Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17.11.2016, Az. 2 C 17/16

2. Senat | REWIS RS 2016, 2219

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Dienstunfall im Toilettenraum des Dienstgebäudes


Leitsatz

Der Dienstunfallschutz umfasst grundsätzlich auch den Aufenthalt des Beamten in einem Toilettenraum des Dienstgebäudes.

Tatbestand

1

Die Klägerin beansprucht die Anerkennung eines schädigenden Ereignisses als Dienstunfall.

2

Die Klägerin steht als Stadtamtfrau im Dienst des [X.]. Anfang August 2013 suchte sie während ihrer Dienstzeit die im Dienstgebäude gelegene Toilette auf. Dabei stieß sie mit dem Kopf gegen einen Flügel eines weit geöffneten Fensters im Toilettenraum. Sie erlitt eine blutende Platzwunde sowie eine Prellung am Schädeldach. Eine Woche nach dem Unfall zeigte sie dieses Ereignis als Dienstunfall bei ihrer Dienststelle an.

3

Der Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Dienstunfall ab. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit der Begründung zurück, bei einem Toilettengang handele es sich um eine rein private Angelegenheit, die in keinem Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit stehe. Nach der auf das Beamtenversorgungsrecht zu übertragenden sozialgerichtlichen Rechtsprechung sei nur der Weg von und zur Toilette vom Unfallschutz erfasst, nicht aber die dortige Verrichtung der Notdurft.

4

Das Verwaltungsgericht hat den [X.] unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, das auf der Toilettenanlage des [X.] stattgefundene Ereignis als Dienstunfall mit der Dienstunfallfolge "Platzwunde und Prellung am Schädeldach" anzuerkennen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

5

Bei Unfällen, die sich während der Dienstzeit innerhalb des vom Dienstherrn beherrschbaren räumlichen [X.] ereignen, stehe der Beamte unter dem besonderen Schutz der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge, unabhängig davon, ob die Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignet habe, dienstlich geprägt sei. Die Ausnahme, dass diese Tätigkeit vom Dienstherrn verboten sei oder dessen wohlverstandenen Interessen zuwiderlaufe, liege hier nicht vor.

6

Hiergegen richtet sich die vom Verwaltungsgericht zugelassene Sprungrevision des [X.].

7

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des [X.] vom 4. Mai 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,

die Sprungrevision des [X.] zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die Sprungrevision des [X.]eklagten ist unbegründet. Das Urteil des [X.] verletzt kein revisibles Landesbeamtenrecht (§ 191 Abs. 2 VwGO, § 127 Nr. 2 [X.]R[X.] und § 63 Abs. 3 Satz 2 [X.]eamtStG).

Die Verpflichtungsklage ist zulässig. Unerheblich ist, dass die Klage nicht innerhalb der Monatsfrist des § 74 VwGO erhoben worden ist, weil hier nach § 58 Abs. 2 VwGO die Jahresfrist maßgeblich ist. Denn in der Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids fehlt der Hinweis auf die bei der Klageerhebung einzuhaltende Monatsfrist.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung des schädigenden Ereignisses als Dienstunfall.

1. Ob ein Ereignis als Dienstunfall anzuerkennen ist, beurteilt sich nach dem Recht, das in dem Zeitpunkt galt, in dem sich der Unfall ereignete (stRspr, vgl. [X.]VerwG, Urteil vom 24. Oktober 1963 - 2 C 10.62 - [X.]VerwGE 17, 59 <60>). Dementsprechend ist hier das Gesetz über die Versorgung der [X.]eamtinnen und [X.]eamten sowie der [X.]innen und [X.] des [X.] vom 21. Juni 2011 (GV[X.]l. S. 266 <282> - L[X.] [X.]E -) maßgeblich.

Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 L[X.] [X.]E ist ein Dienstunfall ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich [X.], einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist.

Das gesetzliche Merkmal "in Ausübung des Dienstes" verlangt eine besonders enge ursächliche Verknüpfung des Ereignisses mit dem Dienst ([X.]VerwG, Urteile vom 24. Oktober 1963 - 2 C 10.62 - [X.]VerwGE 17, 59 <63>, vom 18. April 2002 - 2 C 22.01 - [X.] 239.1 § 31 [X.] Nr. 12 S. 3, vom 15. November 2007 - 2 C 24.06 - [X.] 239.1 § 31 [X.] Nr. 18 Rn. 11 und vom 25. Februar 2010 - 2 C 81.08 - [X.] 239.1 § 31 [X.] Nr. 23 Rn. 17). Maßgebend hierfür ist der Sinn und Zweck der beamtenrechtlichen [X.]. Dieser liegt in einem über die allgemeine Fürsorge hinausgehenden besonderen Schutz des [X.]eamten bei Unfällen, die außerhalb seiner privaten (eigenwirtschaftlichen) Sphäre im [X.]ereich der in der dienstlichen Sphäre liegenden Risiken eintreten, also in dem Gefahrenbereich, in dem der [X.]eamte entscheidend aufgrund der Anforderungen des Dienstes tätig wird ([X.]VerwG, Urteil vom 29. August 2013 - 2 C 1.12 - [X.] 239.1 § 31 [X.] Nr. 25 Rn. 10 f.). Dies gilt grundsätzlich auch für den Aufenthalt in einem Toilettenraum des Dienstgebäudes.

Ausgehend vom Zweck der gesetzlichen Regelung und dem Kriterium der [X.]eherrschbarkeit des Risikos der Geschehnisse durch den Dienstherrn kommt dem konkreten Dienstort des [X.]eamten eine herausgehobene Rolle zu. Der [X.]eamte steht bei Unfällen, die sich innerhalb des vom Dienstherrn beherrschbaren räumlichen [X.] ereignen, unter dem besonderen Schutz der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge. Zu diesem [X.]ereich zählt der Dienstort, an dem der [X.]eamte seine Dienstleistung erbringen muss, wenn dieser Ort zum räumlichen Machtbereich des Dienstherrn gehört. Risiken, die sich hier während der Dienstzeit verwirklichen, sind dem Dienstherrn zuzurechnen, unabhängig davon, ob die Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignet hat, dienstlich geprägt ist. Eine Ausnahme gilt nur für den Fall, dass diese Tätigkeit vom Dienstherrn verboten ist oder dessen wohlverstandenen Interessen zuwiderläuft ([X.]VerwG, Urteile vom 15. November 2007 - 2 C 24.06 - [X.] 239.1 § 31 [X.] Nr. 18 Rn. 13, vom 22. Januar 2009 - 2 A 3.08 - [X.] 239.1 § 31 [X.] Nr. 21 Rn. 14 und vom 29. August 2013 - 2 C 1.12 - [X.] 239.1 § 31 [X.] Nr. 25 Rn. 11; [X.]eschluss vom 26. Februar 2008 - 2 [X.] 135.07 - [X.] 239.1 § 31 [X.] Nr. 20 Rn. 7).

An diesen Grundsätzen zum Dienstunfallschutz hält der Senat fest, weil sie die Sphären des [X.]eamten und des Dienstherrn nach praktikablen Kriterien abgrenzen. Die Grundsätze tragen dem Umstand Rechnung, dass auch bei der Dienstausübung regelmäßig dienstliche und private Aspekte nicht streng voneinander zu trennen sind und es nur darum gehen kann, wann und unter welchen Voraussetzungen die auch bei der Ausübung des Dienstes naturgegebene "Gemengelage" eindeutig dem privaten [X.]ereich des [X.]eamten zuzurechnen ist. Der [X.]eamte ist kein "Dienstausübungsautomat", sondern er bleibt auch im Dienst und auch bei der Ausübung des Dienstes ein Mensch mit seinen persönlichen [X.]edürfnissen, Gedanken und Empfindungen. Sein Verhalten schwankt - auch im Rechtssinne - nicht von Minute zu Minute zwischen Dienstausübung und außerdienstlichem Verhalten hin und her. Eine einengende, wörtliche Interpretation, die darauf abstellte, ob der [X.]eamte gerade im Augenblick der Einwirkung des Ereignisses auf seinen Körper mit einer spezifisch dienstlichen Verrichtung befasst war, ginge deshalb an der Lebenswirklichkeit vorbei und risse Vorgänge, die bei lebensnaher [X.]etrachtung nur als Gesamtverhalten gewertet werden können, auseinander. Zudem stellte diese Ansicht an den Nachweis des Vorliegens eines Dienstunfalls Anforderungen, die sowohl den Dienstherrn als auch den [X.]eamten überfordern könnten ([X.]VerwG, Urteil vom 24. Oktober 1963 - 2 C 10.62 - [X.]VerwGE 17, 59 <63 f.>).

Der Rechtsprechung der Sozialgerichte zur Auslegung von § 8 SG[X.] VII ist für den [X.]ereich des Dienstunfallschutzes nicht zu folgen. Diese sozialgerichtliche Rechtsprechung beruht auf einer anderen gesetzlichen Regelung. § 8 Abs. 1 Satz 1 SG[X.] VII definiert Arbeitsunfälle als Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SG[X.] VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Für die Feststellung eines Arbeitsunfalls im Sinn von § 8 Abs. 1 SG[X.] VII kommt es nach der Rechtsprechung des [X.]undessozialgerichts auf den inneren (sachlichen) Zusammenhang zwischen der konkreten Verrichtung zum Zeitpunkt des Unfalls und der versicherten Tätigkeit an. Dieser Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht ([X.]SG, Urteile vom 30. April 1985 - 2 [X.] 24/84 - [X.]SGE 58, 76 <77>, vom 4. Juni 2002 - [X.] 2 U 11/01 R - NJW 2002, 3275 <3276>, juris Rn. 12 und vom 10. Oktober 2006 - [X.] 2 U 20/05 - USK 2006-140 Rn. 14).

In Abgrenzung hierzu setzt § 31 Abs. 1 Satz 1 L[X.] [X.]E für ein Unfallereignis an dem vom Dienstherrn vorgegebenen Dienstort nur voraus, dass es "in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist". [X.]eamtenrechtliche Unfallfürsorge knüpft damit grundsätzlich abstrakt an die Dienstausübung im räumlichen Machtbereich des Dienstherrn an, während sozialversicherungsrechtlicher Unfallschutz einen inneren Zusammenhang zwischen der konkreten Verrichtung zum Unfallzeitpunkt und der versicherten Tätigkeit erfordert.

Anlass für die Einleitung eines Vorlegungsverfahrens an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des [X.]undes gemäß §§ 11 ff. [X.] besteht nicht. Zwischen der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge und dem Unfallversicherungsschutz von [X.]eschäftigten bestehen trotz gewisser Gemeinsamkeiten in der Ausgestaltung erhebliche strukturelle Unterschiede (vgl. auch [X.]SG, Urteil vom 18. November 2008 - 2 U 31/07 R - USK 2008-97 Rn. 13). Unterschiedlich sind im Einzelnen die [X.]estimmung der Dienst- oder Arbeitszeit, das Verfahren zur Festlegung der übrigen Dienst- oder Arbeitsbedingungen sowie die Folgen bei einem Verstoß gegen die Dienst- oder Arbeitspflichten.

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen und den tatsächlichen Feststellungen des [X.] handelt es sich bei dem schädigenden Ereignis vom 7. August 2013 um einen Dienstunfall im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 1 L[X.] [X.]E.

Der Unfall ereignete sich während der Dienstzeit in dem Gebäude, in dem die Klägerin ihren Dienst zu verrichten hatte. Anhaltspunkte für die dargelegte Ausnahme vom Dienstunfallschutz liegen nicht vor. Unerheblich ist auch, dass sich die Klägerin den Kopf am Fenster gestoßen hat und das schädigende Ereignis damit seine Ursache in der eigenen [X.]ewegung der Klägerin hat ([X.]VerwG, Urteil vom 24. Oktober 1963 - 2 C 10.62 - [X.]VerwGE 17, 59 <61> unter Hinweis auf [X.], Urteil vom 23. Oktober 1903 - [X.] - [X.]Z 55, 408 <410> und vom 29. Mai 1908 - [X.]/07 - [X.]Z 69, 17 <19> zur privaten Unfallversicherung).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Meta

2 C 17/16

17.11.2016

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend VG Berlin, 4. Mai 2016, Az: 26 K 54.14, Urteil

§ 31 Abs 1 BeamtVG BE, § 8 SGB 7

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17.11.2016, Az. 2 C 17/16 (REWIS RS 2016, 2219)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 2219

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 C 3/22 (Bundesverwaltungsgericht)

Dienstunfallschutz bei Verletzung eines Beamten durch einen körperlichen Angriff eines Kollegen nach scherzhafter oder provozierender …


2 C 1/12 (Bundesverwaltungsgericht)

Grippeschutzimpfung; Dienstunfall; dienstliche Veranstaltung


2 C 81/08 (Bundesverwaltungsgericht)

Zeckenbiss als Dienstunfall


2 C 7/12 (Bundesverwaltungsgericht)

Dienstunfall während einer Dienstreise; unmittelbarer Weg; Unterbrechung


RO 12 K 19.2080 (VG Regensburg)

Schadenersatzanspruch aus Verkehrsunfall


Referenzen
Wird zitiert von

AN 11 K 16.01111

RO 12 K 19.2080

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.