Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 19.10.2016, Az. 2 BvR 1943/16

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2016, 3727

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Ausweisung eines straffälligen "faktischen Inländers" in die Türkei - Verletzung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art 2 Abs 1 GG) bei unzureichender Verhältnismäßigkeitsprüfung - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 9. September 2016 - 19 CS 16.1194 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an den [X.] zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Der [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 € (in Worten: zehntausend [X.]) und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 € (in Worten: fünftausend [X.]) festgesetzt.

Gründe

1

1. Der am 1. Januar 1989 geborene Beschwerdeführer ist [X.] Staatsangehöriger. Er lebte zunächst in der [X.]. Im Alter von drei Jahren zog er zu seinem Vater und dessen neuer Ehefrau in die [X.]. Nach der Scheidung von Vater und Stiefmutter lebte er mit der Stiefmutter und deren zwei Kindern in [X.]. Er besuchte eine Förderschule bis zur neunten Klasse und verließ diese 2004 ohne Schulabschluss. Am 18. Januar 2005 erteilte ihm die Ausländerbehörde eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 [X.]. In der Folge nahm er ohne Erfolg an mehreren Bildungs- und Berufsvorbereitungsmaßnahmen teil. [X.] erlangte er den Hauptschulabschluss.

2

2. Er wurde mehrfach strafgerichtlich verurteilt: Am 9. März 2006 wurde er vom Amtsgericht wegen Diebstahls in zwei Fällen zu [X.] verurteilt. Am 11. August 2006 verurteilte ihn das Amtsgericht zu einem Kurzarrest von zwei Tagen und einer Geldauflage, weil er gemeinsam mit einem Freund die Verpackungen von [X.] im Wert von 200 Euro aufgebrochen und diese an sich genommen hatte. Am 18. Juni 2007 wurde er vom Amtsgericht wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung, gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren Fall und Beleidigung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Er befand sich vom 28. Februar 2007 bis zum Tag der Verurteilung in Untersuchungshaft; die ihm auferlegten 250 Arbeitsstunden leistete er ab. Am 2. Oktober 2008 verurteilte ihn das Amtsgericht unter Einbeziehung der Verurteilung vom 18. Juni 2007 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, nachdem er erneut X-Box-Spiele entwendet hatte. Er verbüßte im [X.] einen Teil der Strafe. Mit Urteil vom 25. Juli 2011 wurde er vom Amtsgericht wegen des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt.

3

Am 7. Mai 2012 verurteilte ihn das Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 3 Monaten wegen Handeltreibens mit Marihuana in 74 Fällen. Er hatte im Zeitraum von Juli bis Oktober 2011 in seiner Wohnung Marihuana angebaut, dieses in kleinen Mengen an einen Bekannten verkauft und im Übrigen bei sich eingelagert. Die mit Beschluss des Amtsgerichts vom 14. Februar 2013 gewährte Haftentlassung auf Bewährung wurde widerrufen, nachdem er erneut Marihuana konsumiert und nicht ausreichend Kontakt zu seinem Bewährungshelfer gehalten hatte. Er verbüßte seine Haftstrafe ab dem 22. April 2014.

4

3. Die Ausländerbehörde leitete am 8. Januar 2014 ein Ausweisungsverfahren ein. Sein Verfahrensbevollmächtigter teilte unter anderem mit, der Beschwerdeführer beabsichtige, eine Suchtmitteltherapie anzutreten. Mit Bescheid vom 6. Mai 2015 wies die Ausländerbehörde den Beschwerdeführer aus der [X.] aus, ordnete die sofortige Vollziehung an, forderte ihn zur Ausreise bis zum 1. Juni 2015 auf und drohte die Abschiebung an. Er erfülle die zwingenden Ausweisungstatbestände des § 53 Nr. 1 und 2 [X.] Allerdings sei er Assoziationsberechtigter, weshalb eine Ausweisung nur als Ermessensausweisung möglich sei; das [X.] überwiege sein [X.]. Er sei wiederholt und schwer, unter anderem wegen Drogendelikten, straffällig geworden. Auch mehrfache Verurteilungen und Inhaftierungen hätten ihn nicht zu einem straffreien Leben anhalten können. Die Strafaussetzung zur Bewährung sei widerrufen worden. Es bestehe Wiederholungsgefahr. Demgegenüber könne er sich zwar auf den [X.] berufen und sei im Wesentlichen in [X.] aufgewachsen. Er habe sich hier jedoch nie wirtschaftlich integriert, und die von ihm ausgehenden Gefahren für höchste Rechtsgüter rechtfertigten die Schwierigkeiten, die er bei einer Rückkehr in die [X.] hinzunehmen habe. Die sofortige Vollziehung werde angeordnet, da er aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werde und ein langwieriges Gerichtsverfahren nicht abzuwarten sei.

5

4. Der Beschwerdeführer erhob Klage gegen diesen Bescheid und beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Zur Begründung führte er insbesondere aus, dass kein besonderes [X.] gegeben sei. Die Ausländerbehörde habe bei zahlreichen anderen spezialpräventiven Ausweisungen von der Anordnung des [X.] abgesehen. Das Verwaltungsverfahren habe über ein Jahr gedauert, so dass eine besondere Eilbedürftigkeit nicht erkennbar sei. Die Begründung der sofortigen Vollziehung bestehe aus bloßen Worthülsen. Im Übrigen, so machte er mit der Klagebegründung von demselben Tag geltend, sei der Bescheid jedenfalls rechtswidrig.

6

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 18. August 2015 ab. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei nicht zu beanstanden, da die Ausländerbehörde auf die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten abgestellt habe. Die Verfügung erweise sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig. Die Ausländerbehörde habe zutreffend festgestellt, dass der Beschwerdeführer schon seit seinem Jugendalter in sich steigerndem Maße straffällig geworden sei. Auch während laufender Bewährung habe er mehrfach weitere Straftaten begangen und gegen Bewährungsauflagen verstoßen. Die begonnene Drogentherapie habe er noch nicht erfolgreich abgeschlossen; im Übrigen bleibe die statistische Rückfallgefahr auch nach einer solchen hoch. Bei bedrohten Rechtsgütern von hervorgehobener Bedeutung gälten für die Feststellung einer Wiederholungsgefahr geringere Anforderungen. Es sei jedenfalls im Falle wiederholter Straffälligkeit nicht erforderlich gewesen, zur Frage der Wiederholungsgefahr ein Prognosegutachten einzuholen. Es sei dem Beschwerdeführer zumutbar, in die [X.] zurückzukehren, auch wenn er diese als Kleinkind verlassen habe. Auf Art. 6 GG könne er sich nicht berufen, da er erwachsen, unverheiratet und kinderlos sei. Ob die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre rechtmäßig sei, spiele im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO keine Rolle.

7

5. Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluss Beschwerde ein. Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass der Sofortvollzug der Ausweisung nach der Rechtsprechung des [X.] nur bei einem das [X.] übersteigenden [X.] angeordnet werden könne. Hierfür sei eine besondere Prognoseentscheidung zu treffen, die in der Entscheidung des [X.] fehle. Dabei sei zu berücksichtigen gewesen, dass er die letzte abgeurteilte Straftat 2011 begangen habe und die letzte Verurteilung 2012 erfolgt sei. Die Grundinteressen der [X.] seien nicht bedroht. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Handel mit Betäubungsmitteln erneut drohe, bestünden nicht. Der Erfolg der Klage sei offen, da es für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ankomme, im Eilverfahren deshalb eine Prognose über die Sachlage im Zeitpunkt dieser Verhandlung hätte getroffen werden müssen. Das Verwaltungsgericht habe außerdem die Rechtsprechung des [X.] zu der Bedeutung seines langjährigen Aufenthalts in [X.] nicht hinreichend berücksichtigt.

8

Der [X.]hof wies die Beschwerde zurück. Die Entscheidung des [X.] sei sowohl bei ihrem Erlass - gestützt auf § 53 Nr. 1 und 2 [X.] a. F. - als auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach den §§ 53 ff. [X.] n. F. rechtmäßig gewesen. Der Beschwerdeführer habe nach altem Recht zwingende Ausweisungstatbestände verwirklicht, doch habe der assoziationsrechtliche Ausweisungsschutz zu einer Herabstufung als Ermessensausweisung geführt. Der Vortrag, es bestehe keine Wiederholungsgefahr, sei angesichts seiner regelmäßig und sich steigernden Straffälligkeit nicht ausreichend. Die keineswegs jugendtypische Delinquenz belege vielmehr die Wiederholungsgefahr. Da er vielfach auch Eigentumsdelikte, teilweise unter Gewaltanwendung, begangen habe, bestehe weiterhin die Gefahr, dass er in Anbetracht seiner Drogenabhängigkeit solche Taten wiederholen werde. Im Übrigen könne bei einem Drogenabhängigen vom Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht gesprochen werden, solange nicht eine Therapie abgeschlossen worden sei, deren Erfolg durch eine längere Zeit straffreien Verhaltens bestätigt sei. Die Ausweisungsverfügung sei auch bei Zugrundelegung des neuen Rechts rechtmäßig, da dieses die Rechtslage nach der früheren Rechtsprechung im Wesentlichen kodifiziert habe. Auch bei Zugrundelegung seines besonders schwerwiegenden [X.]s gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 [X.] bleibe es aus den zuvor dargestellten Gründen bei einem Überwiegen des [X.]s. Die Anordnung des [X.] sei angesichts der zu bekämpfenden akuten Gefahren erforderlich. Die bei Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile überwögen schließlich das [X.] des Antragstellers bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens.

9

6. Unter dem 14. April 2016 beantragte der Beschwerdeführer bei dem Verwaltungsgericht die Abänderung des Beschlusses gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO. Er habe sich vom 17. Dezember 2015 bis zum 7. April 2016 zur stationären Behandlung seiner Abhängigkeitserkrankung in einem Therapiezentrum befunden und sei regulär entlassen worden. Die Prognose sei nach Angaben der behandelnden Therapeutin aufgrund seiner deutlichen Entscheidung für Abstinenz, seiner hohen Selbstreflexionsfähigkeit sowie der guten kognitiven Fähigkeiten günstig. Laut der vorgelegten Bescheinigung hatte der Beschwerdeführer in der Therapieeinrichtung zunächst Schwierigkeiten mit der Eingewöhnung. Er habe jedoch in der Folge einen guten Kontakt zu den Therapeuten aufgebaut, sich engagiert und habe auch schwierige Situationen, insbesondere Rückfälle anderer Patienten, gut gemeistert.

Die Ausländerbehörde trat dem Antrag entgegen und meinte insbesondere, veränderte relevante Umstände lägen nicht vor. Auch die Vertreterin des öffentlichen Interesses beantragte, den Antrag abzulehnen. Demgegenüber wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. Mai 2016 die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt habe. Von der in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommenden Einschätzung könne nur aufgrund eines negativen kriminalprognostischen Gutachtens abgewichen werden.

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 25. Mai 2016 ab. Die abgeschlossene Drogentherapie führe nicht zum Wegfall einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Eine etwaige Verhaltensänderung müsse sich erst im [X.] an den Therapieabschluss beweisen. Statistisch sei von einer erheblichen Rückfallquote auszugehen. Auch die Strafaussetzungsentscheidung binde im ausländerrechtlichen Verfahren nicht, da bei ersterer die Resozialisierung des [X.] im Vordergrund stünde.

7. Der Beschwerdeführer legte hiergegen unter dem 11. Juni 2016 Beschwerde zum [X.]hof ein. Insbesondere habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht ein besonderes [X.] bejaht, da jedenfalls eine akute Wiederholungsgefahr nicht mehr bestehe.

Mit Beschluss vom 9. September 2016 wies der [X.]hof die Beschwerde zurück. Angesichts der tiefgreifenden und länger andauernden Suchtproblematik stelle die Therapie allenfalls einen Teilerfolg dar, der die Wiederholungsgefahr nicht entfallen lasse. Der Beschwerdeführer verfüge auch unabhängig von seiner Drogensucht über ein hohes Maß an krimineller Energie. Die Strafaussetzungsentscheidung nach § 36 BtMG, die wie eine Aussetzungsentscheidung nach § 57 StGB geringeres ausweisungsrechtliches Gewicht als eine Entscheidung nach § 56 StGB habe, stelle auf einen engeren strafvollzugsrechtlichen Prognosehorizont als die ausländerrechtliche Entscheidung ab. Der Sofortvollzug sei auch angesichts des schon einmal erfolgten Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung notwendig.

II.

Der Beschwerdeführer hat am 18. September 2016 Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Die Entscheidung des [X.]hofs verletze ihn in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG, welches in [X.] angesichts der gravierenden Folgen für den Ausländer besonderen Schutz vermittle. Dabei sei das von Art. 8 [X.] gewährleistete Grundrecht auf Privatleben zu beachten. Die angegriffenen Entscheidungen hätten rechtsfehlerhaft eine Wiederholungsgefahr bejaht, da nach der erfolgten Strafaussetzung zumindest ein Gutachten hätte eingeholt werden müssen. Eine regelmäßige und sich steigernde Intensität von Straftaten des Beschwerdeführers liege nicht vor, der [X.] sei nur wegen des Verstoßes gegen Bewährungsauflagen und nicht wegen der Begehung von Straftaten erfolgt. Angesichts der vorgelegten Therapiebescheinigung sei die Prognose positiv gewesen; hierüber hätten sich die Gerichte nicht einfach hinwegsetzen dürfen. Schließlich sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt, da das Nachtatverhalten des Beschwerdeführers nicht ausreichend gewürdigt worden sei. In sich widersprüchlich sei dabei die Begründung, dass der Strafaussetzungsentscheidung ein kürzerer Prognosemaßstab als der ausländerrechtlichen Entscheidung zugrunde liege, da die Bewährungszeit wie die Befristung der Wirkung der Ausweisung auf fünf Jahre festgesetzt worden sei. Schließlich verstoße es gegen Art. 19 Abs. 4 GG, wenn die Gerichte [X.] und den Sofortvollzug nahezu wortgleich begründet hätten. Denn der Gesetzgeber habe gerade für Ausweisungen keinen Wegfall der aufschiebenden Wirkung von Gesetzes wegen angeordnet, so dass das [X.] verkannt worden sei. Das besondere, über das [X.] hinausgehende [X.] hätte die Ausländerbehörde darlegen und nicht etwa der Beschwerdeführer widerlegen müssen.

III.

Die Akten des Ausgangsverfahrens, die Ausländerakte und die Akten des Strafverfahrens haben dem [X.] vorgelegen. Der [X.] hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwer-de ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das [X.] bereits geklärt. Die zulässige (1.) Verfassungsbeschwerde ist in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer eröffnenden Sinn offensichtlich begründet (2.).

1. Der Beschluss des [X.]hofs über die Beschwerde gegen die Entscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist tauglicher Beschwerdegegenstand. Der Beschwerdeführer war insoweit, nachdem im Hinblick auf die Entscheidung des [X.]hofs vom 21. März 2016 innerhalb der Verfassungsbeschwerdefrist geänderte Umstände aufgetreten waren, die den Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO eröffneten, aufgrund der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gehalten, erst diesen Rechtsbehelf zu nutzen, bevor er Verfassungsbeschwerde einlegen konnte. Nachdem dieser Antrag von den Gerichten abgelehnt wurde, hat er innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 [X.] Verfassungsbeschwerde eingelegt.

2. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Beschränkung des Freizügigkeitsgrundrechts nach Art. 11 GG auf [X.] schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Ausländern in der [X.] Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden (vgl. [X.] 35, 382 <399>). Die Ausweisung ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im [X.] aufhaltenden Ausländers (zu den Merkmalen eines Grundrechtseingriffs im Allgemeinen vgl. [X.] 105, 279 <299 f.>). Der Eingriff liegt im Entzug des Aufenthaltsrechts und der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausreise (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5, § 50 Abs. 1 [X.]); auf weitere mit der Ausweisung verbundene Rechtsnachteile kommt es daneben - für die Frage des Vorliegens eines Grundrechtseingriffs - nicht an. Ausweisungen oder sonstige Maßnahmen zum Entzug oder zur Verkürzung eines bereits gewährten Aufenthaltsrechts sind aufgrund gesetzlicher Vorschriften grundsätzlich möglich. In materieller Hinsicht markiert in diesem Zusammenhang allerdings - vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen - der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die verfassungsrechtliche Grenze für Einschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. [X.] 90, 145 <172>; vgl. auch [X.] 75, 108 <154 f.>; 80, 137 <153>).

Die einzelfallbezogene Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers sowie deren Abwägung gegeneinander ist den Verwaltungsgerichten übertragen. Das [X.] kann diese gerichtlichen Entscheidungen nicht in allen Einzelheiten, sondern nur auf die Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe überprüfen (vgl. [X.] 27, 211 <219>; 76, 363 <389>). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich darauf, ob die Verwaltungsgerichte die für die Abwägung wesentlichen Umstände erkannt und ermittelt haben und ob die vorgenommene Gewichtung der Umstände den Vorgaben der Verfassung entspricht. Hierbei sind auch die Vorgaben der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu berücksichtigen (vgl. [X.], 153 <159 ff.>). Danach besteht zwar für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach [X.] gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (vgl. [X.], 37 <45>). Es ist im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Gerichte von der Begehung von Straftaten nach dem [X.] in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen. Vielmehr ist der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und - gegebenenfalls - Therapie. Auch bei Straftaten nach dem [X.] darf ein allgemeines Erfahrungswissen nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet (vgl. [X.], 37 <41 f.>).

Diesen Maßstäben werden die gerichtlichen Entscheidungen ungeachtet des Umstands, dass im vorliegenden Fall starke Indizien für das Vorliegen hinreichender Gründe für eine Ausweisung und Abschiebung vorliegen dürften, nicht gerecht.

Zum einen hat der [X.]hof im Verfahren über den Abänderungsantrag die Wiederholungsgefahr ausschließlich mit allgemeinen Erwägungen zur hohen Rückfallwahrscheinlichkeit bei [X.] begründet und die durchgeführte Drogentherapie sowie die Strafaussetzung zur Bewährung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG für nicht entscheidend gehalten. Zwar trifft es im Ausgangspunkt zu, dass Ausländerbehörde und Verwaltungsgerichte für die Frage der Wiederholungsgefahr nicht an die Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammern gebunden sind. Solchen Entscheidungen kommt jedoch eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Jedenfalls soweit die Prognose der Wiederholungsgefahr Bedeutung im Rahmen einer grundrechtlich erforderlichen Abwägung hat, bedarf es einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden soll (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 27. August 2010 - 2 BvR 130/10 -, juris, Rn. 36 m.w.N.). Auch die eher negative Bewertung der Therapiebescheinigung vom 7. April 2016 beruht auf der pauschalen Annahme, eine derartige Bescheinigung gewinne angesichts der statistisch erwiesenen hohen Rückfallquote erst "längere Zeit nach Straf- bzw. Therapieende" Bedeutung.

Nicht ausreichend ist es zum anderen, eine positive Entwicklung des Verurteilten ohne aussagekräftige Indizien darauf zurückzuführen, der Ausländer habe sich erst unter dem Druck des Ausweisungsverfahrens zur Therapie - beziehungsweise allgemeiner zu einem rechtstreuen Verhalten - entschlossen. Denn mit einem solchen Verhalten während und nach der Inhaftierung sowie in laufender Bewährungszeit wird der Ausländer dem vom [X.] Strafvollzug bezweckten Resozialisierungsziel gerecht. Es ist mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht zu vereinbaren, wenn ein solches im Strafvollzug erwartetes und während laufender Bewährung gefordertes Verhalten ausländerrechtlich gegen den Betroffenen gewertet wird. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn offensichtlich ist, dass die Bemühungen des Ausländers ausschließlich dem Ausweisungsverfahren geschuldet sind. Dies ist vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Der Beschwerdeführer hatte sich vielmehr seit geraumer Zeit um eine Drogentherapie bemüht und hat diese nunmehr wie geplant abgeschlossen.

Schließlich fehlt es im angegriffenen Beschluss des [X.]hofs sowohl an einer individualisierten Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass die nicht drogenbezogene Kriminalität des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Entscheidung acht Jahre zurückliegt, als auch an einer ernsthaften Berücksichtigung des Umstands, dass der 27-jährige Beschwerdeführer seit 24 Jahren in [X.] lebt und - auch im Hinblick auf das Erreichen des Hauptschulabschlusses - möglicherweise als faktischer Inländer betrachtet werden muss, so dass der Vollzug der Ausweisung einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht darstellen dürfte (vgl. im Übrigen zur möglichen Unverhältnismäßigkeit einer Ausweisung auch beim Handeltreiben mit nicht geringen Mengen an Marihuana [X.], 37 <42>).

Wiegt das [X.] des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird, etwa wenn Ausländerbehörde oder Gericht ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben haben, welches eine Abweichung zulässt, oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen. Für eine derartige breitere Tatsachengrundlage ist vorliegend nichts ersichtlich. Ein Sachverständigengutachten haben Ausländerbehörde und Gerichte nicht eingeholt. Für die Annahme fortbestehender konkreter Gefahren für höchste Rechtsgüter hätte es konkreter Feststellungen zu den vom Beschwerdeführer drohenden Straftaten bedurft. Die vom [X.]hof in seinem Beschluss vom 21. März 2016 gesehene Gefahr, dass zu befürchten sei, dass der Beschwerdeführer wieder Cannabis konsumieren werde und zur Finanzierung seiner Sucht weitere Straftaten begehen werde, entbehrt nach den eigenen Feststellungen des [X.]hofs einer Grundlage im Verhalten des Beschwerdeführers.

Haben damit die Gerichte schon das [X.] fehlerhaft bewertet, so ist die weitere Begründung, angesichts dieses Interesses müsse das [X.] des Beschwerdeführers zurückstehen, verfassungsrechtlich nicht haltbar. Die tatsächlichen Feststellungen der Gerichte genügen insoweit den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht, da sie eine Rückkehr des Beschwerdeführers schlicht für zumutbar halten, ohne Feststellungen zur Integrationsfähigkeit des Beschwerdeführers in der [X.] zu treffen, die er im Alter von drei Jahren verlassen hat.

3. Liegt mithin eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG vor, so bedarf es keiner Entscheidung, ob auch Art. 19 Abs. 4 GG verletzt worden ist.

Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Die Kammer geht davon aus, dass vor der erneuten Entscheidung des [X.]hofs keine Abschiebung stattfinden wird.


Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

Meta

2 BvR 1943/16

19.10.2016

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 9. September 2016, Az: 19 CS 16.1194, Beschluss

Art 2 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, §§ 53ff AufenthG 2004 vom 25.02.2008, §§ 53ff AufenthG 2004 vom 27.07.2015, § 53 Nr 1 AufenthG 2004 vom 25.02.2008, § 53 Nr 2 AufenthG 2004 vom 25.02.2008, § 36 Abs 1 S 3 BtMG 1981, Art 8 MRK, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 19.10.2016, Az. 2 BvR 1943/16 (REWIS RS 2016, 3727)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 3727

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10 ZB 17.1386 (VGH München)

Ausweisung eines ausländischen Straftäters trotz Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer


Referenzen
Wird zitiert von

6 Bf 70/20.Z

12 S 1841/22

7 K 3853/20

11 K 619/20

A 10 S 2367/22

8 K 2816/21

1 C 46/20

2 BvR 860/21

1 C 6/21

10 K 1995/24

6 E 31/24

27 L 2717/23

2 BvR 29/24

W 7 K 23.1353

19 ZB 22.2263

19 ZB 22.2483

19 ZB 23.2132

1 C 32/22

10 B 23.963

10 ZB 23.2152

10 ZB 23.1200

1 B 15/23, 1 B 15/23 (1 C 6/23)

10 ZB 23.833

1 B 20/23

1 VR 1/23

19 ZB 22.852

19 ZB 22.1890

2 B 5/19

2 BvR 640/20

1 C 47/20

19 CS 23.123

19 ZB 22.624

19 CS 23.269

12 S 2789/18

13 LB 50/17

7 A 11935/17

1 Bf 72/17.Z

2 BvR 657/19

2 C 13/19

10 ZB 20.249

10 ZB 20.424

10 ZB 20.1171

10 ZB 20.399

19 ZB 19.914

10 ZB 19.1519

AN 5 K 18.01556

M 10 K 18.1011

10 ZB 19.317

10 ZB 18.1413

10 ZB 18.1710

B 6 K 17.607

10 ZB 18.2284

10 ZB 18.2598

M 24 K 17.5237

M 24 K 17.3819

M 25 K 17.3934

10 ZB 17.1386

M 4 K 17.4200

M 27 K 16.2297

10 ZB 17.993

10 ZB 17.617

M 24 K 17.552

M 25 K 16.3460

10 ZB 17.732

19 ZB 16.2636

10 CE 17.172

M 10 K 16.5409

AN 5 E 17.00212

10 C 17.260

10 ZB 16.1778

10 CS 16.2289

M 25 K 16.3237

M 25 K 16.4621

M 25 K 16.902

B 6 S 20.709

10 ZB 20.621

19 ZB 18.1011

19 CS 19.1183

19 CS 17.1784

19 ZB 17.1535

M 25 K 17.1889

19 ZB 16.186

10 B 17.818

10 ZB 15.2062

Au 6 K 16.1346

11 S 990/19

10 ZB 21.84

19 ZB 20.696

10 ZB 20.2091

19 CS 20.2977

19 ZB 20.2345

19 CS 21.828

19 ZB 20.65

M 4 K 19.3116

19 CS 21.330

19 ZB 21.1771

19 ZB 20.323

19 CE 21.2020

19 ZB 21.2053

2 S 21.6462

AN 11 K 21.01665

M 10 K 20.2954

19 ZB 22.129

M 4 K 21.4251

AN 5 K 20.02398

M 4 K 22.995

19 ZB 20.2139

19 CS 22.1456

19 ZB 22.1499

19 CS 22.1755

19 ZB 22.1538

10 ZB 21.2425

19 ZB 21.429

19 ZB 21.1371

Zitiert

2 BvR 130/10

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