Bundesgerichtshof, Urteil vom 23.11.2022, Az. 5 StR 347/22

5. Strafsenat | REWIS RS 2022, 8991

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Gegenstand

Revision der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Angeklagten: Umfassende Aufhebung des Urteils durch das Revisionsgericht bei im Rahmen einer Verständigung abgelegtem Geständnis


Leitsatz

Hat eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft allein zum Strafausspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens, abweichend von § 353 Abs. 1 StPO auch den Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, wenn dieser auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht.

Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 16. März 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit es den Angeklagten [X.]     betrifft.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt und eine Einziehungsanordnung getroffen. Die Staatsanwaltschaft greift das Urteil zuungunsten des Angeklagten mit der Sach- und einer Verfahrensrüge an. Während sie mit der Rüge der Verletzung formellen Rechts nicht durchdringt, hat ihre Revision mit der Sachrüge Erfolg.

I.

2

Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

1. Nachdem der Geschädigte der abgeurteilten Tat den Angeklagten am späten Abend des 3. Mai 2021 beim Anfahren an einer Tankstelle mit seinem PKW [X.] versehentlich leicht berührt hatte, geriet dieser in Wut. Trotz mehrfacher Beschwichtigungsversuche beruhigte sich der Angeklagte auch nach dem Verlassen des [X.] nicht. Vielmehr berichtete er kurze [X.] später in Anwesenheit der Mitangeklagten einem Freund von dem Geschehen. Dieser überzeugte den Angeklagten davon, dem Fahrer des [X.] eine „Lektion [zu] erteilen“, ihn also wegen des Vorfalls an der Tankstelle körperlich zu misshandeln. Verteilt auf zwei Pkw fuhren der Angeklagte, sein Freund und dessen zwei Begleiter einerseits und die Mitangeklagten mit zwei Unbekannten andererseits in den [X.]er Ortsteil [X.]           , wo sie das Objekt des geplanten Angriffs wähnten. Der Angeklagte, der kurz zuvor ein Gramm Kokain und einen halben Liter Whisky-Cola konsumiert hatte, ging davon aus, dass er und die Mitinsassen des von ihm geführten Pkw das Opfer nicht nur körperlich misshandeln, sondern ihm auch seinen [X.] und andere Wertgegenstände entwenden würden.

4

Nach wenigen Minuten entdeckten sie den Geschädigten, der eine Straße im Ortsteil [X.]          mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/h befuhr. Der Angeklagte überholte ihn mit seinem [X.], scherte rechts vor ihm ein und bremste sein Fahrzeug zum Stillstand ab, was den Geschädigten zu einer Vollbremsung zwang; der Mitangeklagte Kh.    hielt mit dem anderen Pkw dicht dahinter, sodass der [X.] eingekeilt wurde. Hierdurch sollte verhindert werden, dass das Opfer des geplanten Überfalls mit seinem Pkw würde flüchten können. Gefolgt von den Angeklagten und den weiteren Mitfahrern ging der Freund des Angeklagten zu dem [X.], versetzte dem Geschädigten durch das geöffnete Fenster einen kräftigen Faustschlag gegen den Kiefer und zerrte ihn aus dem Auto in eine Hotelzufahrt. Dort streckte er ihn mit Faustschlägen nieder und schlug und trat auf das Gesicht des am Boden liegenden Opfers ein, bis diesem Blut aus dem Mund lief. Der Angeklagte, der die Gewalthandlungen beobachtete und guthieß, nahm zumindest billigend in Kauf, dass die Einwirkungen auf den Geschädigten geeignet waren, dessen Leben zu gefährden.

5

„Spätestens“ jetzt kamen der Angeklagte, sein Freund und die beiden Mitfahrer des [X.] überein, den Verletzten durch weitere körperliche Misshandlungen oder die stillschweigende Drohung hiermit zu zwingen, die Wegnahme seines [X.] und anderer Wertgegenstände zu dulden. Aus Angst vor weiteren Schlägen und Tritten teilte dieser wahrheitsgemäß mit, dass der [X.] im [X.]. Unter Beschimpfungen und nach einem weiteren kräftigen Faustschlag ins Gesicht nahm der Freund des Angeklagten dem Geschädigten eine – gut ein Jahr zuvor für 7.850 Euro erworbene – Armbanduhr weg und übergab sie im weiteren Verlauf dem Angeklagten, der sie für sich behielt. Die beiden anderen Mitfahrer im [X.] entwendeten der Abrede entsprechend 1.000 Euro und ein teures Mobiltelefon aus dem [X.]. Nachdem der Angeklagte das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatte, fuhren die Mitangeklagten und deren Mitfahrer mit dem anderen Pkw, der Angeklagte und sein Freund mit dem [X.] und die beiden weiteren Tatgenossen mit dem [X.] des schwerverletzten Opfers davon.

6

Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war bei Begehung der Tat „wegen der akuten Intoxikation durch die zuvor konsumierten Drogen erheblich vermindert, nicht aber aufgehoben“.

7

Der Geschädigte erlitt schwere Gesichtsverletzungen, sein rechtes Auge wurde dauerhaft erheblich geschädigt. Die Tat wirkte sich negativ auf seine psychische Verfassung und seine Arbeitsfähigkeit aus.

8

2. Das [X.] hat die Tat als besonders schweren Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet (§ 249 Abs.1, § 250 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a, § 224 Abs. 1 Nr. 4 und 5, § 25 Abs. 2, § 52 StGB). Es hat den Angeklagten deswegen – im Rahmen einer Verständigung nach § 257c [X.] – aus dem nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 250 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt.

II.

9

Die vom [X.] vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Die Annahme des [X.]s, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei bei der Tatbegehung im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert gewesen, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert eine mehrstufige Prüfung. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die [X.] Anpassungsfähigkeit des [X.] zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des [X.] bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Tatgericht für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem psychiatrischen Befund wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 9. März 2022 – 3 StR 19/22, [X.], 168 mwN).

b) Die Staatsanwaltschaft weist zu Recht darauf hin, dass das [X.] diesen Anforderungen nicht gerecht geworden ist.

aa) Es hat schon keine Feststellungen zum Ausmaß der Intoxikation und damit zu deren Krankheitswert getroffen. Das Gleiche gilt für die Frage, wie sich der [X.] von Alkohol und Kokain auf die [X.] Anpassungsfähigkeit und die psychische Funktionsfähigkeit des Angeklagten ausgewirkt hat. Schließlich hat die [X.] auch nicht dargelegt, in welcher Weise die festgestellte Störung seine Handlungsmöglichkeiten in der konkreten Tatsituation beeinflusst haben soll.

Eine sorgfältige Darlegung wäre umso notwendiger gewesen, als der psychiatrische Sachverständige „keine Hinweise“ für eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten durch den Drogenkonsum festgestellt und eine derartige Einschränkung auch unter Berücksichtigung eines die Wirkung des Kokains verstärkenden Alkoholkonsums „als unwahrscheinlich“ bewertet hat. Der Angeklagte musste zudem erst von seinem Freund von der Tatbegehung „überzeugt“ werden. Außerdem war ihm das Führen eines der Tatfahrzeuge – soweit aus den Urteilsgründen ersichtlich – ohne Einschränkung möglich.

Angesichts dieser Darlegungsdefizite kann der Senat nicht nachprüfen, ob die Annahme der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht.

bb) Das Urteil weist insoweit einen weiteren Rechtsfehler auf. Das [X.] hat im Zusammenhang mit der Frage der Erheblichkeit der von ihm angenommenen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ausgeführt, es sei „unter Anwendung des [X.]“ zugunsten des Angeklagten „von dem Vorliegen des möglichen und nicht ausschließbaren Sachverhalts“ auszugehen gewesen, dass „infolge einer akuten Intoxikation zur [X.] der Tat seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert“ gewesen sei. Hierzu hat es sich auf das von ihm als „überzeugend“ bewertete Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen gestützt, der eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit durch die Mischintoxikation von Kokain und Alkohol zwar als unwahrscheinlich bewertet habe, aber auch nicht habe ausschließen können.

Diese Ausführungen sind in zweierlei Hinsicht rechtlich fehlerhaft. Zum einen hat das [X.] verkannt, dass es sich bei der Frage, ob eine Beeinträchtigung im Sinne des § 21 StGB „erheblich“ ist, um eine Rechtsfrage handelt, die dem [X.] nicht zugänglich ist (vgl. [X.], Beschluss vom 3. August 2004 – 1 [X.], [X.], 329). Zum anderen enthebt die Äußerung eines Sachverständigen, dass er einen bestimmten Sachverhalt nicht ausschließen könne, das Tatgericht nicht von der eigenständigen Prüfung, welche Gründe für und gegen das Vorliegen einer im Sinne von § 21 StGB rechtlich relevanten [X.] zur Tatzeit sprechen (vgl. [X.], Urteil vom 14. August 2014 – 4 [X.] Rn. 29, NJW 2014, 3382, 3384). Erst wenn dem Tatgericht im [X.] daran nicht behebbare Zweifel verbleiben, die sich auf Art und Grad des psychischen Ausnahmezustands beziehen, ist die Anwendung des [X.] gerechtfertigt (vgl. [X.], Beschluss vom 25. Juli 2006 – 4 [X.], [X.], 335).

2. Der Rechtsfehler bei der Strafbemessung zwingt hier in Abweichung von dem revisionsrechtlichen Regelungskonzept zu einer umfassenden Aufhebung des Urteils.

Nach § 353 Abs. 1 [X.] ist ein angefochtenes Urteil zwar nur insoweit aufzuheben, als die Revision für begründet erachtet wird; die Feststellungen unterliegen nur der Aufhebung, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden (§ 353 Abs. 2 [X.]). Gemessen daran wäre lediglich der Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und der von dem Rechtsfehler nicht betroffene Schuldspruch würde in Rechtskraft erwachsen.

Hat eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft allein zum Strafausspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens aber, abweichend von § 353 Abs. 1 [X.] auch den Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, wenn dieser – wie hier – auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c [X.] abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht. Das ergibt sich aus Folgendem:

a) Nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht ist das zur Entscheidung berufene Tatgericht nicht an eine Verständigung gebunden, die in der Vorinstanz zustande gekommen war. Zwar ist der Wegfall der Bindungswirkung ausdrücklich nur in den Fällen vorgesehen, in denen rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, der in Aussicht gestellte Strafrahmen sei nicht mehr tat- oder schuldangemessen, oder in denen das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist (§ 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 [X.]). Die Bindungswirkung einer Verständigung gilt nach § 257c [X.] aber nur für das Gericht, das die der Verständigung zugrunde liegende Prognose abgegeben hat; das nach Zurückverweisung zuständige (neue) Tatgericht ist nach dem Willen des Gesetzgebers nicht an die Verständigung gebunden (vgl. BT-Drucks. 16/12310, [X.]). Dies findet seine Rechtfertigung darin, dass andernfalls [X.], die an einer Verständigung nicht beteiligt waren und eine solche mit dem Inhalt auch nicht getroffen hätten, bei ihrem Urteilsspruch gebunden werden könnten. Es entspricht daher sowohl der Rechtsprechung des [X.] als auch der ganz überwiegenden Auffassung in der Literatur, dass nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht das neue Tatgericht nicht an die in der Vorinstanz getroffene Verständigung gebunden ist (vgl. [X.], Urteile vom 1. Dezember 2016 – 3 [X.], [X.], 373, 374; vom 26. Mai 2021 – 2 StR 439/20, [X.], 291, 292; Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 [X.], [X.]St 66, 37; [X.]/[X.], [X.], 65. Aufl., § 257c Rn. 27c; KK-[X.]/[X.]/[X.], 8. Aufl., § 257c Rn. 26; SSW-[X.]/[X.]/[X.], 4. Aufl., § 257c Rn. 88; [X.], [X.], 27. Aufl., § 257c Rn. 64; [X.] [X.]/[X.], [X.]., § 257c Rn. 30a; MüKo-[X.]/[X.]/[X.], § 257c Rn. 148; HK-[X.]/[X.], 6. Aufl., § 257c Rn. 32; ebenso für die Berufungsinstanz [X.] NStZ 2014, 294, 295 mwN; aA [X.] StV 2012, 10, 11 f.; siehe auch SK-[X.]/[X.], 5. Aufl., § 257c Rn. 29).

b) Die bloße Anwendung von § 353 [X.] auf einen solchen Fall würde zudem zu einem nicht tragfähigen Ergebnis führen: Der Schuldspruch würde rechtskräftig, der Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Das Verschlechterungsverbot (§§ 331, 358 Abs. 2 [X.]) gälte nicht, weil die Staatsanwaltschaft die Revision zuungunsten des Angeklagten eingelegt hatte. Das neue Tatgericht wäre nicht an die in der Vorinstanz zustande gekommene Verständigung gebunden und könnte gegen den Angeklagten deshalb eine Strafe verhängen, die über die im ersten Rechtsgang zugesagte Strafobergrenze hinausginge. Ohne Belang bliebe danach, dass der Schuldspruch (auch) auf einem Geständnis beruht, das der Angeklagte im Vertrauen auf diese Zusage abgegeben hatte. Im Ergebnis würde hiernach ein im Hinblick auf eine zustande gekommene Verständigung abgegebenes Geständnis verwertet, obwohl diese keinen Bestand hat. Dies wäre unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht mit dem verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar. Im Einzelnen:

aa) Der Gesetzgeber hat der Geltung dieses Grundsatzes mit der Regelung des § 257c Abs. 4 Satz 3 [X.] für das Verständigungsverfahren ausdrücklich Rechnung getragen (BT-Drucks. 16/12310, [X.]). Danach darf ein im Hinblick auf eine Verständigung abgegebenes Geständnis nicht verwertet werden, wenn die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt. Zwar ist das gesetzliche Verwertungsverbot in einer wie der hier gegebenen Konstellation nicht unmittelbar anwendbar, weil es nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung nur eingreift, wenn sich das Gericht aus einem der in § 257c Abs. 4 Sätze 1 und 2 [X.] genannten Gründe von der Verständigung gelöst hat. Ebenso wenig kommt eine entsprechende Anwendung des § 257c Abs. 4 Satz 3 [X.] in Betracht (so indes [X.] Düsseldorf StV 2011, 80, 81), da es an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt (vgl. [X.], Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 [X.], [X.]St 66, 37 mwN). Die Geltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens beschränkt sich im Zusammenhang mit Verständigungen im Sinne des § 257c [X.] jedoch nicht auf die der Regelung des § 257c Abs. 4 [X.] zugrunde liegende Konstellation. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit der Normierung des Verwertungsverbots dem Grundsatz eines auf Fairness angelegten Strafverfahrens allgemein „Rechnung getragen“ (BT-Drucks. 16/12310, [X.]); dieser Grundsatz stellt ein dem gesamten Strafverfahren und mithin auch dem gesamten Verständigungsverfahren übergeordnetes Leitprinzip dar (vgl. MüKo-[X.]/[X.]/[X.], § 257c Rn. 172).

bb) Davon ausgehend ist die obergerichtliche Rechtsprechung und die Literatur – teils allerdings unter entsprechender Anwendung von § 257c Abs. 4 Satz 3 [X.] – überwiegend der Auffassung, dass ein in der ersten Instanz im Hinblick auf eine Verständigung abgegebenes Geständnis unverwertbar ist, wenn sich das Berufungsgericht von einer in der ersten Instanz erzielten Verständigung lösen will (vgl. [X.] NStZ 2014, 294, 295; [X.] Hamm, Beschluss vom 22. November 2017 – [X.] Rn. 20; [X.] Naumburg NStZ 2018, 238, 239; [X.] Düsseldorf StV 2011, 80, 81; [X.]/[X.], [X.], 65. Aufl., § 257c Rn. 29b; KK-[X.]/[X.]/[X.], 8. Aufl., § 257c Rn. 26; SSW-[X.]/[X.]/[X.], 4. Aufl., § 257c Rn. 116; [X.], [X.], 27. Aufl., § 257c Rn. 88; [X.] [X.]/[X.], [X.]., § 257c Rn. 37; aA HK-[X.]/[X.], 6. Aufl., § 257c Rn. 32). Die Beschränkung eines zuungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft auf den Strafausspruch wird dann überwiegend für unwirksam erachtet (vgl. [X.] Hamm aaO; [X.] Düsseldorf aaO, 82; [X.] Naumburg aaO; [X.]/[X.], aaO, § 318 Rn. 17; [X.], aaO; SSW-[X.]/[X.]/[X.], aaO Rn. 126; [X.] [X.]/[X.], aaO, § 318 Rn. 23; [X.] [X.] 2015, 1, 4; offen gelassen von [X.] Nürnberg NStZ-RR 2012, 255, 256; siehe auch [X.] NStZ 2015, 137, 143).

cc) Der [X.] hat sich aus den gleichen Gründen für ein Verbot der Verwertung des im Hinblick auf eine Verständigung in der ersten Instanz abgegebenen Geständnisses ausgesprochen, wenn das Urteil auf eine Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben wird und das nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufene Tatgericht sich nicht von sich aus an die vom Erstgericht zugesagte Strafobergrenze binden will (vgl. [X.], Urteile vom 1. Dezember 2016 – 3 [X.], [X.], 373, 374; vom 26. Mai 2021 – 2 StR 439/20, [X.], 291, 292; Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 [X.], NStZ 2021, 568, 570 f.; abweichend [X.], Urteil vom 28. Februar 2013 – 4 StR 537/12, [X.], 373).

dd) Diesen dem Gebot eines fairen Verfahrens geschuldeten Grundsätzen kann das Revisionsgericht unter den hier gegebenen Umständen nur dadurch gerecht werden, dass es abweichend von § 353 Abs. 1 [X.] nicht nur den Strafausspruch, sondern auch den Schuldspruch aufhebt und die Sache insgesamt zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverweist. Nur so kann das schützenswerte Vertrauen des Angeklagten in das Gegenseitigkeitsverhältnis seines Geständnisses und der zugesagten Strafobergrenze einerseits mit dem Umstand der fehlenden Bindungswirkung des neuen Tatgerichts an die Verständigung andererseits in Einklang gebracht werden. Denn hätte das neue Tatgericht lediglich noch über den Strafausspruch zu entscheiden, könnte es mangels Bindung an die erstinstanzliche Verständigung über die zugesagte Strafobergrenze hinausgehen, obwohl das im Vertrauen auf den Bestand der Verständigung abgegebene Geständnis des Angeklagten infolge der Rechtskraft des Schuldspruchs faktisch die Grundlage für diese Entscheidung bilden würde. Dies wäre aber ebenso wie in den vorgenannten Konstellationen nicht mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar. Dass das Geständnis in der hier gegebenen Konstellation durch das neue Tatgericht nicht nach § 261 [X.] verwertet, sondern infolge der revisionsrechtlichen Regelungen der §§ 353, 354 Abs. 2 [X.] und der sich daraus ergebenden Teilrechtskraft bei der Entscheidung über den Strafausspruch ohne weiteres zur Geltung kommen würde, ist für die Frage, ob der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt ist, nicht von entscheidender Bedeutung.

3. Zu der mit derselben Zielrichtung erhobenen Verfahrensrüge bemerkt der Senat:

Hält das Gericht trotz veränderter Beurteilungsgrundlage an einer zuvor getroffenen Verständigung fest, kommt ein [X.] gegen § 257c Abs. 4 [X.] nur dann in Betracht, wenn der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Bei der Beantwortung dieser Frage kommt dem Gericht – wie auch sonst bei [X.] im Rahmen der Strafzumessung – ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Dieser ist erst überschritten, wenn der zugesagte Strafrahmen nicht mehr mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist und sich damit als unvertretbar erweist (vgl. [X.], Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 [X.], [X.]St 57, 273, 280). So liegt der Fall indes nicht. Nach der vom [X.] angenommenen Milderung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB sah der gesetzliche Strafrahmen die Verhängung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren bis zu elf Jahren und drei Monaten vor; der zugesagte von vier Jahren und sechs Monaten bis zu fünf Jahren und sechs Monaten hielt sich in diesem Rahmen.

III.

Einen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler hat die auf die unbeschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hin veranlasste umfassende Nachprüfung des Urteils (§ 301 [X.]) nicht ergeben.

IV.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

1. Das in der ersten Hauptverhandlung abgelegte Geständnis des Angeklagten darf verwertet werden, wenn das neue Tatgericht den Rahmen der in der ersten Instanz getroffenen Verständigung nicht verlässt, also insbesondere die Strafobergrenze nicht überschreiten will (vgl. [X.], Urteile vom 26. Mai 2021 – 2 StR 439/20, [X.], 291, 292; vom 23. Januar 2019 – 5 [X.] Rn. 43; offengelassen [X.], Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 [X.], NStZ 2021, 568, 571). Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der zugesagte Strafrahmen nach dem Inbegriff der neuen Verhandlung mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist (vgl. [X.], Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 [X.], [X.]St 57, 273, 280; Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 1 [X.], [X.], 193, 194).

2. Das Erzwingen einer verkehrsfremden Vollbremsung kann einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB) darstellen. Sollte dieses Verhalten lediglich der Verwirklichung der verabredeten körperlichen Misshandlung des Geschädigten und nicht auch schon der späteren Wegnahme des [X.], des Mobiltelefons und des Bargelds gedient haben, käme auch eine Strafbarkeit wegen Nötigung nach § 240 Abs. 1 und 2 StGB in Betracht (vgl. [X.], Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131, 3133; Beschluss vom 21. Juni 2016 – 4 StR 1/16, [X.], 533). Da der Angeklagte ausweislich der Feststellungen zu seinen persönlichen Verhältnissen am 15. September 2020 rechtskräftig wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt und gegen ihn eine Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis bis zum 22. September 2021 angeordnet worden war, steht zudem eine Straftat nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG in Rede.

[X.]     

      

[X.]     

      

Köhler

      

von Häfen     

      

Werner     

      

Meta

5 StR 347/22

23.11.2022

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Berlin, 16. März 2022, Az: 534 KLs 27/21

§ 257c StPO, § 353 Abs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 23.11.2022, Az. 5 StR 347/22 (REWIS RS 2022, 8991)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8991 NJW 2023, 931 REWIS RS 2022, 8991

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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