Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 23.09.2020, Az. 1 BvR 1617/20

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2020, 3019

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

RECHTLICHES GEHÖR WAFFENGLEICHHEIT

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Zum Erfordernis eines besonderen Interesses an der nachträglichen Feststellung eines Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit im äußerungsrechtlichen eV-Verfahren


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde und der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wenden sich gegen eine ohne Anhörung der Beschwerdeführerin erlassene einstweilige Verfügung des [X.] Hamburg.

2

1. Die angegriffene Verfügung untersagt der Beschwerdeführerin Äußerungen, die sie in der von ihr herausgegebenen Tageszeitung über eine angebliche frühere Mitgliedschaft des Antragstellers des Ausgangsverfahrens, [X.], in dem inzwischen verbotenen, völkisch-rechtsextremen Verein "[X.]" veröffentlicht hatte. Bereits vor Erlass der einstweiligen Verfügung hatte die Beschwerdeführerin den Bericht online berichtigt und auch in Print richtiggestellt. Die Rede war in der neuen Fassung nun nicht mehr von einem "Mitgliedsantrag", sondern von einer Mitgliedsliste, die dem [X.] vorliege und auf der auch der Name des Antragstellers des Ausgangsverfahrens geführt werde. Dennoch erließ das [X.] - ohne Einbeziehung der Beschwerdeführerin - die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene einstweilige Verfügung und untersagte den Bericht in seiner Ursprungsfassung.

3

2. Die [X.] des [X.] des [X.] hat mit Entscheidung vom 16. Juli 2020 den Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mangels Darlegung eines schwerwiegenden, grundrechtlich erheblichen Nachteils im Sinne des § 32 [X.] abgelehnt. Die Beschwerdeführerin habe nicht vorgetragen, die ihr untersagte Äußerung weiter verbreiten zu wollen, sondern habe sich gegenüber dem titulierten Unterlassungsanspruch gerade auf eine mangelnde Wiederholungsgefahr berufen. Es fehle somit an einem materiellen Eingriff in die [X.].

4

3. Mit Schriftsatz vom 29. Juli 2020 hat die Beschwerdeführerin hierauf Gegenvorstellung erhoben, ihren Eilantrag erneuert und ihre Verfassungsbeschwerde ergänzt. Sie sei durch die auf Grundlage eines prozessrechtswidrigen Verfahrens erlassene Verfügung des [X.] weiterhin beschwert. Dies gelte sowohl hinsichtlich der Kostenfolge als auch hinsichtlich ihrer [X.]. Die Beschwerdeführerin stehe infolge der Unterlassungsverfügung nämlich vor der Frage, wie sie ihre Berichterstattung in diesem konkreten Fall und in Zukunft gestalten solle.

5

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig ist und jedenfalls Annahmegründe im Sinne des § 93a Abs. 2 [X.] nicht gegeben sind. Ein besonderes Interesse an einer nachträglichen Feststellung eines Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit ist nicht ausreichend dargelegt oder ersichtlich.

6

1. a) Ausweislich der für das Verfahren maßstäblichen Entscheidung der Kammer vom 30. September 2018 (1 BvR 1783/17, Rn. 11) setzt eine nachträgliche Feststellung eines Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren grundsätzlich ein besonderes Feststellungsinteresse voraus (vgl. auch [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 9 f.). Die bloße Geltendmachung eines - auch gravierenden - error in procedendo reicht hierfür nicht aus (vgl. [X.]E 138, 64 <87 Rn. 71> m.w.N. - zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Anzunehmen ist ein Feststellungsinteresse insbesondere dann, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu befürchten ist (vgl. [X.]E 91, 125 <133>), also eine hinreichend konkrete Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten rechtlichen und tatsächlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergehen würde. Dafür bedarf es nach der Klärung der Rechtslage durch den stattgebenden [X.] vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 - näherer Darlegungen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 8. Oktober 2019 - 1 BvR 1078/19 u.a. -, Rn. 3). Ein auf eine Wiederholungsgefahr gestütztes Feststellungsinteresse setzt insoweit voraus, dass die Zivilgerichte die aus dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit folgenden Anforderungen grundsätzlich verkennen und ihre Praxis hieran unter Missachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe erkennbar nicht ausrichten (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 27. Juli 2020 - 1 BvR 1379/20 -, Rn. 10).

7

b) Die Darlegung eines solchen besonderen Feststellungsinteresses kann nur ausnahmsweise entbehrlich sein, solange eine offenkundig prozessrechtswidrig erlassene einstweilige Verfügung noch fortwirkt, das darauf bezogene fachgerichtliche Widerspruchsverfahren zügig beschritten wurde und noch andauert sowie schwere, grundrechtlich erhebliche Nachteile des Beschwerdeführers im Sinne von § 32 Abs. 1, § 90 Abs. 2 Satz 2 [X.] geltend gemacht werden, die ein Einschreiten des [X.] noch während des laufenden fachgerichtlichen Verfahrens gebieten (vgl. zu solchen Konstellationen [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 12 f.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 9-12).

8

2. Nach diesen Maßstäben mangelt es der Verfassungsbeschwerde an einem ausreichenden Feststellungsinteresse beziehungsweise an [X.] im Sinne des § 93a Abs. 1 [X.].

9

a) Bereits aus dem Beschluss der Kammer vom 16. Juli 2020 ergibt sich, dass die besonderen Voraussetzungen für ein verfassungsgerichtliches Einschreiten im Wege des § 32 Abs. 1 [X.] vorliegend nicht gegeben sind. Auch der nachgereichte Schriftsatz legt lediglich eine gewöhnliche Beschwer der Beschwerdeführerin durch den formellen [X.] und die Kostenlast dar, nicht aber einen schwerwiegenden Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 [X.]. Auch zur Erfüllung der übrigen prozessualen Anforderungen, die in besonderen Fällen ein Einschreiten nach § 32 Abs. 1 [X.] in Fällen einer Verletzung der Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren rechtfertigen können, ist nichts vorgetragen.

b) Ein besonderes Interesse an einer nachträglichen Feststellung einer Verletzung der prozessualen Waffengleichheit ist nicht hinreichend dargelegt.

aa) Die Beschwerdeführerin beruft sich in erster Linie auf die beiden zitierten Entscheidungen der Kammer aus den Verfahren 1 BvR 1246/20 und 1 BvR 1380/20, in denen eine solche Darlegung im Rahmen der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht gefordert wurde. Diese Bezugnahme geht allerdings fehl, weil ein Verzicht auf diese Anforderung der dortigen Verfahrenskonstellation geschuldet war. Dort bestanden jeweils die Wirkungen der Verletzung der prozessualen Waffengleichheit fort, war ein Widerspruch eingelegt und begründet worden und konnte außerdem ein schwerwiegender Nachteil im Sinne des § 32 [X.] geltend gemacht werden. All dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Verzicht auf das Erfordernis der Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses war gerade dieser Verfahrenskonstellation und der spezifischen verfassungsgerichtlichen Rechtschutzform (§ 32 [X.]) geschuldet. Denn die substantiierte Darlegung und verfassungsgerichtliche Prüfung eines solchen besonderen Feststellungsinteresses dürfte in aller Regel im Eilverfahren nicht mit Aussicht auf Erfolg möglich sein. Handelt es sich hingegen nicht mehr um eine besonders dringliche Sache, sondern geht es darum, abschließend zu prüfen, ob in dem Verfahren die prozessuale Waffengleichheit verletzt wurde, sind besondere Anforderungen an das Interesse an einer nachträglichen Feststellung zu stellen, die auch sonst in Fällen einer nachträglichen Feststellung von Verfahrensverstößen gefordert werden. Denn dem [X.] obliegt nicht die Aufgabe eines rückblickenden Nachvollzugs des ordnungsgemäßen Ablaufs des fachgerichtlichen Verfahrens um seiner selbst willen.

bb) Diesen somit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren anzulegenden Darlegungsanforderungen genügt der Beschwerdevortrag offensichtlich nicht. Die Beschwerdeführerin behauptet lediglich pauschal und ohne nähere Erläuterungen, dass das [X.] die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die im Verfahren 1 BvR 1783/17 formuliert wurden, grundsätzlich verkenne und nicht gewillt sei, diese umzusetzen. Zur Plausibilisierung verweist sie allein auf den vorliegenden Fall und die dort nach ihrer Ansicht gegebene schwere Missachtung ihrer prozessualen Waffengleichheit. Dies genügt nicht, um ein besonderes Feststellungsinteresse zu begründen.

Zwar beruft sich die Beschwerdeführerin hinsichtlich einer Wiederholungsgefahr auf die Möglichkeit, in Zukunft in anderen presserechtlichen Auseinandersetzungen erneut mit einstweiligen Verfügungen des [X.] Hamburg rechnen zu müssen. Ihr Vortrag ist insofern jedoch gänzlich allgemein gehalten, sodass sich eine konkrete Wiederholungsgefahr daraus nicht ergibt. Insbesondere enthält die Verfassungsbeschwerde keinen Vortrag, der [X.] könnte, dass der Beschwerdeführerin im Fall zukünftiger einstweiliger Verfügungsverfahren vor dem [X.] erneut entsprechende Verletzungen ihrer prozessualen Waffengleichheit drohen würden. Für eine grundlegende und systematische Missachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen durch das [X.] werden somit keine Anhaltspunkte genannt.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1617/20

23.09.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Hamburg, 22. Juni 2020, Az: 324 O 224/20, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 935 ZPO, § 937 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 23.09.2020, Az. 1 BvR 1617/20 (REWIS RS 2020, 3019)

Papier­fundstellen: GRUR 2021, 517 REWIS RS 2020, 3019

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvR 1740/23 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen einstweilige Verfügung in lauterkeitsrechtlichem Verfahren ohne vorherige Anhörung der Verfügungsbeklagten - …


1 BvR 2708/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit durch Erlass einer einstweiligen Verfügung in einer …


1 BvR 375/21 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Verfassungsbeschwerde wegen unterbliebener Anhörung im wettbewerbsrechtlichen eV-Verfahren erfolglos - Unzulässigkeit mangels Feststellungsinteresses bzw mangels …


1 BvR 1728/23 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Zu den Voraussetzungen, unter denen im lauterkeitsrechtlichen eV-Verfahren eine Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise unmittelbar gegen die …


1 BvR 812/22 (Bundesverfassungsgericht)

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Verletzung des Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit (Art 3 Abs 1 GG …


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.