Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 28.04.2020, Az. 1 BvR 899/20

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2020, 2752

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

SPORT BUNDESVERFASSUNGSGERICHT (BVERFG) STAATSRECHT UND STAATSORGANISATIONSRECHT BERUFSFREIHEIT GESUNDHEIT CORONAVIRUS FITNESSSTUDIO CORONA BADEN-WÜRTTEMBERG CORONA-KLAGE

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren: Zur Untersagung des Betriebs von Fitnessstudios gem § 4 Abs 1 Nr 5 der baden-württembergischen Corona-Verordnung (juris: CoronaVV BW) - Folgenabwägung


Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1

Die Voraussetzungen zum Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.

2

Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde gegen die von der [X.] Landesregierung erlassene Rechtsverordnung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus vom 17. März 2020, die zuletzt durch die auf Grund von § 32 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 31 des Infektionsschutzgesetzes ([X.]) vom 20. Juli 2000 in der Fassung vom 27. März 2020 ([X.]) erlassene Sechste Verordnung der Landesregierung zur Änderung der [X.] (im Folgenden [X.] BW) geändert wurde.

3

Als Betreiberin eines Fitnessstudios in [X.] begehrt die Beschwerdeführerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, die Regelung des § 4 Abs. 1 Nr. 5 der [X.] BW bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug zu setzen, soweit darin der Betrieb von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr bis zum 3. Mai 2020 untersagt wird.

4

Sie rügt, durch die angeordnete Betriebsstillegung in ihrem Recht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt zu sein. Die Regelung des § 4 Abs. 1 der [X.] BW, die den Betrieb zahlreicher Einrichtungen untersage, sei nicht von § 28 Abs. 1 Satz 1 [X.] gedeckt. Soweit es in den Einrichtungen - wie etwa in ihrem Fitnessstudio - keine Krankheits- oder Verdachtsfälle gegeben habe, stelle sich die Betriebsuntersagung als präventive Maßnahme dar. Damit sei jedoch allein die Ermächtigungsgrundlage des § 16 [X.] einschlägig, deren Anwendung wiederum eine Entschädigungspflicht zur Folge habe. Jedenfalls genüge § 28 Abs. 1 in Verbindung mit § 32 [X.] nicht dem Bestimmtheitsgebot und den Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt in Ausprägung des Parlamentsvorbehalts. Eine Folgenabwägung müsse zu ihren Gunsten ausfallen. Durch die angegriffene Regelung brächen die Einnahmen ihres Betriebs zusammen, der deswegen in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet und insolvenzbedroht sei.

5

Die Beschwerdeführerin hat vor dem Verwaltungsgerichtshof [X.] die vorläufige Außervollzugsetzung der [X.] BW beantragt. Ihr Antrag wurde abgelehnt (vgl. VGH [X.], Beschluss vom 9. April 2020 - 1 S 925/20 -, juris).

6

Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg, da er zulässig aber unbegründet ist.

7

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 112, 284 <291>; 121, 1 <14 f.>; stRspr). Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. [X.] 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr).

8

2. Ausgehend davon kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht.

9

a) Die Verfassungsbeschwerde ist, jedenfalls soweit die angegriffene Regelung die Beschwerdeführerin selbst betrifft, zumindest nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Dies bedarf einer eingehenden Prüfung, die im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich ist.

b) Daher ist über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so schwerwiegend sein, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabweisbar machen. Bei der Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von der angegriffenen Regelung Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für die Beschwerdeführerin (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -, Rn. 8 m.w.N.; Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. April 2020 - 1 BvQ 28/20 -, Rn. 10).

aa) [X.] die einstweilige Anordnung nicht und hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, wäre die Untersagung des Betriebs von Fitnessstudios für den Publikumsverkehr zu Unrecht erfolgt. Dies führte für die Betreiber derartiger Einrichtungen zu einem schwerwiegenden und teilweise irreversiblen Eingriff in ihre durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit mit erheblich nachteiligen wirtschaftlichen Folgen.

bb) [X.] dagegen die beantragte einstweilige Anordnung und hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, hätte die beantragte einstweilige Außervollzugsetzung des § 4 Abs. 1 Nr. 5 [X.] BW eine Wiedereröffnung zahlreicher Fitnessstudios in [X.] zur Folge, was mit einer Zunahme [X.] Kontakte und damit des Risikos erneuter Infektionsketten des von Mensch zu Mensch leicht übertragbaren Corona-Virus einherginge. Dadurch würde sich - wie auch der Verwaltungsgerichtshof im angegriffenen Beschluss dargelegt hat - die Gefahr der Erkrankung vieler Personen mit teilweise schwerwiegenden und tödlichen Krankheitsverläufen sowie die Gefahr einer Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen erheblich erhöhen, obwohl dem durch eine Untersagung des Betriebs von Fitnessstudios in verfassungsrechtlich zulässiger Weise hätte entgegengewirkt werden können (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -; Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. April 2020 - 1 BvQ 28/20 -; Beschluss der [X.] des [X.] vom 10. April 2020 - 1 BvQ 31/20 -).

cc) Gegenüber den somit bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG auch verpflichtet ist (vgl. [X.] 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>), müssen die - durch die Untersagung des Betriebs für den Publikumsverkehr allerdings schwerwiegend beeinträchtigte -Berufsfreiheit und die wirtschaftlichen Interessen der Betreiber von Fitnessstudios derzeit zurücktreten. In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof [X.] im angegriffenen Beschluss angenommen, dass die wirtschaftlichen Folgen solcher Betriebsuntersagungen durch Hilfsprogramme staatlicher Stellen etwas abgemildert würden. Dem ist die Beschwerdeführerin nicht entgegengetreten. Außerdem ist die angegriffene Regelung zunächst bis zum 3. Mai 2020 befristet. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der [X.] fortgeschrieben werden muss. Hierbei ist stets unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots zu prüfen, ob die Untersagung des Betriebs von Fitnessstudios nach § 4 Abs. 1 Nr. 5 [X.] BW noch aufrechterhalten oder eine Lockerung verantwortet werden kann, wie dies durch eine Beschränkung der Untersagung des Betriebs der in § 4 Abs. 1 [X.] BW genannten Einrichtungen "für den Publikumsverkehr" im Rahmen der Fünften [X.] bereits erfolgt ist.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 899/20

28.04.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 9. April 2020, Az: 1 S 925/20, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 12 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 4 Abs 1 Nr 5 CoronaVV BW vom 27.03.2020, § 28 Abs 1 S 1 IfSG, § 28 Abs 1 S 2 IfSG, § 31 IfSG, § 32 IfSG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 28.04.2020, Az. 1 BvR 899/20 (REWIS RS 2020, 2752)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2752

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvQ 47/20 (Bundesverfassungsgericht)

Ablehnung eines Eilantrags betreffend die Begrenzung der Öffnung der Ladengeschäfte, Einkaufszentren und Kaufhäuser des Einzelhandels …


20 NE 20.1492 (VGH München)

Betriebsuntersagung eines Indoor-Spielplatzes wegen Corona-Pandemie


20 NE 20.735 (VGH München)

Wiedereröffnung von Fitness-Studio in der Corona-Pandemie


20 NE 20.782 (VGH München)

Erfolgloser Eilantrag einer Spielhallenbetreiberin gegen Corona-Schließung


1 BvR 2692/20 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Erfolglose normunmittelbare Verfassungsbeschwerde eines Disco-Club-Betreibers gegen Möglichkeit der infektionsschutzbedingten Schließung von Freizeiteinrichtungen (§ 28a …


Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.