Bundesgerichtshof, Urteil vom 13.03.2019, Az. 2 StR 597/18

2. Strafsenat | REWIS RS 2019, 9433

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Pflicht des Tatrichters zur erschöpfenden Beweiswürdigung: Geständnis und teilweise abweichende Zeugenaussage


Tenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 29. Juni 2018 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) in den Fällen II.1 bis 15 der Urteilsgründe und

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe und die Maßregel.

2. [X.] wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 15 Fällen und wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und Führungsaufsicht angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die auf die Fälle [X.] bis 15 der Urteilsgründe und auf den Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe beschränkt ist. Die Beschwerdeführerin beanstandet insbesondere, dass der Angeklagte nicht auch wegen sexuellen Übergriffs im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB verurteilt worden ist. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

2

1. Die Beschränkung der Revision der Staatsanwaltschaft auf die Schuldsprüche in den Fällen [X.] bis 15 der Urteilsgründe und auf den [X.] ist nicht wirksam, soweit auch der [X.] ausgeklammert ist.

3

Eine Beschränkung der Revision nach § 344 Abs. 1 StPO ist nur zulässig, soweit die Beschwerdepunkte nach dem inneren Zusammenhang des Urteils - losgelöst von seinem nicht angefochtenen Teil - tatsächlich und rechtlich unabhängig beurteilt werden können, ohne eine Überprüfung des Urteils im Übrigen erforderlich zu machen. Weiter muss gewährleistet sein, dass die nach [X.] stufenweise entstehende Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleiben kann (vgl. [X.], Beschluss vom 24. September 2013 - 2 StR 397/13, [X.]R StPO § 341 Abs. 1 Beschränkung 1 mwN). Die Revi-sionsbeschränkung unter Ausklammerung eines [X.]s ist deshalb unwirksam, wenn - wie hier - zugleich jedenfalls auch der Schuldspruch angegriffen wird, der von der [X.] nicht getrennt werden kann (vgl. [X.], Urteil vom 18. Juli 2012 - 2 StR 605/11, [X.], 54 mwN). Das [X.] hat die fakultative Anordnung der Maßregel der Führungsaufsicht insbesondere auch mit „der Anzahl der hier gegenständlichen Taten“ begründet. Hinzu kommt, dass sich die Anordnung von Führungsaufsicht bei der - von der Staatsanwaltschaft beabsichtigten - Verhängung einer mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafe als entbehrlich erweisen kann (vgl. [X.], Beschluss vom 8. Februar 2000 - 4 [X.], juris Rn. 5; Urteil vom 11. März 1993 - 4 StR 17/93, [X.]R StGB § 256 Führungsaufsicht 1).

4

2. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist begründet.

5

a) Das angefochtene Urteil kann in den Fällen [X.] bis 15 der Urteilsgründe keinen Bestand haben. Die Beweiswürdigung des [X.]s hält - auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs - einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand.

6

aa) In diesen Fällen hat die [X.] folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

7

Der Angeklagte begab sich erstmals Anfang Januar 2014 nachts in [X.] des [X.] [X.], legte sich zu diesem ins Bett und streichelte unter der Kleidung des [X.] dessen Penis. Im [X.] daran bat er den Nebenkläger darum, dass dieser ihn manuell befriedige, was er bis zum Samenerguss des Angeklagten tat. In den darauffolgenden Monaten kam es zunächst wiederum im [X.] des [X.], später in der Wohnung des Angeklagten in etwa monatlichen Abständen zu ähnlichen Vorfällen, wobei der Angeklagte in einigen Fällen den Nebenkläger bis zum Samenerguss brachte. In „fast allen“ Fällen ließ sich der Angeklagte überdies vom Nebenkläger selbst manuell befriedigen.

8

Die [X.] hat diese Feststellungen vor allem auf das von ihm als glaubhaft bewertete Geständnis des Angeklagten gestützt. Ihre Überzeugung von der Glaubhaftigkeit des Geständnisses hat es u.a. damit begründet, dass das Geständnis sich mit den Angaben des [X.] [X.]in seinen polizeilichen Vernehmungen, „deckt und in Teilen über das von (ihm) Bekundete sogar hinausgeht“. So habe der Nebenkläger [X.]die Taten des Angeklagten so geschildert, wie dieser sie eingeräumt habe und wie sie „oben“ festgestellt worden seien. Ausweislich des Inhalts der polizeilichen Vernehmungen des [X.] [X.]habe dieser „insbesondere“ angegeben, der Angeklagte habe „da ein bisschen rumgestreichelt [...], bis er (M.   ) davon aufgewacht sei; als er (M.   ) dann gemerkt habe, dass sein Penis dadurch hart geworden sei, habe er dem Angeklagten gesagt, dass er das nicht wolle und er gehen solle, was der Angeklagte dann auch getan habe.“

9

bb) Die Beweiswürdigung leidet mit Blick auf die Angaben des [X.] M.    [X.]an einem durchgreifenden Erörterungsmangel.

(1) Die Beweiswürdigung ist originäre Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Allein ihm obliegt es, die Ergebnisse der Hauptverhandlung festzustellen und abschließend zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein. Es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 12. Februar 2015 - 4 [X.], [X.], 148 mwN). Das Revisionsgericht hat die Beweiswürdigung des Tatrichters selbst dann hinzunehmen, wenn eine anderweitige Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. [X.], Urteile vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, [X.], 178, 179; vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13, juris Rn. 9). Es ist auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts mit Rechtsfehlern behaftet ist, weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht übereinstimmt oder sich so weit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich hierzu gezogene Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen (vgl. [X.], Urteil vom 12. Januar 2017 - 1 [X.], BeckRS 2017, 104320; Urteil vom 21. März 2013 - 3 [X.], [X.], 420, 421). Insbesondere sind die Beweise erschöpfend zu würdigen. Dabei ist der Tatrichter gehalten, sich mit den festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen ([X.], Urteil vom 5. Juli 2017 - 2 StR 110/17, juris Rn. 6 mwN).

(2) Nach diesen Maßstäben begegnet die Beweiswürdigung angesichts der als glaubhaft bewerteten - wenn auch nur kursorisch dargestellten - Aussage des [X.] durchgreifenden Bedenken. Danach ergeben sich konkrete Anhaltspunkte für einen erheblicheren Tatbeitrag des Angeklagten, als es seinem Geständnis entspricht. Dieses hätte eingehender Erörterung und erschöpfender Würdigung durch den Tatrichter bedurft (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Urteil vom 9. Dezember 1992 - 3 StR 431/92, [X.]R StPO § 261 Überzeugungsbildung 20; weitere Nachweise bei KK-StPO/[X.], 8. Aufl., § 261 Rn. 56, 92).

(a) Auf der Grundlage des festgestellten [X.] des [X.] zum [X.] kann sich das Verhalten des Angeklagten in den Fällen [X.] bis 15 der Urteilsgründe als (jeweils) tateinheitlich begangenen (vgl. [X.], Urteil vom 24. September 1991 - 5 StR 364/91, [X.]St 38, 68, 71) sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB darstellen (zum milderen Gesetz gemäß § 2 Abs. 3 StGB im Hinblick auf das zur Tatzeit geltende Recht nach § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF vgl. [X.], Beschluss vom 4. April 2017 - 3 StR 524/16, [X.], 242).

Mit dem zur Erektion führenden Streicheln des Penis des offensichtlich bereits schlafenden [X.] hätte der Angeklagte eine sexuelle Handlung an dem Nebenkläger vorgenommen (zum Schlaf als tiefgreifende Bewusstseinsstörung i.S.v. § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF vgl. [X.], Beschluss vom 21. März 2013 - 1 [X.], [X.]R StGB § 179 Abs. 1 [X.] 14; Urteil vom 24. September 1991 - 5 StR 364/91, [X.]St 38, 68, 71; zur sexuellen Handlung im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB vgl. [X.], Beschluss vom 6. Juni 2017 - 2 StR 452/16, [X.], 231 f.). An der Erheblichkeit der objektiv und subjektiv sexualbezogenen Handlungen bestehen keine Zweifel. Für die Vollendung des Tatbestandes reicht es aus, dass der Täter - wie es nach der Aussage des [X.] der Fall gewesen sein soll - mit einer sexuellen Handlung am Körper des widerstandsunfähigen Opfers begonnen hat ([X.], Urteil vom 24. September 1991 - 5 StR 364/91, [X.]St 38, 68, 71); unerheblich wäre es, dass der Nebenkläger infolge der Manipulationen des Angeklagten aufgewacht ist.

(b) Ob es - wie der [X.] meint - eher fernliegt, dass der Angeklagte eine etwaige [X.] ausgenutzt hat, unterliegt nicht revisionsgerichtlicher Überprüfung. Denn das [X.], das sich rechtsfehlerhaft nicht mit den im [X.] jeweils abweichenden Schilderungen des Angeklagten und des [X.] auseinandergesetzt hat, hat sich - auch deswegen - nicht veranlasst gesehen, entsprechende Feststellungen zur subjektiven Tatseite zu treffen.

(3) Angesichts des im Raum stehenden erheblicheren Tatbeitrags des Angeklagten kann der [X.] nicht ausschließen, dass das Urteil zum Vorteil des Angeklagten auf diesem Erörterungsmangel beruht.

b) Die Aufhebung der Verurteilungen in den Fällen II.1 bis 15 der Urteilsgründe entzieht auch der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe die Grundlage.Ferner hebt der [X.] den [X.] auf, weil die Verurteilung in den genannten Fällen ebenfalls Grund der Anordnung der Führungsaufsicht nach dem Ermessen des Gerichts gemäß § 68 Abs. 1, § 181b StGB war. Zudem kann sich die Anordnung von Führungsaufsicht bei der - mit der Revision der Staatsanwaltschaft beabsichtigten - Verhängung einer mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafe als entbehrlich erweisen (vgl. [X.], Beschluss vom 8. Februar 2000 - 4 [X.], juris Rn. 5; Urteil vom 11. März 1993 - 4 StR 17/93, [X.]R StGB § 256 Führungsaufsicht 1; vgl. auch [X.]/[X.]/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 68 Rn. 7 mwN).

Franke     

        

Appl     

        

Eschelbach

        

Zeng     

        

Meyberg     

        

Meta

2 StR 597/18

13.03.2019

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Marburg, 29. Juni 2018, Az: 3 KLs Ss 295/18

§ 261 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 13.03.2019, Az. 2 StR 597/18 (REWIS RS 2019, 9433)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 9433

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 StR 400/14 (Bundesgerichtshof)

Griff des Täters an den entblößten Penis des Geschädigten: Körperverletzung und sexuelle Nötigung mit Gewalt


4 StR 312/22 (Bundesgerichtshof)

Lückenhaftigkeit der Urteilsfeststellungen bei einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht; Voraussetzungen der …


1 StR 461/18 (Bundesgerichtshof)

Anordnung der Sicherungsverwahrung bei einem untherapierten einschlägig vorbestraften Sexualstraftäter mit pädophilen Neigungen


2 StR 400/14 (Bundesgerichtshof)


2 StR 153/18 (Bundesgerichtshof)

Voraussetzungen einer exhibitionistischen Handlung


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.