Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 14.12.2011, Az. 2 BvR 68/11

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2011, 496

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Mangelnde Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs 2 S 1 BVerfGG) bei unterlassener Anhörungsrüge (§ 33a StPO) - Mögliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei Nichtberücksichtigung von Parteivorbringen durch Gericht - keine Übertragung oder Delegation  der Entscheidung bzgl der Aussetzung einer Maßregel auf Dritte, die keiner staatlichen Aufsicht unterworfen sind


Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufhebung einer Aussetzung der Unterbringung im Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 463 Abs. 1 in Verbindung mit § 454a Abs. 2 Satz 1 StPO.

2

1. Der Beschwerdeführer wurde wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Aufgrund einer weiteren Tatserie wurde er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten sowie zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verurteilt. Mit Beschluss vom 28. Januar 2010 setzte das [X.] die Vollstreckung der Reststrafe sowie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ab dem 15. September 2010 unter anderem unter der Voraussetzung aus, dass der Beschwerdeführer in ein näher bezeichnetes [X.] einziehe.

3

a) Mit Beschluss vom 3. September 2010 hat das [X.] diesen Beschluss nach § 463 Abs. 1 in Verbindung mit § 454a Abs. 2 Satz 1 StPO aufgehoben, weil die Aufnahme des Beschwerdeführers von dem in Aussicht genommenen [X.] mit der Begründung verweigert worden war, dass der Beschwerdeführer die Tat nicht eingestehe, er sich nicht schuldbewusst zeige und die für eine Aufnahme unverzichtbare Voraussetzung einer abgeschlossenen Therapie nicht vorliege. Damit fehle es an einem geeigneten [X.] Empfangsraum als Voraussetzung dafür, dass der Beschwerdeführer außerhalb des [X.]keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde.

4

b) In seiner sofortigen Beschwerde hat der Beschwerdeführer die fehlende Verhältnismäßigkeit der fortgesetzten Unterbringung gerügt und sich insbesondere gegen die Weisung im Bewährungsbeschluss gewandt, wonach er in das die Aufnahme verweigernde [X.] einzuziehen habe. Die Erfüllung der Weisung hänge in unzulässiger Weise allein vom "guten Willen Dritter" ab.

5

c) Mit Beschluss vom 9. Dezember 2010 hat das [X.] die sofortige Beschwerde als unbegründet verworfen. Die Ausführungen des [X.] hielten den gesetzlichen Anforderungen vollumfänglich stand. Es sei absehbar, dass bei einem von Anfang an fehlenden [X.] Empfangsraum in einem aufnahmebereiten [X.] bereits die Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung nicht erfolgt wäre.

6

2. Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen diese Entscheidungen und rügt insbesondere den Beschluss des [X.] als willkürlich. Das [X.] habe sich mit verschiedenen Aspekten des [X.] in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nicht auseinandergesetzt und überdies verkannt, dass die bedingte Aussetzung des [X.] zur Bewährung gerade keinen vollumfänglichen Erfolg des bisherigen Vollzugs verlange.

7

3. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 [X.] nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>). Sie ist unzulässig, weil der Rechtsweg nicht erschöpft ist (§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]).

8

a) Vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde muss im Regelfall der Rechtsweg erschöpft werden (§ 90 Abs. 2 Satz 1 [X.]). Dazu gehört, soweit sie statthaft ist, auch die Anhörungsrüge (vgl. [X.] 122, 190 <198>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2011 - 2 BvR 2407/10 -, juris, Rn. 2).

9

b) Für die Erhebung der Anhörungsrüge ist es unerheblich, ob der Beschwerdeführer die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör ausdrücklich und unter Anführung von Art. 103 Abs. 1 GG rügt. Denn die Obliegenheit, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg zu erschöpfen, erfasst auch die Erhebung einer statthaften und nicht von vornherein völlig aussichtslosen Anhörungsrüge, unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer einen Gehörsverstoß geltend machen will. Entscheidend ist allein, ob bei objektiver Betrachtung eine Korrektur der von ihm gerügten sonstigen Grundrechtsverstöße durch die Erhebung einer Anhörungsrüge möglich gewesen wäre ([X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 14. Juli 2011 - 1 BvR 1468/11 -, juris, Rn. 6; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2011 - 2 BvR 2407/10 -, juris, Rn. 3).

c) Zwar verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG die Gerichte nicht, sich mit jeglichem tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten auseinanderzusetzen (vgl. [X.] 5, 22 <24>; 96, 205 <216 f.>; stRspr). Gleichwohl können besondere Umstände darauf hindeuten, dass ein Gehörsverstoß durch eine nicht hinreichende Erwägung entscheidungserheblichen Vorbringens eingetreten ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 19. April 2011 - 2 BvR 2374/10 -, juris, Rn. 4; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 24. Juli 2008 - 2 BvR 610/08 -, juris, Rn. 6; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2011 - 2 BvR 2407/10 -, juris, Rn. 5).

d) Vorliegend wäre eine Anhörungsrüge (§ 33a StPO) gegen den Beschluss des [X.] statthaft und nicht von vornherein aussichtslos. In der Begründung seiner sofortigen Beschwerde hat der Beschwerdeführer unter anderem angeführt, dass die Aussetzung einer Unterbringung im Maßregelvollzug zur Bewährung nicht mit einer Auflage oder Weisung versehen werden darf, deren Einhaltung ausschließlich vom Verhalten Dritter abhängig ist. Das [X.] hat sich weder mit diesem Einwand im Hinblick auf bestehende Alternativen zur Schaffung eines geordneten und strukturierten [X.] Empfangsraums auseinandergesetzt noch die Zulässigkeit einer solchen Bestimmung im Bewährungsbeschluss geprüft.

e) Tatsächlich begegnet eine ausschließlich vom Verhalten Dritter abhängige Voraussetzung für eine Begünstigung, die einem der hoheitlichen Freiheitsentziehung unterliegenden Betroffenen gewährt werden kann beziehungsweise soll, verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. [X.]K 13, 137 <140 ff.>). Da der grundrechtlich verbürgte Freiheitsanspruch aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG nur durch die Gerichte eingeschränkt werden kann, kommt eine Delegation der Entscheidung, insbesondere an nicht der staatlichen Aufsicht unterworfene Dritte, nicht in Betracht. Den Gerichten ist es zwar nicht verwehrt, sich bei der Ausführung und Kontrolle einer das [X.] beschränkenden Entscheidung der Mithilfe privater Dritter, etwa der Einholung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage der eigenen Entscheidung (vgl. [X.] 70, 297 <309 f.>; 109, 133 <162 f.>; 117, 71 <107>), zu bedienen. Sie dürfen derartige Entscheidungen jedoch nicht von ihnen nicht steuer- oder kontrollierbaren Dritten überantworten oder allein von deren Urteil abhängig machen (vgl. [X.] 70, 297 <310>; 109, 133 <164>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 17. Mai 2011 - 2 BvR 942/11 - juris, Rn. 25; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 27. Juni 2011 - 2 BvR 2135/10 -, juris, Rn. 16; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -, NJW 1998, S. 2202 <2203>).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Bedeutung und Tragweite des in den Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 GG verbürgten [X.]s im vorliegenden Fall verkannt worden sind, weil die angegriffenen Entscheidungen maßgeblich auf die Weigerung des [X.]s abgestellt haben, den Beschwerdeführer aufzunehmen, und auf das hieraus folgende Fehlen eines [X.] Empfangsraums. Alternativen erwogen haben sie nicht.

f) Da das [X.] keine Ausführungen zu dieser Fragestellung gemacht hat, obwohl der Beschwerdeführer dazu Anstoß gegeben hatte, liegt die Annahme nahe, dass es das diesbezügliche Beschwerdevorbringen entweder übergangen oder zumindest nicht hinreichend gewürdigt hat.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 68/11

14.12.2011

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG München, 9. Dezember 2010, Az: 1 Ws 1232 1233/10, Beschluss

Art 103 Abs 1 GG, Art 104 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 63 StGB, § 33a StPO, § 454a Abs 2 S 1 StPO, § 463 Abs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 14.12.2011, Az. 2 BvR 68/11 (REWIS RS 2011, 496)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 496

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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