Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31.03.2020, Az. 1 StR 639/19

1. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1933

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Gegenstand

Absehen von der Anordnung einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt: Fehlende Erfolgsaussicht bei fehlender Therapiebereitschaft des Angeklagten


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 24. September 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, jeweils in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und eine Einziehungsanordnung getroffen. Die hiergegen vom Angeklagten mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts geführte Revision erzielt mit der Sachrüge den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. [X.] greift aus den Gründen der Antragsschrift des [X.] nicht durch.

3

2. Die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils lässt hinsichtlich des Schuld- und Strafausspruchs sowie der Einziehungsanordnung keinen Rechtsfehler erkennen.

4

3. Das Urteil hält indes rechtlicher Nachprüfung nicht stand, soweit das [X.] die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abgelehnt hat.

5

a) Nach den Feststellungen des [X.]s konsumierte der 32-jährige Angeklagte bereits in seinem Heimatland [X.] regelmäßig in seiner Freizeit bis zu fünf Gramm Marihuana am Tag, sofern das Betäubungsmittel für ihn verfügbar war. Sein Arbeitsverdienst in einem Restaurant ließ dies angesichts der dortigen niedrigen Preise für Cannabis finanziell zu. Er verließ [X.] im Jahr 2011 und kam schließlich 2015 ins [X.]. Der von ihm gestellte Asylantrag wurde abgelehnt. Seinen [X.] setzte er in [X.] wie in der Vergangenheit fort. Er arbeitete seit 2017 bis zu seiner Festnahme im März 2019 im Zweischichtbetrieb als Feuerverzinker und erzielte ein monatliches Bruttoeinkommen von 1.800 Euro. Seit Januar 2018 bezog er aus [X.] insgesamt 22,4 kg Marihuana, das er gewinnbringend weiterverkaufte. Zugleich rauchte er weitere 2,1 kg Marihuana - 150 Gramm pro Monat - selbst. Den Eigenkonsum finanzierte er durch seinen Betäubungsmittelhandel. Anlässlich seiner Festnahme wurden weitere 5,8 kg Marihuana sichergestellt, wovon 300 Gramm zum [X.] für den Angeklagten bestimmt waren.

6

b) Die sachverständig beratene [X.] hat einen Hang im Sinne von § 64 StGB verneint. Eine körperliche oder psychische Betäubungsmittelabhängigkeit liege beim Angeklagten nicht vor, sondern lediglich ein Cannabismissbrauch. Er habe sowohl seinen [X.] steuern als auch seine Verkaufstätigkeit steigern können. [X.] habe er „nicht geltend“ gemacht. Beeinträchtigungen während seiner Arbeitstätigkeit und im [X.] Bereich seien nicht erkennbar. Darüber hinaus sei ein symptomatischer Zusammenhang zwischen Hang und Taten zweifelhaft, weil er durch seinen Betäubungsmittelhandel seinen Lebensunterhalt finanziert und seine Familie in seiner Heimat unterstützt habe; der [X.] von Cannabis stelle sich lediglich als „Nebenprodukt“ dar. Schließlich seien auch keinerlei Erfolgsaussichten für eine Therapie beim Angeklagten gegeben; er habe keine Krankheitseinsicht und sehe keinen Handlungsbedarf. Seinen [X.] von Marihuana betrachte er als eine Art „Drogen-lifestyle“.

7

c) Die Ausführungen des [X.]s lassen besorgen, dass es rechtsfehlerhaft von einem zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist.

8

aa) Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist dann gegeben, wenn der Täter aufgrund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 415/15 Rn. 7; Urteil vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04 Rn. 10). Eine [X.] Gefährdung oder [X.] Gefährlichkeit kommt nicht nur dann in Betracht, wenn der Täter Rauschmittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt werden, sondern insbesondere auch bei Beschaffungskriminalität ([X.], Beschluss vom 20. September 2017 - 1 StR 348/17 Rn. 10). Ebenso wenig steht die Tatsache, dass der Täter kurzzeitig in der Lage war, seinen Rauschmittelkonsum zu verringern oder sogar einzustellen, dem Vorliegen eines Hanges entgegen ([X.], Urteil vom 15. Mai 2014 - 3 [X.] Rn. 10).

9

bb) Gemessen daran legt bereits der von der [X.] angenommene tägliche [X.] des Angeklagten von bis zu fünf Gramm Marihuana die Annahme eines beim Angeklagten bestehenden Hanges nahe. Trotz seiner Erwerbstätigkeit kann mit Blick auf die verfahrensgegenständlichen Taten, die sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckten und auch erhebliche Betäubungsmittelmengen für den Eigenkonsum betrafen, die Ursächlichkeit des jahrelangen Missbrauchs von Cannabis für die [X.] Gefährdung und [X.] Gefährlichkeit des Angeklagten nicht verneint werden. Bestätigt wird dies insbesondere durch den Umstand, dass der Angeklagte bei seiner Festnahme durch seinen Drogenkonsum dermaßen berauscht war, dass eine Beschuldigtenvernehmung zunächst nicht durchführbar war.

d) Auch die Begründung, mit der das [X.] einen symptomatischen Zusammenhang zwischen Taten und Hang verneint, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Schon der Umstand, dass der Angeklagte mit der Handelsmenge zugleich die [X.] erworben hat, legt einen solchen Zusammenhang nahe. Dem steht nicht entgegen, dass er mit dem gehandelten Marihuana auch seinen Lebensunterhalt finanziert und seine Familie in seiner Heimat unterstützt hat.

e) Des Weiteren ist die fehlende [X.] des Angeklagten für sich genommen kein Grund, von der Anordnung einer Unterbringung gemäß § 64 StGB abzusehen (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Mai 2011 - 4 StR 178/11 Rn. 5). Ob der Schluss von einem Mangel an [X.] auf das Fehlen einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht tragfähig ist, lässt sich nur aufgrund einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonst maßgeblichen Umstände beurteilen. Hierbei hat das [X.] nicht geprüft, ob eine [X.] des Angeklagten, der lediglich meint, mit seinem Drogenkonsum „kein Problem zu haben“, geweckt werden kann.

4. Die Frage der Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die zugehörigen Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter insgesamt eine Überprüfung der [X.] zu ermöglichen. Der Strafausspruch hat Bestand.

Raum     

        

Jäger     

        

Bellay

        

Hohoff     

        

Pernice     

        

Meta

1 StR 639/19

31.03.2020

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Ravensburg, 24. September 2019, Az: 26 Js 3812/19 - 7 KLs

§ 64 S 2 StGB, § 29 BtMG, §§ 29ff BtMG, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31.03.2020, Az. 1 StR 639/19 (REWIS RS 2020, 1933)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1933

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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4 StR 457/22 (Bundesgerichtshof)


Referenzen
Wird zitiert von

2 StR 442/20

Zitiert

3 StR 386/13

4 StR 178/11

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