62 EStG 2002, EStG VZ 2007

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 13.11.2014, Az. III R 18/14 (REWIS RS 2014, 1397)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 1397

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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