Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.02.2011, Az. V ZB 205/10

5. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 9358

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Gegenstand

Zwangsversteigerungsverfahren: Vollstreckungsschutz gegen Zuschlagsbeschluss wegen der ernsthaften Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners


Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 3 wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des [X.] vom 7. Juli 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für die anwaltliche Vertretung des [X.] im Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 95.000 €.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten zu 1 und 2 betreiben die Zwangsversteigerung des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks der Beteiligten zu 3 und 4. Der Verkehrswert wurde auf 95.000 € festgesetzt. In dem Termin vom 13. April 2010 blieb der Beteiligte zu 5 mit einem Gebot von 65.000 [X.] und erhielt den Zuschlag.

2

Am 19. April 2010 beantragte der Beteiligte zu 3, den Zuschlag zu versagen und das Zwangsversteigerungsverfahren für sechs Monate einzustellen. Zur Begründung führte er an, dass er seit September 2009 mit seiner schwerstbehinderten Tochter allein in dem Einfamilienhaus wohne. Ein Herausreißen der Tochter aus der gewohnten Umgebung wäre für ihren Zustand schädlich. Er habe 2009 einen Herzinfarkt erlitten und befinde sich noch in medizinischer Nachsorge. Seitdem er Kenntnis von der Zwangsversteigerung habe, leide er an einer depressiven Erkrankung, und es verfestigte sich ein Suizidgedanke stetig.  

3

Gegen den ihm am 3. Mai 2010 zugestellten [X.] hat der Beteiligte zu 3, gestützt auf den [X.] und unter Vorlage eines ärztlichen Attests, sofortige Beschwerde eingelegt. Das [X.] hat die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde erstrebt der Beteiligte zu 3 weiterhin die Versagung des Zuschlags und die Einstellung des [X.].

II.

4

Das Beschwerdegericht meint, der Schuldner könne nach Erteilung des Zuschlags einen Schutzantrag nach § 765a ZPO nicht (neu) stellen und diesen auch nicht erstmals mit der Beschwerde gegen den Zuschlag anbringen. Der [X.] könne im [X.] nur in den in § 100 [X.] aufgeführten Fällen aufgehoben werden, in denen dem Vollstreckungsgericht ein wesentlicher Rechtsfehler unterlaufen sei

III.

5

Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

6

1. Ohne Erfolg bleibt allerdings die erstmals im Rechtsbeschwerdeverfahren erhobene Rüge, es liege ein Zuschlagsversagungsgrund gemäß § 83 Nr. 1 [X.] vor, weil nach Nr. 6 der Hinweise des Vollstreckungsgerichts an Bietinteressenten die Ausweispapiere bei der Gebotsabgabe vorzulegen seien, dem Protokoll über den Versteigerungstermin jedoch nicht entnommen werden könne, dass sich der Beteiligte zu 5 ausgewiesen habe. Die Unbeachtlichkeit dieser Rüge folgt bereits daraus, dass die Rechtsbeschwerde nur auf Rechtsfehler der Entscheidung des [X.] gestützt werden kann (§ 576 Abs. 1 ZPO) und ein solcher schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil das Beschwerdegericht einen etwaigen Zuschlagsversagungsgrund nach § 83 Nr. 1 [X.] nur auf eine Beanstandung des Beschwerdeführers hin prüfen musste (vgl. § 100 Abs. 3 [X.]). Eine solche ist in den Vorinstanzen jedoch nicht erhoben worden. Im Übrigen erfasst § 83 Nr. 1 [X.] nur eine Verletzung von Versteigerungsbedingungen im Sinne des Gesetzes (§§ 44 bis 65 [X.]).

7

2. Rechtsfehlerhaft nimmt das Beschwerdegericht aber an, dass der nach Erteilung des Zuschlags gestellte Vollstreckungsschutzantrag des Beschwerdeführers (§ 765a ZPO) unbeachtlich sei. Das Gegenteil ergibt sich aus der von ihm zitierten Entscheidung des [X.] (vom 24. November 2005 - [X.], [X.], 505) und der herangezogenen Kommentierung von Stöber ([X.], 19. Aufl., Einleitung 59.10 b) sowie aus der Rechtsprechung des [X.] (NJW 2007, 2910).

8

Zwar kann ein [X.] im [X.] grundsätzlich nur in den in § 100 [X.] aufgeführten Fällen aufgehoben werden, in denen dem Vollstreckungsgericht ein wesentlicher Rechtsfehler unterlaufen ist. Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht der Vollstreckungsorgane aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zwingt aber zu einer Ausnahme, wenn der durch den Zuschlag eintretende [X.] zu einer konkreten Suizidgefahr bei dem Schuldner oder einem seiner Angehörigen führt. In diesem Fall ist es selbst dann, wenn die Suizidgefahr ein neuer Umstand ist, den das Vollstreckungsgericht (so) noch nicht hat wahrnehmen können, in keinem Fall gerechtfertigt, dass das Beschwerdegericht vor der nunmehr (möglicherweise) bestehenden Gefahr die Augen verschließt und unter Berufung auf die formale Verfahrensgestaltung eine Entscheidung bestehen lässt, die Ursache für den Tod des Schuldners werden kann (Senat, Beschluss vom 24. November 2005 - [X.], [X.], 505 Rn. 19 u. 24). Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die auf den [X.] zurückzuführende Gefahr der Selbsttötung erstmals nach dessen Erlass gezeigt hat und deshalb erstmals mit der dagegen gerichteten sofortigen Beschwerde geltend gemacht wird, oder ob sie latent bereits vor dem Zuschlag vorhanden war und sich durch diesen im Rahmen eines dynamischen Geschehens weiter vertieft hat. Die fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Schuldners zu einer möglichen Suizidgefahr verletzt in beiden Fällen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ([X.], NJW 2007, 2910 Rn. 11 f.). Erst wenn der [X.] rechtskräftig ist, kommt ein Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO mit dem Ziel der Aufhebung des Zuschlags nicht mehr in Betracht (Senat, Beschluss vom 1. Oktober 2009 - [X.], [X.], 522; [X.], [X.], 767).

IV.

9

Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben, er ist aufzuheben (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

Es wird zunächst zu prüfen sein, ob nach dem Vortrag des [X.] bei einem endgültigen [X.] durch Eintritt der Rechtskraft des [X.]es - und nicht erst im Hinblick auf die drohende Zwangsräumung (zur Unterscheidung: Senat, Beschluss vom 24. November 2005 - [X.], [X.], 505 Rn. 23 f.; [X.], NJW 2007, 2910 Rn. 13 f.) - ernsthaft mit seinem Suizid zu rechnen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - [X.], [X.], 74 Rn. 23). Der Nachweis, dass es bei Fortsetzung des Verfahrens in jedem Fall zu einer Selbsttötung kommen wird, ist nicht erforderlich (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - [X.], [X.], 74 Rn. 23).

Zu beachten ist, dass der [X.] nicht verpflichtet ist, das Gericht bereits durch seinen Vortrag oder durch die vorgelegten Atteste davon zu überzeugen, dass eine konkrete Suizidgefahr besteht. Die Richtigkeit einer schlüssigen Behauptung muss sich, wie auch sonst in Verfahren, die nach der Zivilprozessordnung durchzuführen sind, im Rahmen der Beweisaufnahme erweisen. Da das Gericht die Ernsthaftigkeit einer Suizidgefahr mangels eigener medizinischer Sachkunde ohne sachverständige Hilfe in aller Regel nicht beurteilen kann, ist es im Zweifel gehalten, einem Antrag des Schuldners auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen (vgl. [X.] FamRZ 2005, 1972, 1973 mwN; vgl. auch Senat, Beschluss vom 2. Dezember 2010 - [X.], juris, und Beschluss vom 16. Dezember 2010 - [X.], juris).

Ist danach eine konkrete Suizidgefahr aufgrund einer endgültigen Zuschlagserteilung zu bejahen, wird weiter zu prüfen sein, ob dieser Gefahr auf andere Weise als durch die Versagung des Zuschlags und die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann, zum Beispiel durch eine vorläufige Unterbringung des [X.] (vgl. näher Senat, Beschluss vom 14. Juni 2007 - [X.], NJW 2007, 3719, 3720 f.). Für das in diesem Fall notwendige Verfahren zur Vermeidung einer Blockade zwischen Vollstreckungs- und Betreuungsgericht wird auf den Beschluss des Senats vom 15. Juli 2010 ([X.], NJW-RR 2010, 1649 Rn. 12 f.) verwiesen. Verspricht auch eine solche Maßnahme keinen Erfolg, muss über die Zuschlagsversagung anhand einer am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Würdigung der Gesamtumstände entschieden werden, bei der sowohl den dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechten als auch den gewichtigen, ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen der anderen Beteiligten des [X.] getragen wird.

Krüger                              Stresemann                                    Roth

                Brückner                                     Weinland

Meta

V ZB 205/10

17.02.2011

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Potsdam, 7. Juli 2010, Az: 5 T 323/10, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 574 ZPO, § 576 ZPO, § 577 ZPO, § 765a ZPO, § 81 ZVG, § 82 ZVG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.02.2011, Az. V ZB 205/10 (REWIS RS 2011, 9358)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9358

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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