Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.06.2021, Az. XII ZB 554/20

12. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 4954

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Gegenstand

Betreuungssache: Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde eines in erster Instanz am Verfahren beteiligten nahen Angehörigen des Betroffenen gegen einen in der Beschwerdeinstanz abgeänderten Betreuungsbeschluss; Erforderlichkeit einer Betreuung bei Vorliegen einer Vorsorgevollmacht


Leitsatz

1. Ein in § 303 Abs. 2 Nr. 1 FamFG genannter naher Angehöriger des Betroffenen kann - sofern er in erster Instanz am Verfahren beteiligt war - gegen einen in der Beschwerdeinstanz abgeänderten Betreuungsbeschluss im Interesse des Betroffenen eine Rechtsbeschwerde im eigenen Namen führen, ohne dass er eine Erstbeschwerde eingelegt hatte und durch die Beschwerdeentscheidung formell beschwert ist (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 91/20, FamRZ 2021, 228).

2. Zur Erforderlichkeit einer Betreuung bei Vorliegen einer Vorsorgevollmacht.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der weiteren Beteiligten zu 4 wird der Beschluss der 7. Zivilkammer des [X.] vom 20. Oktober 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

[X.]: 5.000 €

Gründe

I.

1

Die Betroffene, die an einer Demenzerkrankung leidet, erteilte am 16. April 2020 dem Beteiligten zu 3, einem ihrer Kinder, eine Vorsorgevollmacht.

2

Mit Schreiben vom 26. April 2020 hat der Beteiligte zu 3 beim Amtsgericht angeregt, dass er selbst und seine Ehefrau zu Betreuern der Betroffenen bestellt werden.

3

Das Amtsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffenen den Beteiligten zu 5 zum Berufsbetreuer bestellt und ihm den Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Vermögenssorge, Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post, Vertretung gegenüber der Einrichtung sowie Aufenthaltsbestimmung übertragen.

4

Auf die Beschwerden des Beteiligten zu 3 und zweier weiterer Kinder der Betroffenen, der Beteiligten zu 1 und des Beteiligten zu 2, hat das [X.] die amtsgerichtliche Entscheidung ersatzlos aufgehoben.

5

Hiergegen wendet sich die Beteiligte zu 4, die Tochter der Betroffenen, mit der Rechtsbeschwerde.

II.

6

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

7

1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Beschwerdebefugnis der Beteiligten zu 4 folgt für das Verfahren der Rechtsbeschwerde aus der entsprechenden Anwendung von § 303 Abs. 2 Nr. 1 FamFG. Nach der Rechtsprechung des Senats können die in dieser Vorschrift genannten nahen Angehörigen des Betroffenen, sofern sie in erster Instanz beteiligt waren, gegen einen - wie hier - in der Beschwerdeinstanz abgeänderten [X.] im Interesse des Betroffenen eine Rechtsbeschwerde im eigenen Namen führen, ohne dass sie eine Erstbeschwerde eingelegt hatten und durch die Beschwerdeentscheidung formell beschwert sind (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - [X.]/20 - FamRZ 2021, 228 Rn. 16 f. mwN).

8

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

9

a) Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung Folgendes ausgeführt:

Von einer Wirksamkeit der Vorsorgevollmacht vom 16. April 2020 sei auszugehen.

Grundsätzlich stehe die Diagnose einer fortschreitenden Demenz der Wirksamkeit einer früher erteilten Vorsorgevollmacht nicht entgegen, solange nicht die Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen bereits zum Zeitpunkt der Vollmachterteilung hinreichend sicher feststehe. Zweifel an der Geschäftsfähigkeit zum Zeitpunkt einer Vollmachterteilung beeinträchtigten die Eignung der Vollmacht als Alternative zur Betreuung nur dann, wenn sie konkrete Schwierigkeiten des Bevollmächtigten im Rechtsverkehr erwarten ließen.

Vorliegend habe die Betroffene dem Beteiligten zu 3 am 16. April 2020 eine umfassende Vorsorgevollmacht erteilt, die grundsätzlich nach Inhalt und Reichweite zur Vermeidung einer Betreuung im Sinne von § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB geeignet sei. [X.] Bedenken gegen die Wirksamkeit dieser Vollmacht im Hinblick auf § 104 Nr. 2 BGB bestünden nicht, weil die Geschäftsunfähigkeit der Betroffenen bereits zum Zeitpunkt der Vollmachterteilung nicht hinreichend sicher feststehe. Der gerichtlich bestellte Sachverständige habe in seinem Gutachten vom 27. Juli 2020 zwar ausgeführt, bei der Betroffenen läge eine hochgradige Gedächtnisstörung im Sinne einer fortgeschrittenen Demenz vor, die auch bereits am 16. April 2020 vorgelegen habe. Es lägen hinreichend gesicherte Unterlagen vor, dass eine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit bei der Betroffenen Mitte April 2020 nicht mehr bestanden habe.

Diese Einschätzung stehe indes im Widerspruch zum Inhalt des vorläufigen Entlassungsberichts des Krankenhauses vom 11. April 2020, wo sich die Betroffene vom 24. März 2020 bis zum 11. April 2020 in Behandlung befunden habe. Darin werde ausgeführt, ein psychiatrisches Konsil habe den Verdacht auf eine Demenz mit wechselnder Orientierung ergeben. Zum Zeitpunkt des [X.] habe sich die Patientin zu Ort und Person vollständig orientiert gezeigt. Lediglich die Orientierung zur Zeit sei nur grob vorhanden gewesen. Daher sei die Betroffene vom beurteilenden Psychiater für einwilligungsfähig befunden worden. Im Hinblick auf diesen Bericht bestünden erhebliche Zweifel, dass sich der kognitive Zustand der Betroffenen im Zeitraum zwischen der Entlassung aus dem Krankenhaus am 11. April 2020 und der Vollmachterteilung am 16. April 2020 soweit verschlechtert habe, dass eine Geschäftsunfähigkeit der Betroffenen hinreichend sicher feststehe. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der am 8. April 2020 beim [X.] eingegangenen Betreuungsanregung. Dort sei lediglich von einer Demenz bei der Betroffenen die Rede. Dies lasse für sich genommen jedoch keinen Rückschluss auf den konkreten Gesundheitszustand der Betroffenen zu.

Die verbleibenden Zweifel an der Geschäftsfähigkeit der Betroffenen zum Zeitpunkt der Vollmachterteilung beeinträchtigten die Eignung der Vollmacht als Alternative zur Betreuung nicht, da nicht erkennbar sei, dass sie konkrete Schwierigkeiten des Bevollmächtigten im Rechtsverkehr erwarten ließen.

b) Dies hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

aa) Nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden, soweit die Betreuerbestellung erforderlich ist. An der Erforderlichkeit fehlt es, soweit die Angelegenheiten des Betroffenen durch einen Bevollmächtigten ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können (§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB). Eine Vorsorgevollmacht steht daher der Bestellung eines Betreuers grundsätzlich entgegen. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Erteilung der Vollmacht unwirksam war, weil der Betroffene zu diesem Zeitpunkt geschäftsunfähig [X.]. § 104 Nr. 2 BGB war, steht die erteilte Vollmacht einer Betreuerbestellung nur dann nicht entgegen, wenn die Unwirksamkeit der Vorsorgevollmacht positiv festgestellt werden kann (vgl. Senatsbeschlüsse vom 29. Juli 2020 - [X.] 106/20 - FamRZ 2020, 1766 Rn. 13 mwN).

Die Frage, ob der Betroffene im Zeitpunkt der Vollmachterteilung nach § 104 Nr. 2 BGB geschäftsunfähig war, hat das Gericht nach § 26 FamFG von Amts wegen aufzuklären. Dabei entscheidet grundsätzlich der Tatrichter über Art und Umfang seiner Ermittlungen nach pflichtgemäßem Ermessen (Senatsbeschluss vom 2. August 2017 - [X.] 502/16 - FamRZ 2017, 1777 Rn. 9 mwN). Insoweit bedarf es deshalb nicht zwingend einer förmlichen Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 280 Abs. 1 FamFG. Bedient sich der Tatrichter jedoch sachverständiger Hilfe, obliegt ihm die Aufgabe, das Gutachten sorgfältig und kritisch zu überprüfen. Dies berechtigt ihn allerdings nicht, die sachverständigen Äußerungen ohne ausreichende Begründung beiseite zu schieben. Vielmehr muss das Gericht, wenn es einem Gutachten nicht folgen will, seine abweichende Überzeugung begründen. Die Begründung muss erkennen lassen, dass die Beurteilung nicht von einem Mangel an Sachkunde beeinflusst ist. Sie ist im Rechtsbeschwerdeverfahren darauf zu überprüfen, ob das Gericht sich mit der Aussage des Gutachters hinreichend auseinandergesetzt und seine dazu erforderliche Sachkunde ausreichend dargetan hat. Weil der Sachverständige gerade zu dem Zweck hinzugezogen wird, dem Gericht die ihm auf dem medizinischen Spezialgebiet fehlenden Kenntnisse zu vermitteln, muss das Gericht sorgfältig prüfen, ob es seine Zweifel an dem Gutachten ohne weitere sachkundige Hilfe zur Grundlage seiner Entscheidung machen kann, etwa weil es bereits durch die ihm vom Sachverständigen vermittelte sachliche Information dazu befähigt worden ist. Fehlt es hieran und verschließt sich das Gericht der Notwendigkeit, zur Klärung seiner Bedenken den Sachverständigen zu einer Ergänzung oder mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu veranlassen oder einen weiteren Sachverständigen zu beauftragen, so bewegt es sich bei seiner Überzeugungsbildung außerhalb des der tatrichterlichen Beweiswürdigung eingeräumten Bereichs (Senatsbeschluss vom 29. Juli 2020 - [X.] 106/20 - FamRZ 2020, 1766 Rn. 14 mwN).

bb) Gegen diese Grundsätze hat das [X.] verstoßen. Die in seinem Beschluss niedergelegten Erwägungen bieten - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - keine ausreichende Grundlage, um ohne weitere Ermittlungen von dem eingeholten Sachverständigengutachten abweichen zu können.

Das [X.] hat seine Zweifel an der von dem Sachverständigen vertretenen Auffassung, die Betroffene sei bei der Errichtung der Vorsorgevollmacht geschäftsunfähig gewesen, im Wesentlichen mit dem Inhalt des vorläufigen Entlassungsberichts des Krankenhauses vom 11. April 2020 begründet, in dem sich die Betroffene vom 24. März 2020 bis zum 11. April 2020 in Behandlung befunden hat. Darin wird zwar ausgeführt, dass sich die Betroffene zum Zeitpunkt eines vor ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus durchgeführten psychiatrisches [X.] zu Ort und Person vollständig orientiert gezeigt habe und sie vom beurteilenden Psychiater für einwilligungsfähig befunden worden sei. Die für die Entscheidung im vorliegenden Fall maßgebliche Frage der Geschäftsfähigkeit der Betroffenen war jedoch nicht Gegenstand des psychiatrischen [X.]. Dort ging es allein um die Frage, ob die Betroffene in Bezug auf die Entlassung aus der Klinik als „einwilligungsfähig“ anzusehen ist und daher ihr Wunsch, wieder in ihr gewohntes häusliches Umfeld zurückkehren zu wollen, Berücksichtigung finden kann. Dass die Betroffene von einem an dem Konsil beteiligten Psychiater trotz ihrer Demenzerkrankung dabei für einwilligungsfähig gehalten worden ist, lässt ohne eine weitere sachverständige Beratung auch keinen Rückschluss auf die Geschäftsfähigkeit der Betroffenen zu diesem Zeitpunkt zu. Denn die Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte selbst vollwirksam vornehmen zu können ([X.]/[X.] [Stand: 1. Mai 2021] § 104 BGB Rn. 7). Die Einwilligungsfähigkeit beschreibt hingegen die Fähigkeit eines Betroffenen, Art, Bedeutung, Tragweite und Risiken einer medizinischen Maßnahme jedenfalls in groben Zügen zu erfassen und seinen Willen hiernach auszurichten. Wegen ihres persönlichen Charakters kommt es für die Einwilligung nicht auf die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen im Sinne des § 104 BGB an, sondern nur auf dessen natürliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit (vgl. [X.]/[X.] 8. Aufl. § 1904 Rn. 16). Deshalb kann auch bei einer geschäftsunfähigen Person die Einwilligungsfähigkeit gegeben sein (vgl. [X.]/[X.] [Stand: 1. Mai 2021] § 1904 BGB Rn. 35). Zudem hat das [X.] völlig unberücksichtigt gelassen, dass dem Sachverständigen bei der Erstellung seines Gutachtens der vorläufige Entlassungsbericht vom 11. April 2020 vorgelegen hat und er trotzdem zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Betroffene aufgrund ihrer Demenzerkrankung zum Zeitpunkt der Vollmachterteilung geschäftsunfähig war.

Unter diesen Umständen wäre das [X.] gehalten gewesen, zur Klärung seiner Bedenken weitere Ermittlungen durchzuführen (§ 26 FamFG), etwa den Sachverständigen zu einer Ergänzung oder einer mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu veranlassen oder den an dem psychiatrischen Konsil beteiligten Psychiater als Zeugen zu vernehmen.

3. Die Beschwerdeentscheidung ist daher aufzuheben und die Sache ist an das [X.] zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 5, Abs. 6 Satz 2 FamFG).

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Dose     

      

[X.]     

      

Günter

      

Botur     

      

Krüger     

      

Meta

XII ZB 554/20

16.06.2021

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Aurich, 20. Oktober 2020, Az: 7 T 263/20

§ 104 Nr 2 BGB, § 1896 Abs 2 BGB, § 26 FamFG, § 303 Abs 2 Nr 1 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.06.2021, Az. XII ZB 554/20 (REWIS RS 2021, 4954)

Papier­fundstellen: MDR 2021, 1024 REWIS RS 2021, 4954

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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