Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.07.2016, Az. 2 BvR 2474/14

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2016, 8178

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Wohnungsdurchsuchung aufgrund einer substanzlosen anonymen Anzeige verletzt Art 13 Abs 1, Abs 2 GG - Verletzung der polizeilichen Pflicht zur vollständigen Aktenführung bei verspäteter Übernahme eines öffentlichen Fahndungsaufrufs in die Verfahrensakte


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 10. September 2015 - 5 [X.]/14 - und der Beschluss des [X.] vom 30. Juli 2014 - 35a [X.] - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 13 Absätze 1 und 2 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] vom 10. September 2015 - 5 [X.]/14 - wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Kosten an das [X.] zurückverwiesen.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Durchsuchungsbeschluss. Die Staatsanwaltschaft [X.] führte zunächst gegen "Unbekannt" ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Wohnungseinbruchsdiebstahls. Nach den polizeilichen Ermittlungen war am 18. Juli 2014 in der [X.] in [X.] eingebrochen und [X.], der Schmuck (im Wert von ca. 35.000 €) und Bargeld (ca. 2.100 €) enthielt, entwendet worden.

2

Nachdem die ermittelnde Kriminalinspektion [X.] (im Folgenden [X.]) eine [X.]besichtigung durchgeführt hatte und während sich das Ermittlungsverfahren noch gegen "Unbekannt" richtete, veranlasste die Polizei über ihre Pressestelle einen "Fahndungsaufruf" in der Tageszeitung "[X.]ischer Volksfreund". Der Artikel, der in der online-Ausgabe der Zeitung bereits am 22. Juli 2014 und in der Printausgabe am 23. Juli 2014 veröffentlicht wurde, enthielt die Information, dass am "vergangenen Freitag" Schmuck und Bargeld in einem Haus in [X.] in der [X.] in [X.] gestohlen worden sei. Weiter wurde mitgeteilt, dass die Täter die Abwesenheit der Bewohner ausgenutzt, ein Fenster aufgehebelt und [X.] mit Bargeld und Schmuck (hauptsächlich Halsketten, Ohrringe und Armbanduhren) entwendet hätten. Der Kriminaldauerdienst bitte - unter Nennung seiner Telefonnummer - um Hinweise.

3

Am 23. Juli 2014 meldete sich dann bei der [X.] ein unbekannter Anrufer. Dessen auf den Beschwerdeführer zielenden anonymen Hinweis hielt die Kriminalpolizei am 24. Juli 2014 in einem Vermerk fest, wonach die unbekannte Person mitgeteilt habe: "Zum [X.] in der [X.] können Sie sich Folgendes notieren: ". Ausweislich des Vermerks der Polizei habe die Person, die schwer zu verstehen gewesen sei, sodann aufgelegt und es sei der den Anruf entgegennehmenden Kriminaloberkommissarin lediglich noch möglich gewesen, vom Display des Telefons die Vorwahl des Anschlusses des [X.] abzulesen. In einer späteren Mitteilung hat die Polizei erklärt, dass ein nachträgliches Auslesen des Telefonspeichers nicht möglich sei, da dieser Apparat die Nummer entgegengenommener Anrufe nicht speichere. Die Polizei notierte im Vermerk vom 24. Juli 2014 abschließend, dass der Beschwerdeführer bereits in erheblichem Umfang, auch "im Bereich der Eigentumskriminalität", in Erscheinung getreten sei.

4

2. Auf Anregung der Polizei und entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft [X.] erließ das Amtsgericht [X.] am 30. Juli 2014 einen Durchsuchungsbeschluss, mit dem die Durchsuchung der Wohnung und sonstiger Räume sowie der Fahrzeuge des Beschwerdeführers angeordnet wurde. Zweck der Durchsuchung sollte das Auffinden von Beweismitteln, insbesondere des entwendeten Schmucks sein. Die Polizei hatte es bis zu diesem Zeitpunkt allerdings unterlassen, eine Information über den Fahndungsaufruf beziehungsweise eine Kopie des Presseartikels zu den Akten zu nehmen. Die zuständige Staatsanwältin hatte nach ihren Angaben zum Zeitpunkt der Antragstellung von dem Fahndungsaufruf in der Zeitung keine Kenntnis.

5

Zur Begründung des Tatverdachts führte das Amtsgericht in seinem Beschluss vom 30. Juli 2014 aus, dass sich dieser aus den bisherigen polizeilichen Ermittlungen, insbesondere dem anonymen Anruf vom 23. Juli 2014 bei der [X.], bei dem eine unbekannte männliche Person den Beschwerdeführer als Täter benannt habe, ergebe. Es sei davon auszugehen, dass sich die gesuchten Beweismittel in den zu durchsuchenden Räumlichkeiten befänden. Weiterhin stehe diese Maßnahme in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts und sei zur weiteren Tataufklärung unbedingt erforderlich.

6

Der Durchsuchungsbeschluss wurde am 31. Juli 2014 in Abwesenheit des Beschwerdeführers vollzogen.

7

3. Durch Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 4. August 2014 legte der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss ein und stellte den Antrag festzustellen, dass die Anordnung der Wohnungsdurchsuchung rechtswidrig gewesen sei. Zur Begründung führte er aus, dass ein ausreichender Tatverdacht im Sinne des § 102 [X.] lediglich aufgrund des unsubstantiierten anonymen Hinweises nicht vorgelegen habe. Für die Annahme eines Tatverdachts im Sinne des § 102 [X.] müssten zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. [X.] Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen würden nicht ausreichen. In einem weiteren Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 19. August 2014 rügte der Beschwerdeführer zusätzlich einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, da es die Polizei unterlassen habe, zunächst den anonymen Anrufer über die Verbindungsdaten zu ermitteln und weitere Ermittlungen dazu anzustellen, worauf die bloßen Anschuldigungen des [X.] beruhen würden.

8

4. Das [X.] [X.] verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 10. September 2014 als unbegründet. Es führte aus, dass die Voraussetzungen des § 102 [X.] vorgelegen hätten. Für den Erlass eines [X.] genüge es, dass aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte nach kriminalistischer Erfahrung angenommen werden könne, dass der Beschwerdeführer als Täter oder Teilnehmer einer Straftat in Betracht komme und das Ziel der Durchsuchung erreicht werden könne.

9

Hier ergebe sich der Anfangsverdacht aus dem Hinweis des anonymen [X.], der sich am 23. Juli 2014 bei der [X.] gemeldet habe. Auch wenn er anonym geblieben sei, sei sein Hinweis ausreichend, um einen Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer zu begründen, insbesondere da der Anrufer den [X.] zutreffend bezeichnet habe und überdies Kenntnis von dem Umstand gehabt habe, dass bei dem Diebstahl ein [X.] entwendet worden sei. Hinzu komme, dass der Anruf zeitnah, nämlich lediglich fünf Tage nach der Tat erfolgt sei und weitere Ermittlungen der Polizei erbracht hätten, dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit bereits in erheblichem Umfang, darunter gerade auch im Bereich der Eigentumskriminalität in Erscheinung getreten sei. Entgegen dem Vorbringen in der Beschwerdeschrift sei demgegenüber die vorherige Anschlussermittlung des [X.] wegen der mit dem Zeitablauf verbundenen Gefahr des [X.] nicht angezeigt gewesen, unabhängig davon, ob eine solche überhaupt erfolgversprechend gewesen wäre. Auf den vor der Entscheidung des [X.] gelangten Fahndungsaufruf der Polizei ging das [X.] in seiner Begründung nicht ein.

5. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 13 Abs. 1 und 2 [X.]. Die Annahme eines Tatverdachts entspreche nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben. [X.] Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen seien nicht ausreichend. Vorliegend habe der anonyme Hinweisgeber aber mit Ausnahme der Anschuldigung überhaupt keine Tatsache bekannt gegeben, die nach kriminalistischer Erfahrung eine verfolgbare Straftat des Beschwerdeführers möglich erscheinen lasse. Alles, was der anonyme Anrufer bekannt gegeben habe, habe vor dem Anruf bereits in der regionalen Tagespresse gestanden, die sogar über das [X.] abrufbar gewesen sei. Weitere, den Beschwerdeführer belastende Tatsachen, seien nicht bekannt gewesen.

Insbesondere lasse sich ein Tatverdacht nicht mit der pauschalen Behauptung, der Beschwerdeführer sei in der Vergangenheit im Bereich der Eigentumsdelikte einschlägig aufgefallen, begründen. Zur Annahme eines solchen [X.] bedürfe es bereits konkreterer Angaben, die wenigstens überprüfbar seien. In den letzten Jahren, in denen der Prozessbevollmächtigte den Beschwerdeführer vertreten habe, habe sich der Beschwerdeführer jedenfalls nicht im Bereich der Eigentumsdelikte schuldig gemacht.

Schließlich verletze die Anordnung der Wohnungsdurchsuchung auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da die Polizei - vor dem Hintergrund, dass sie selbst die Informationen, die der anonyme Anrufer wiedergegeben habe, veröffentlicht habe - vorrangig im Sinne eines milderen Mittels verpflichtet gewesen sei, die vollständige Rufnummer des [X.] zu ermitteln, um daraufhin den Anschlussinhaber dazu zu vernehmen, warum gerade der Beschwerdeführer der Täter sein solle.

Das [X.] und der [X.] beim [X.] haben zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Die Ermittlungsakte hat dem [X.] vorgelegen.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerf[X.] für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 13 Abs. 1 und 2 [X.] angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits geklärt (vgl. [X.] 96, 44 <51 f.>). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.

1. Mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung durch Art. 13 Abs. 1 [X.] erfährt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen grundrechtlichen Schutz, in den mit einer Durchsuchung schwerwiegend eingegriffen wird (vgl. [X.] 42, 212 <219 f.>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>). Zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung zum Zwecke der Strafverfolgung ist daher der Verdacht erforderlich, dass eine Straftat begangen wurde. Dieser Anfangsverdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen reichen nicht aus (vgl. [X.] 44, 353 <371 f.>; 115, 166 <197 f.>). Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende Gründe für eine Durchsuchung nicht finden lassen (vgl. [X.] 59, 95 <97>).

Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht zudem ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. [X.] 20, 162 <186 f.>; 96, 44 <51>; 115, 166 <197>). Die Durchsuchung muss vor allem auch in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. [X.] 20, 162 <187>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>; 115, 166 <197>).

2. Angaben anonymer Hinweisgeber sind als [X.] zur Aufnahme weiterer Ermittlungen dabei nicht generell ausgeschlossen. Ein solcher pauschaler Ausschluss widerspräche dem zentralen Anliegen des Strafverfahrens, nämlich der Ermittlung der materiellen Wahrheit in einem justizförmigen Verfahren als Voraussetzung für die Gewährleistung des Schuldprinzips. Bei anonymen Anzeigen müssen die Voraussetzungen des § 102 [X.] im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten aber wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung besonders sorgfältig geprüft werden (vgl. z.B. [X.], Beschluss vom 15. September 1997 - [X.] -, [X.], [X.] f.; [X.], Beschluss vom 5. Februar 2004 - 1 [X.]/03 -, [X.], [X.]; [X.], Beschluss vom 22. August 2005 - 2 [X.]/05 -, [X.] 2005, [X.] f.; [X.], Beschluss vom 10. Dezember 2014 - 2 [X.] -, [X.] 2/2015, [X.] f.). Bei der Prüfung des Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeitsabwägung sind insbesondere der Gehalt der anonymen Aussage sowie etwaige Gründe für die Nichtoffenlegung der Identität der Auskunftsperson in den Blick zu nehmen; als Grundlage für eine stark in [X.] eingreifende Zwangsmaßnahme wie eine Durchsuchung kann eine anonyme Aussage nur genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden ist (vgl. z.B. [X.], 144 <147>; [X.], Beschluss vom 7. September 2007 - 7 [X.]/07 -, juris, Rn. 31).

3. Dem Gewicht des Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es außerdem, dass Art. 13 Abs. 2 [X.] die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem [X.] vorbehält und damit eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz vorsieht (vgl. [X.] 20, 162 <223>; 57, 346 <355 f.>; 76, 83 <91>; 103, 142 <150 f.>; 139, 245 <265 Rn. 57>). Die Einschaltung des [X.]s soll dabei insbesondere dafür sorgen, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden (vgl. [X.] 103, 142 <151>). Besondere Bedeutung kommt dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu, weil nur so im Einzelfall die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs sichergestellt werden kann. Der [X.] darf die Wohnungsdurchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund einer eigenverantwortlichen Prüfung der Ermittlungen davon überzeugt hat, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist (vgl. [X.] 96, 44 <51>).

4. Um eine solche ordnungsgemäße Prüfung durch den [X.] sicherzustellen, ist es erforderlich, dass die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft/Polizei) die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit gewährleisten. Dieser Grundsatz muss dabei nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt sein, denn dieses Prinzip folgt bereits aus der Bindung der Verwaltung (und der Justiz) an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 [X.]) und der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Pflicht zur Objektivität (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 6. Juni 1983 - 2 BvR 244/83, 2 BvR 310/83 -, juris, Rn. 3; [X.], Urteil vom 30. Juli 2014 - 1 S 1352/13 -, juris, Rn. 90).

Letzterer sind auch die Staatsanwaltschaft und Polizei in besonderem Maße verpflichtet. Die Strafprozessordnung enthält in § 163 Abs. 2 Satz 1, § 168b Abs. 1 und § 199 Abs. 2 Satz 2 Ausprägungen dieses Grundsatzes der Aktenvollständigkeit. Insbesondere gilt die Bestimmung des § 168b Abs. 1 [X.], wonach das Ergebnis staatsanwaltschaftlicher Untersuchungen aktenkundig zu machen ist, auch für polizeiliche [X.] entsprechend. Aus den Akten muss sich ergeben, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt worden sind und welchen Erfolg sie gehabt haben (vgl. [X.], in: [X.]/ Schluckebier/[X.], [X.], 2. Aufl. 2016, § 168b Rn. 1; O[X.], Beschluss vom 20. September 1990 - 2 VAs 1/90 -, juris, Rn. 21; [X.], Urteil vom 18. November 1985 - 1 Op Js 148/85 KLs (58/85) -, [X.] 1986, [X.]; vgl. auch [X.], in: [X.], [X.], 26. Aufl. 2007, § 168b Rn. 2a, § 163 Rn. 78 und § 160 Rn. 62).

Da das Ermittlungsverfahren ein schriftliches Verfahren ist, muss jedes mit der Sache befasste [X.], auch das Gericht, wenn es im Vorverfahren oder im gerichtlichen Verfahren tätig wird, das bisherige Ergebnis des Verfahrens und seine Entwicklung erkennen können ([X.], in: [X.], [X.], 26. Aufl. 2007, § 168b Rn. 1). Es steht dabei nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, ob sie strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in den Akten vermerken und zu welchem Zeitpunkt sie dies tun. Das Gericht muss den Gang des Verfahrens - auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 [X.] - ohne Abstriche nachvollziehen können ([X.], Urteil vom 11. Dezember 2013 - 5 [X.] -, juris, Rn. 46). Einzelheiten der Durchführung und des Verlaufs von [X.] müssen in der Regel nicht notwendig angegeben werden. Geboten ist dies aber, wenn das Ergebnis einer näheren Begründung bedarf oder die Umstände, die zu ihm geführt haben, für das weitere Verfahren festgehalten werden müssen ([X.], in: [X.], [X.], 26. Aufl. 2007, § 168b Rn. 6). Es muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren jedenfalls schon der bloße Anschein vermieden werden, die Ermittlungsbehörden wollten etwas verbergen (vgl. [X.], Urteil vom 11. Dezember 2013 - 5 [X.] -, juris, Rn. 46 und [X.], Beschluss vom 2. September 2015 - 5 [X.] -, BeckRS 2015, 15773).

5. Gegen diese Pflicht, vollständige Akten zu führen, wurde in vorliegendem Fall von den Ermittlungsbehörden aufgrund der erheblichen Relevanz des fehlenden Akteninhalts schwerwiegend verstoßen. Ohne diesen Verstoß hätte eine objektive Prüfung der Sachlage bei vollständigem Akteninhalt allenfalls einen schwachen Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer begründen können, der eine Durchsuchung nicht hätte rechtfertigen können.

Die Polizei hat es versäumt, bei Vorlage der Akten an die Staatsanwaltschaft (und über diese an die Ermittlungsrichterin) die Information weiterzugeben, dass sie am 22./23. Juli 2014 einen Fahndungsaufruf in der Zeitung "[X.]ischer Volksfreund" veröffentlicht hatte, in dem alle Informationen, die der anonyme Anrufer mitgeteilt hat, bereits enthalten waren (Tatörtlichkeit, entwendeter Gegenstand). Eine Kopie des [X.] findet sich erst auf Blatt 30 der Ermittlungsakte, chronologisch nach dem erlassenen Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts ([X.] 24 f. der Ermittlungsakte).

Die Polizei und auch die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens haben die zum Zeitpunkt des Erlasses des [X.] fehlende Aktenvollständigkeit zu vertreten. Die Staatsanwaltschaft hat für ein justizförmiges Verfahren - auch durch ihre Ermittlungspersonen - zu sorgen. Sie trägt die Grundverantwortung für die rechtlich einwandfreie Beschaffung der Beweismittel (vgl. [X.], in KMR-[X.], 72. EL Mai 2014, § 163 Rn. 7 und Griesbaum, in: [X.] Kommentar zur [X.], 7. Aufl. 2013, § 163 Rn. 2). Mängel der Dokumentation können jedenfalls nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen.

Das [X.] hat diesen Umstand nicht erkannt und - trotz der zwischenzeitlich zur Akte genommenen Kopie des Fahndungsaufrufs - in seiner die Beschwerde zurückweisenden Entscheidung zentral auf das angebliche "Insider"-Wissen des anonymen [X.] zur Begründung des [X.] abgestellt. Auf den Fahndungsaufruf geht es in seiner Entscheidung dagegen überhaupt nicht ein.

Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass alle vom anonymen Anrufer mitgeteilten Informationen bereits am 22./23. Juli 2014 über die Zeitung der Öffentlichkeit zugänglich waren, verliert die anonyme Anzeige aber - jedenfalls ohne Hinzutreten besonderer weiterer verdachtsbegründender Umstände - (nahezu) ihr gesamtes Gewicht. Denn bei dieser Sachlage ist es nicht ausgeschlossen beziehungsweise möglicherweise sogar naheliegend, dass ein Unbekannter den Beschwerdeführer zu Unrecht denunzieren wollte. Der Anrufer konnte durch den Fahndungsaufruf auch gerade erst zu einer Falschbezichtigung herausgefordert worden sein. Es waren zudem keine plausiblen Gründe für die Wahrung der Anonymität des [X.] erkennbar.

Auch bleibt der Hinweis im polizeilichen Vermerk vom 24. Juli 2014 (zugleich Anregung eines [X.]) auf "früher begangene Eigentumsdelikte" des Beschwerdeführers unergiebig, da er nicht mit Tatsachen unterlegt war. Es wird weder aus dem Beschluss des Amtsgerichts noch aus der Entscheidung des [X.]s deutlich, ob es sich bei den in Bezug genommenen Eigentumsdelikten gerade um Wohnungseinbrüche handelte und wie lange etwaige Verurteilungen überhaupt zurücklagen; auch der Strafregisterauszug, der Grundlage des Vermerks gewesen sein dürfte, hat keinen Eingang in die Verfahrensakte gefunden.

Da also ein Anfangsverdacht durch die anonyme Anzeige nicht begründet werden konnte, lagen keine plausiblen Gründe für die Annahme eines ausreichenden [X.] vor. In der Vergangenheit liegende, nicht näher spezifizierte "frühere Eigentumsdelikte" des Beschwerdeführers konnten im vorliegenden Fall auch keinen ausreichend starken Tatverdacht begründen, der den erheblichen Eingriff in die Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung hätte rechtfertigen können. Der Durchsuchungsbeschluss war objektiv willkürlich, weil unter Berücksichtigung des notwendigen Akteninhalts nicht mehr verständlich. Auf einen - hier nicht vorhandenen - subjektiven Sorgfaltsverstoß der Ermittlungsrichterin kommt es insofern nicht an.

Der angegriffene Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts kann aufgrund des bereits erfolgten Vollzugs und somit prozessualer Überholung nicht aufgehoben werden. Insoweit war lediglich die Feststellung zu treffen, dass der Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 und 2 [X.] verletzt. Die Entscheidung des [X.]s war demgegenüber aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerf[X.]). Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen, das noch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden hat.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 BVerf[X.] die notwendigen Auslagen zu erstatten. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts (vgl. [X.] 105, 239 <252>). Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. dazu auch [X.] 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 2474/14

14.07.2016

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Trier, 10. September 2014, Az: 5 Qs 66/14, Beschluss

Art 13 Abs 1 GG, Art 13 Abs 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 102 StPO, § 105 StPO, § 168b Abs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.07.2016, Az. 2 BvR 2474/14 (REWIS RS 2016, 8178)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 8178

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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