Bundesgerichtshof, Beschluss vom 01.10.2013, Az. 3 StR 311/13

3. Strafsenat | REWIS RS 2013, 2319

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Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose bei der Ersttat eines seit Jahrzehnten psychisch Kranken


Tenor

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des [X.] vom 30. April 2013 aufgehoben; die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bleiben aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) angeordnet. Die hiergegen gerichtete, auf Verfahrensrügen und sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision des Beschuldigten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s leidet der Beschuldigte seit 1984 an einer hebephrenen Psychose, die sich seither in situationsinadäquatem Verhalten, Verwahrlosung und Desorganisation äußerte. Er stand seit dieser Zeit unter Betreuung, war beginnend mit [X.] 1989 im Wesentlichen obdachlos und entwickelte eine schwere Alkoholabhängigkeit und eine konstante Inkontinenz. Mehrfach befand er sich in stationärer psychiatrischer Behandlung. Bei den Klinikaufenthalten erholte er sich jeweils schnell, um alsbald das Krankenhaus wieder zu verlassen und erneut in den Alkoholmissbrauch und die Verwahrlosung abzugleiten. Er nächtigte, weil er wegen seiner Inkontinenz oft nicht in [X.] verbleiben konnte, häufig in den Foyers von Geldinstituten, die er entsprechend verschmutzte. Die zahlreichen gegen ihn deshalb wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung geführten Ermittlungsverfahren wurden wegen Schuldunfähigkeit eingestellt. Inzwischen zeigt sich bei ihm das Krankheitsbild einer langjährigen, [X.] paranoiden Schizophrenie mit illusionären Verkennungen und Wahnwahrnehmungen, die sich zu systematisierten Wahnideen verdichtet haben und die er als beeinträchtigend erlebt. In deren [X.] steht eine imaginäre Person namens "[X.]", die ihn mit "[X.]" sowie mit Gummipuppen und [X.] bedroht.

3

Seit Juni 2010 hielt sich der Beschuldigte häufig im Bereich einer [X.] auf. Da er bei schlechtem Wetter den [X.]ninnenraum verunreinigte, musste ihm von dem Gemeindepfarrer [X.] erteilt werden, das, nachdem der Beschuldigte danach die [X.] von außen und den sie umgebenden Friedhof verschmutzt hatte, auf das gesamte [X.]ngelände ausgedehnt wurde. Der Beschuldigte hielt sich häufig nicht daran. Pfarrer [X.]sah indessen aus Mitleid von Strafanzeigen ab. Wenn der Beschuldigte auf einer Bank vor dem Friedhof saß, führte er oft mit lautstarker Stimme schreiend Selbstgespräche, die den Pfarrer im Gemeindehaus bei der Arbeit störten. Am 16. Juni 2012 schrie der Beschuldigte wieder herum. Als Pfarrer [X.]- wie schon öfter im Verlauf der letzten Jahre - hinausging und den Beschuldigten aufforderte, sich zu entfernen, blieb der Beschuldigte entgegen bisheriger Gewohnheit auch dann noch vor Ort, als der Pfarrer ankündigte, die Polizei zu rufen, und sich zur Verstärkung seiner Drohung mit seinem Mobiltelefon beschäftigte und vorgab, eine Nummer zu wählen. Der Beschuldigte nahm an diesem Tag in wahnhafter Realitätsverkennung an, bei Pfarrer [X.]handele es sich um eine von "[X.]" erschaffene Gummipuppe. Er fühlte sich von dieser bedroht und schlug dem Pfarrer deshalb mit einer großen, eineinhalb Liter fassenden und noch zur Hälfte mit einem Getränk gefüllten Plastikflasche kräftig auf den Kopf. Der Schlag zerstörte die Brille des Pfarrers und verursachte eine dislozierte Jochbogenfraktur, was zu einer dauerhaften, unauffälligen aber wahrnehmbaren Delle im Jochbein geführt hat.

4

Sachverständig beraten hat das [X.] angenommen, dass der Beschuldigte in psychotischer Verkennung der Realität und damit ohne Unrechtseinsicht gehandelt habe. Da der Beschuldigte eine notwendige Behandlung verweigere, sei mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Begehung von der [X.] vergleichbaren Taten zu rechnen.

5

2. Während die Verfahrensrügen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschuldigten aufzeigen, hält die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

6

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der [X.]en aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des [X.], seines [X.] und der von ihm begangenen [X.](en) zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 5. Juni 2013 - 2 StR 94/13 mwN). Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist der Tatrichter auch verpflichtet, die wesentlichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

7

b) Während die psychische Erkrankung des Beschuldigten sowie dessen hierauf beruhende Schuldunfähigkeit bei der Tatbegehung ausreichend festgestellt und in der Beweiswürdigung belegt sind, fehlt es an einer ausreichenden Darlegung einer zukünftigen Gefährlichkeit des Beschuldigten.

8

Das [X.] hat sich dem gehörten Sachverständigen angeschlossen. Dieser hat aus einer Beurteilung in Anlehnung an das Verfahren [X.] (historical clinical risk management - zu Einzelheiten vgl. [X.], Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose in [X.] u.a.: Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 3, [X.], 30 f.) das Risiko gewalttätigen Verhaltens des Beschuldigten als deutlich erhöht bezeichnet. Der von dem Beschuldigten erreichte [X.] (25 von 40 Punkten) liege deutlich oberhalb der [X.] für zivilpsychiatrische Patienten und innerhalb der [X.] für forensisch-psychiatrische Patienten. Es sei deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der [X.] vergleichbaren Taten zu rechnen (UA [X.]4). Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das [X.] bei der Prognose zukünftigen Verhaltens einseitig das Ergebnis des vom Sachverständigen genutzten statistischen Prognoseinstruments in den Blick genommen und dabei außer [X.] gelassen hat, dass solche Instrumente zwar Anhaltspunkte über die Ausprägung eines strukturellen [X.] liefern, indes nicht in der Lage sind, eine fundierte Einzelbetrachtung zu ersetzen (vgl. [X.], Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, [X.], 203, 204; Urteil vom 11. Mai 2010 - 1 StR 40/10, [X.], 504, 506; Beschluss vom 22. Juli 2010 - 3 [X.], StraFo 2011, 62; Beschluss vom 24. April 2013 - 5 [X.] - juris). Eine solche Einzelbetrachtung muss sich auch mit dem Umstand auseinandersetzen, dass der Beschuldigte - jedenfalls nach den bisherigen Feststellungen - trotz einer bereits seit fast 30 Jahren bestehenden Erkrankung erstmals mit einer in den Bereich der mittleren Kriminalität fallenden Straftat in Erscheinung getreten ist. Zwar teilt das Urteil mit, der [X.] des Beschuldigten weise seit 1991 insgesamt 78 Eintragungen zu Ermittlungsverfahren auf, die wegen Schuldunfähigkeit des Beschuldigten eingestellt worden sind; es ist indes nicht festgestellt, welche Taten des Beschuldigten den Verfahren zugrunde lagen, insbesondere ob sich darunter solche von gewisser Erheblichkeit befanden. Angesichts der an anderer Stelle im Urteil getroffenen Feststellung über 11 Ermittlungsverfahren wegen der Übernachtungen in den Räumen von Kreditinstituten allein in den Jahren 2011/2012 ([X.]) liegt es nahe, dass es sich auch bei den anderen Verfahren um solche wegen Delikten minderer Intensität gehandelt hat. Wenn aber nach jahrzehntelanger Erkrankung eine vereinzelte Tat der gefährlichen Körperverletzung zum Anlass für eine Unterbringung nach § 63 StGB genommen wird, bedarf es eingehenderer Darlegungen, warum der Beschuldigte jetzt seine paranoiden Ängste erstmals auf diese Weise ausagiert hat und unter welchen Umständen zukünftig von ihm welche Taten zu erwarten sind.

9

Im Hinblick auf die Verbesserung der Lebenssituation, die der Beschuldigte im Rahmen seiner vorläufigen Unterbringung in der Klinik für forensische Psychiatrie des [X.] Klinikums E.    nach den Feststellungen des [X.]s derzeit erlebt ([X.] und 15), bemerkt der [X.] ergänzend: Auf eine ausreichende Begründung zukünftiger Gefährlichkeit des Beschuldigten für die Allgemeinheit kann nicht verzichtet werden, selbst wenn dessen Gesundheitszustand durch eine längerfristige Behandlung in einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus gebessert werden könnte, denn nur die Belange der öffentlichen Sicherheit - nicht aber die Bemühungen um die Gesundheit des Patienten - können es rechtfertigen, einen Menschen auf unbestimmte Zeit einer Freiheitsentziehung zu unterwerfen (vgl. LK/Schöch, StGB, 12. Aufl., § 63 Rn. 1 mwN).

c) Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind rechtsfehlerfrei getroffen und können deshalb aufrechterhalten bleiben.

[X.]     

Pfister     

[X.] befindet sich im
Urlaub und ist daher gehindert zu
unterschreiben.

[X.]

Gericke     

Spaniol     

Meta

3 StR 311/13

01.10.2013

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Wuppertal, 30. April 2013, Az: 24 KLs 68/12

§ 63 StGB, § 224 StGB, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 01.10.2013, Az. 3 StR 311/13 (REWIS RS 2013, 2319)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 2319

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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