Bundessozialgericht, Urteil vom 12.09.2019, Az. B 9 V 2/18 R

9. Senat | REWIS RS 2019, 3636

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Soziales Entschädigungsrecht - Häftlingshilfe - Wohnortbeschränkung von Volksdeutschen in der ehemaligen Sowjetunion - Atomwaffenversuche in der Nähe des Wohnorts - Strahlungsbelastung als Schädigungsfolge - Geburt im Gewahrsam - Anschlussgewahrsam - Beweiswirkung der Häftlingshilfebescheinigung - Ursächlichkeit - gewahrsamseigentümliche Umstände - wertende Betrachtung - Zweck der Häftlingshilfe - besondere Betroffenheit der benachteiligten deutschen Minderheit - Zeckenbiss - allgemeines Lebensrisiko - sozialgerichtliches Verfahren - zeitliche Begrenzung des Streitgegenstands in den Vorinstanzen - Erweiterung im Revisionsverfahren - neuer Tatsachenvortrag - Sachaufklärungsrüge - Anforderungen an die Revisionsbegründung


Leitsatz

1. Eine Strahlenbelastung durch Atomwaffenversuche in der ehemaligen Sowjetunion kann einen Entschädigungsanspruch auch für solche deutschen Volkszugehörigen begründen, die der Strahlung erst im Anschlussgewahrsam nach ihrer Internierung ausgesetzt waren.

2. Nicht entschädigungspflichtig sind Umstände, die Gewahrsamsunterworfene in derselben Weise getroffen haben können wie alle anderen sowjetischen Staatsbürger oder die Bürger der Bundesrepublik.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 7. Juni 2018 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt Beschädigtenrente nach den [X.] ([X.]) iVm dem [X.] (BVG).

2

Die Eltern der Klägerin sind im Gebiet der [X.] geborene [X.] Volkszugehörige. 1944 siedelten sie in das Gebiet des damaligen [X.] über und erhielten die [X.] Staatsbürgerschaft. Ende 1945 wurden sie von dort in eine sog Sondersiedlung bei [X.]/[X.] verschleppt. Die Eltern wurden unter [X.] gestellt und mussten Zwangsarbeit verrichten. Die Klägerin wurde im Dezember 1955 in der Sondersiedlung geboren.

3

Nach dem Ende der [X.] verzog die Familie der [X.] zu Verwandten nach [X.]/[X.], das ca 150 Kilometer entfernt von dem [X.] der [X.] lag. Diese führte dort zwischen 1949 und 1989 überwiegend zu militärischen Zwecken nukleare Bombentests durch.

4

Mitte der 1970er Jahre verzog die Klägerin mit ihrer Familie nach [X.], von wo aus sie im Februar 1979 in die [X.] ausreiste. Die Klägerin ist Inhaberin einer Bescheinigung des [X.] nach § 10 Abs 4 [X.]. Darin wird die Gesamtzeit zwischen der Geburt der Klägerin und ihrer Ausreise aus der [X.] als politischer Gewahrsam iS von § 1 Abs 1 und 5 [X.] bescheinigt. Seit 1998 bezieht sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

5

Im November 2007 beantragte die Klägerin [X.] wegen körperlicher und vor allem seelischer Erkrankungen wie Depressionen, Angst, Schlafstörungen, - zumindest teilweise psychosomatischer - Schmerzen sowie einer Schilddrüsenerkrankung. Diese Gesundheitsstörungen seien durch die in der Nähe von [X.] durchgeführten [X.] [X.] und durch eine [X.] aufgrund von [X.] während ihres dortigen Aufenthalts verursacht worden.

6

Der Beklagte lehnte den Antrag nach medizinischen Ermittlungen ab. Wegen fehlender Brückensymptome ließen sich die Gesundheitsstörungen nicht auf die Einflüsse des [X.] der Klägerin in [X.] zurückführen (Bescheid vom 17.4.2008, Widerspruchsbescheid vom 27.10.2010).

7

Im Klageverfahren hat das [X.] ua ein Gutachten des Strahlenbiologen Prof. Dr. M. vom [X.] nebst ergänzender Stellungnahme vom 18.7.2013 eingeholt. Es hat von den geltend gemachten Gesundheitsstörungen allein die Schilddrüsenerkrankung der Klägerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die am Wohnort in [X.] empfangene ionisierende Strahlung zurückgeführt, wegen der guten Behandelbarkeit allerdings nicht mit einem Grad der Schädigungsfolgen ([X.]) bewertet. Der Beklagte hat daraufhin mit von der Klägerin angenommenen Anerkenntnis vom [X.] eine "Schilddrüsenunterfunktion bei [X.] infolge vermehrter Strahlenbelastung" als Schädigungsfolge anerkannt, die jedoch keinen [X.] bedinge.

8

Die darüber hinaus auf Feststellung weiterer Gesundheitsschäden und Zahlung einer Beschädigtenrente gerichtete Klage hat das [X.] abgewiesen. Zwar habe der Gewahrsam der Klägerin ihren Aufenthalt in [X.] geprägt. Auch sei davon auszugehen, dass sie dort einer erhöhten Strahlenbelastung und einer gesteigerten Zeckenbissgefahr ausgesetzt gewesen sei. Weitere Gesundheitsstörungen seien darauf aber nach dem Ergebnis der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zurückzuführen (Urteil vom 18.2.2014).

9

Das L[X.] hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zwischen den Gesundheitsschäden der Klägerin und ihrem Gewahrsam bestehe allenfalls ein mittelbarer Zusammenhang. Die Einwirkung ionisierender Strahlung auf die Klägerin in [X.] sei nicht vom Schutzbereich des § 4 Abs 1 [X.] umfasst. Die Klägerin und ihre Familie seien durch den Gewahrsam nach Ende der [X.] nicht gehindert gewesen, ihren Wohnsitz in sicherer Entfernung vom [X.] zu nehmen. Die mögliche Unkenntnis von der Strahlengefahr beruhe ebenfalls nicht auf dem Gewahrsam, sondern auf der gezielten Desinformation der [X.] Behörden. Diese habe sich nicht speziell gegen die Menschen im Gewahrsam, sondern unterschiedslos gegen die gesamte Wohnbevölkerung gerichtet. Ebenso wenig sei nachvollziehbar, warum für die Klägerin durch ihr Leben in [X.] ein erhöhtes Risiko für einen Zeckenbiss bestanden haben sollte, weder im Vergleich zu einem gedachten Leben in der [X.] noch erhöht gegenüber der übrigen Wohnbevölkerung in [X.]. Unabhängig davon könne die Klägerin die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen auch deshalb nicht verlangen, weil es nicht wahrscheinlich sei, dass die weiteren von ihr geltend gemachten Gesundheitsstörungen durch ionisierende Strahlung verursacht worden seien. Das ergebe sich insbesondere aus dem vom [X.] eingeholten strahlenbiologischen Gutachten des Prof. Dr. M. nebst ergänzender Stellungnahme (Urteil vom 7.6.2018).

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 4 Abs 1 [X.]. Ohne ihre politische Ingewahrsamnahme in [X.] wäre sie keiner erhöhten Strahlung infolge der [X.] Atomwaffenversuche ausgesetzt gewesen und hätte nicht die geltend gemachten Gesundheitsschäden erlitten. Der Gesetzgeber habe dies im [X.] dem Grunde nach auch anerkannt, weil er für Schäden die [X.] Verantwortung übernehmen und haften wolle, die Volks[X.]n während ihres politischen [X.] entstanden seien. Zudem habe das L[X.] seine Aufklärungspflicht nach § 103 [X.]G verletzt, weil es das übersandte Material über Strahlenbelastungen in [X.] aus dem "Dispensarium Nr. 4" nicht ausgewertet und daher auch eine mögliche Schädigung im Mutterleib bzw als Kleinkind in [X.] nicht geprüft habe.

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des [X.] vom 7. Juni 2018 und des [X.] vom 18. Februar 2014 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 17. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Oktober 2010 und des [X.] vom 25. April 2013 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin wegen ihrer Angsterkrankung, ihres depressiven und psychovegetativen Syndroms sowie ihrer Herz- und Kreislaufbeschwerden als Folge ihres Aufenthalts in [X.]/[X.] ab 1. November 2007 Beschädigtenrente nach den [X.] iVm dem [X.] zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene L[X.]-Urteil. Die von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsstörungen könnten (über das Teilanerkenntnis hinaus) nicht kausal auf mögliche Schädigungen während des [X.] in [X.] zurückgeführt werden.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 [X.]G). Wie der Beklagte und die Vorinstanzen zu Recht angenommen haben, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung weiterer Schädigungsfolgen und daher auch nicht auf Zahlung einer Beschädigtenrente nach § 4 Abs 1 [X.] iVm §§ 30, 31 [X.].

1. Streitgegenstand ist ein Anspruch der Klägerin auf Feststellung weiterer Gesundheitsschäden durch ihren Aufenthalt im Gebiet von [X.] und Gewährung einer Beschädigtenrente, den der Beklagte mit Bescheid vom 17.4.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.10.2010 (§ 95 [X.]G) sowie des [X.] vom [X.] und die Vorinstanzen verneint haben. Mit ihrem Revisionsantrag hat die Klägerin klargestellt, dass der Streitgegenstand allein auf die [X.] ihres Aufenthalts in [X.] beschränkt ist.

2. Der geltend gemachte Entschädigungsanspruch besteht nicht. Die Klägerin gehört zwar nach § 1 Abs 1 und Abs 5 [X.] zum Personenkreis, der Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem [X.] iVm dem [X.] haben kann (dazu unter a). Über die vom Beklagten bereits als Schädigungsfolge anerkannte Schil[X.]rüsenerkrankung hinaus hat die Klägerin jedoch keine weitere gesundheitliche Schädigung iS von § 4 Abs 1 [X.] infolge des [X.] erlitten (dazu unter b).

a) Die Klägerin gehört zum geschützten Personenkreis nach § 1 [X.] idF des [X.] ([X.] 838). Dies ergibt sich für jedermann und damit auch für die Beteiligten gemäß § 10 Abs 4 [X.] mit Beweiswirkung aus der Bescheinigung des [X.] vom 24.6.1981 (zur Bindungswirkung der [X.]-Bescheinigung s allg [X.] vom [X.] - 9a [X.]/82 - juris Rd[X.] 10; [X.] Urteil vom 26.7.1978 - [X.] 72.77 - [X.] 412.6 § 10 [X.] [X.] 12 S 5). Danach befand sich die Klägerin vom [X.]punkt ihrer Geburt im Dezember 1955 in der Sondersiedlung in [X.]/[X.] in Gewahrsam iS von § 1 Abs 1 [X.] 1 [X.], weil sie dort iS von Abs 5 Satz 1 der Vorschrift zusammen mit ihren Eltern auf eng begrenztem Raum unter dauernder Bewachung festgehalten wurde. Anschließend lebte die Klägerin bis zu ihrer Ausreise am [X.] in [X.] im sog [X.] gemäß § 1 Abs 5 Satz 2 [X.]; denn bis dahin war sie an der Rückkehr in die [X.] gehindert.

Entgegen der Ansicht des [X.] sind die genannten Vorschriften zur Begründung dieser Rechtsfolge nicht analog anzuwenden. Zwar ist die Klägerin nicht in Gewahrsam genommen oder gegen ihren Willen in ausländisches Staatsgebiet verbracht, sondern dort geboren worden. Sie ist aber nicht in Freiheit, sondern in den Gewahrsam hineingeboren worden, der in der Person ihrer Eltern bestand. Von ihnen war sie rechtlich und wirtschaftlich vollkommen abhängig und teilte deshalb auch deren rechtliches Schicksal. Das gilt nicht nur für die - versorgungsrechtlich geschützte - besondere Gefahrenlage des [X.], sondern genauso für den folgenden [X.] (vgl [X.] Urteil vom [X.] - 8 C 8/78 - [X.]E 60, 343, 353 f; [X.] Urteil vom 28.10.1983 - 8 C 38/82 - [X.] 412.6 § 1 [X.] [X.] 26 S 3; vgl zur Internierung Senatsurteil vom [X.] - zur Veröffentlichung in [X.] und [X.] 4-3100 § 1 [X.] vorgesehen, Rd[X.] 21).

b) Über die vom Beklagten bereits anerkannte Schil[X.]rüsenerkrankung hinaus hat die Klägerin jedoch keine weitere gesundheitliche Schädigung infolge des [X.] iS von § 4 Abs 1 [X.] (idF des [X.], [X.] 1114) erlitten, für deren gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen sie Entschädigung verlangen könnte. Die geltend gemachten (weiteren) Strahlenschäden sind nicht durch die Umstände des [X.]s in [X.] verursacht worden. Zwar ist der [X.] als wesentlich für die Einwirkung ionisierender Strahlungen auf die Klägerin während ihres Aufenthalts in [X.] anzusehen (dazu unter aa und [X.]). Hingegen lassen sich die von der Klägerin angeführten Zeckenbisse nicht auf ihren [X.] zurückführen (dazu unter [X.]). Es lässt sich - wie das [X.] zu Recht entschieden hat - nicht nachweisen, dass die ionisierende Strahlungseinwirkung - über die bereits als Schädigungsfolge anerkannte Schil[X.]rüsenerkrankung hinaus - mit Wahrscheinlichkeit iS von § 4 Abs 5 Satz 1 [X.] weitere Gesundheitsstörungen verursacht hat (dazu unter [X.]). Zulässige und begründete Verfahrensrügen hiergegen hat die Klägerin nicht erhoben (dazu unter ee).

aa) Voraussetzung für einen Versorgungsanspruch der Klägerin nach § 4 Abs 1 [X.] ist das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen schädigenden Vorgang infolge des [X.] herbeigeführt worden ist. Ein solcher schädigender Vorgang bzw schädigendes Ereignis infolge des [X.] muss eine Gesundheitsschädigung (iS eines Primär- oder Erstschadens) verursacht haben. Sie muss wiederum die geltend gemachten gesundheitlichen Schädigungsfolgen - also die verbliebenen Gesundheitsstörungen - wesentlich bedingt haben, deren Feststellung als Versorgungsleiden die Klägerin durch die [X.] begehrt. Dabei müssen sich die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang infolge des [X.], Schädigung und Schädigungsfolgen) im Vollbeweis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lassen, während für den ursächlichen Zusammenhang zwischen ihnen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreicht (vgl Senatsurteil vom [X.] - aaO, Rd[X.] 33 mwN).

Eine Gesundheitsschädigung kann nur dann einen Entschädigungsanspruch nach § 4 Abs 1 [X.] begründen, wenn sie durch Umstände des [X.] iS der auch in der Kriegsopferversorgung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung verursacht worden ist (vgl Senatsurteil vom 8.5.1981 - 9 RV 24/80 - juris Rd[X.] 22; zur Kriegsgefangenschaft vgl [X.] vom [X.] - 10 RV 234/71 - juris Rd[X.] 17 mwN). Nicht alle Umstände des [X.] kommen als geeignete Ursachen im Rechtssinne infrage, sondern - wie das [X.] zu Recht angenommen hat - nur solche, die als gewahrsamseigentümlich in den Schutzbereich des § 4 Abs 1 [X.] fallen. Dies sind nur diejenigen Umstände, die dem Gewahrsam seiner Art nach als spezifische Gefahren eigentümlich zuzurechnen sind und vor deren Folgen das Gesetz die [X.]unterworfenen deshalb schützen soll. Insbesondere ein rein zeitlicher Zusammenhang, also eine Schädigung während des [X.], genügt für sich genommen nicht. Allein das Andauern einer Freiheitsbeschränkung reicht daher noch nicht aus, zumal nicht bei dem vom Gesetz weit gefassten [X.] iS von § 1 Abs 5 Satz 2 [X.], der während des gesamten erzwungenen Aufenthalts im fremden Staatsgebiet fortbesteht. Als gewahrsamseigentümliche spezifische Gefahren sind deshalb nicht unterschiedslos alle Lebensumstände während des erzwungenen Auslandsaufenthalts zu berücksichtigen, sondern nur solche, die für den Betroffenen persönlich durch den Gewahrsam geprägt gewesen sind, weil sie sich aus seiner besonderen Eigenart ergeben und daher eng mit ihm zusammenhängen. Einwirkungen, die jeden anderen Staatsbürger im [X.]gebiet als Teil des allgemeinen Lebensrisikos in derselben Weise treffen können, genügen dagegen regelmäßig nicht. Ausnahmsweise können aber auch landeseigentümliche Umstände als gewahrsamstypisch im anspruchsbegründenden Sinn zu werten sein, wenn die Betroffenen Opfer einer Besonderheit geworden sind, die für sie in [X.] so nicht bestanden hätte (vgl [X.] vom [X.] - 9a [X.]/82 - juris Rd[X.] 12 und 15 mwN).

[X.]) Nach diesem Maßstäben erfolgte die Einwirkung ionisierender Strahlungen durch die [X.] Atomwaffentests auf die Klägerin während ihres Aufenthalts in [X.] infolge ihres dortigen [X.]s. Bei wertender Betrachtung stellt dieser Gewahrsam eine im Rechtssinne wesentliche Bedingung für diese Strahlenbelastung dar, weil ein spezifischer Ursachenzusammenhang zu seiner besonderen freiheitsbeschränkenden Eigenart anzunehmen ist. Nach der Rechtsprechung des [X.] (Urteil vom [X.] - 8 C 8/78 - [X.]E 60, 343, 352; Urteil vom 26.7.1978 - [X.] 72.77 - [X.] 412.6 § 10 [X.] [X.] 12 S 14) setzt ein [X.] einen Rückkehrwillen der Betroffenen voraus. Denn ohne ihn können sie nicht iS von § 1 Abs 5 Satz 2 [X.] an der Rückkehr in die [X.] gehindert gewesen sein. Während ihres [X.]s in [X.] befanden sich die Klägerin und ihre Familie trotz einer Lockerung ihrer Aufenthaltsbeschränkungen weiterhin in einer schicksalhaften besonderen Zwangslage. Sie konnten sich der dortigen atomwaffentestbedingten ionisierenden Strahlung nicht durch die angestrebte Rückkehr in die [X.] entziehen. Die Strahlungseinwirkung aufgrund der [X.] Atomwaffentests war dem [X.] somit nach [X.], Raum, Ort und Art unmittelbar zuzurechnen und für die Betroffenen damit persönlich zwingend verbunden (vgl zur Internierung Senatsurteil vom [X.] - aaO, Rd[X.] 36 mwN).

Entgegen der Ansicht des [X.] kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die in Gewahrsam genommenen Russlan[X.]eutschen ihren Wohnsitz möglicherweise innerhalb des ihnen im Rahmen des [X.]s erlaubten Gebiets in der [X.], aber in sicherer Entfernung von dem Atomwaffentestgelände hätten nehmen können. Ob ihnen ein solcher Umzug wegen des in der [X.] allgemein geltenden Systems der [X.] (Wohnsitzgenehmigung) tatsächlich und rechtlich überhaupt ohne weiteres möglich gewesen wäre (s hierzu Senatsurteil vom heutigen Tage - [X.] V 4/18 R - zur Veröffentlichung in [X.] vorgesehen), kann daher dahingestellt bleiben. Denn zum einen bestand für die Betroffenen hierfür kein Anlass, weil sie damals noch keine (sichere) Kenntnis von der gesundheitsschädlichen Wirkung der durch die Atomwaffentests erzeugten ionisierenden Strahlung hatten, und zum anderen war ihr eigentliches Ziel nicht die Verlagerung oder Verfestigung ihres Wohnsitzes an einem Ort innerhalb des für den [X.] erlaubten Gebiets der [X.], sondern allein die Rückkehr in die [X.].

Für den Senat bindend festgestellt hat das Berufungsgericht zwar, dass die Wahl des Wohnorts [X.] durch die Eltern der Klägerin darauf beruhte, dass Verwandte dort wohnten. [X.] bleiben kann, ob damit - wie das [X.] offenbar angenommen hat - eine freie Entscheidung hinsichtlich eines Wohnortwechsels im "erlaubten Gebiet" innerhalb der [X.] deutlich wird. Unabhängig von dem auch für [X.] Volkszugehörige in der [X.] geltenden System der [X.] könnten hier bereits deshalb Zweifel bestehen, weil das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der [X.] vom [X.] "Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der [X.] und der Mitglieder ihrer Familien, die sich in [X.] befinden" (abgedruckt bei [X.]/[X.], Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. [X.] in der [X.] 1941 bis 1956, 1996, 454 f) zwar die durch die [X.] bedingten (Freiheits-)Einschränkungen beseitigte, nicht aber die Beschlagnahme des Vermögens der Russlan[X.]eutschen bei ihrer Deportation. Darüber hinaus durften sie nicht mehr in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren (vgl hierzu auch [X.], Geschichte der Russlan[X.]eutschen, 2014, [X.]). Vor diesem wirtschaftlichen, [X.] und rechtlichen Hintergrund blieb den weitgehend mittellosen deportierten [X.] und [X.]n [X.] nach Aufhebung der Kommandanturaufsicht möglicherweise kaum eine andere Wahl, als - soweit vorhanden - zu Verwandten in den ihnen "erlaubten ([X.]-)Gebieten" zu ziehen und dort bis zur (erhofften) Aufhebung der Rückkehrverhinderung nach [X.] zu verbleiben. Im Übrigen hat das [X.] auch nicht festgestellt, welchen (strahlungs-)sicheren und erlaubten Wohnort die Klägerin und ihre Familie außerhalb des Gebiets von [X.] konkret hätten wählen können.

Die gesundheitlichen Gefahren durch atomwaffentestbedingte Strahlung kann für Anspruchsberechtigte nach dem [X.] auch nicht allein deshalb als Teil ihres entschädigungslos hinzunehmenden allgemeinen Lebensrisikos gewertet werden, weil die [X.] auch andere Bevölkerungsgruppen solchen Gefahren ausgesetzt hat. Dem System der [X.] und seiner gerade auch gegenüber [X.]n [X.] nach freiheitlich-demokratischer Auffassung als willkürlich zu wertenden Politik (vgl zu diesem Maßstab [X.] Urteil vom 28.10.1983 - 8 C 38/82 - [X.] 412.6 § 1 [X.] [X.] 26 S 2 mwN) war die Klägerin während ihres [X.] in der [X.] als Angehörige dieser gezielt benachteiligten [X.]n Minderheit in besonderem Maße ausgeliefert. Die Klägerin konnte sich dieser staatlichen Willkür insbesondere nicht durch die gewünschte Rückkehr nach [X.] entziehen. Gerade dies machte die spezifische freiheitsbeschränkende Eigenart ihres [X.]s iS eines Sonderschicksals der Volks[X.]n aus (vgl [X.] Urteil vom [X.] - 8 C 8.78 - [X.]E 60, 343, 347). Daher traf die Strahlenbelastung sie bei der durch das [X.] und seiner Zweckbestimmung (vgl hierzu Begründung der Bundesregierung vom 11.6.1955 zum Gesetzentwurf des [X.], BT-Drucks 2/1450 S 5; [X.] vom [X.] - 9 RV 946/58 - [X.] 14, 50, 53 = [X.] [X.] 1 zu § 1 [X.]) gebotenen wertenden Betrachtung auch nicht in derselben Weise wie alle anderen nicht[X.]n Bevölkerungsgruppen, die sich in [X.] aufhielten.

[X.]) Die von der Klägerin angeführten Zeckenbisse lassen sich dagegen nicht auf ihren [X.] in [X.] zurückführen. Das [X.] konnte bereits nicht feststellen, ob die Klägerin schon während ihres dortigen [X.]s oder erst danach in der [X.] Kontakt zu Zecken gehabt hat. Zudem scheidet insoweit ein spezifischer Ursachenzusammenhang zwischen dem [X.] in [X.] und den (gedachten) Zeckenbissen aus. Dass das Risiko von Zeckenbissen als Teil des allgemeinen Lebensrisikos in der [X.] gerade aufgrund des [X.]s [X.] Volkszugehörige anders und in höherem Ausmaß getroffen haben sollte als andere Bevölkerungsgruppen in der [X.] oder die Bevölkerung in der [X.], wird von der Klägerin nicht geltend gemacht und ist für den Senat auch sonst nicht ersichtlich.

[X.]) Obwohl der [X.] damit als wesentlich für die Einwirkung ionisierender Strahlungen auf die Klägerin während ihres Aufenthalts in [X.] anzusehen ist, lässt sich nicht nachweisen, dass diese Strahlung - über die bereits als Schädigungsfolge anerkannte Schil[X.]rüsenerkrankung hinaus - mit Wahrscheinlichkeit iS von § 4 Abs 5 Satz 1 [X.] weitere Gesundheitsstörungen verursacht hat. Das ergibt sich aus den Feststellungen des [X.], die es auf das Gesamtergebnis des Verfahrens und insbesondere auf die bereits in der ersten Instanz eingeholten Sachverständigengutachten auf psychiatrischem und strahlenbiologischem Gebiet gestützt hat. Diese Feststellungen des [X.] binden den Senat nach § 163 [X.]G auch hinsichtlich der von der Vorinstanz mit sachverständiger Hilfe vorgenommenen Kausalitätsprüfung (vgl [X.] vom [X.] [X.] 118, 255 = [X.] 4-5671 Anl 1 [X.] 2108 [X.] 6, Rd[X.] 20 mwN).

ee) Verfahrensrügen, mit welchen die Klägerin die nach § 163 [X.]G bestehende Bindung an die tatrichterlichen Feststellungen des [X.] - insbesondere zur (fehlenden) Kausalität nach § 4 Abs 5 Satz 1 [X.] - hätte beseitigen können, hat sie nicht erhoben.

(1) Das gilt zunächst für die zumindest sinngemäß erhobene Rüge der Klägerin einer Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung durch das [X.]. Das [X.] entscheidet gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 [X.]G nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist in seiner Beweiswürdigung frei und lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden. Das dem Gericht insofern eingeräumte Ermessen kann das Revisionsgericht nur begrenzt überprüfen. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind erst überschritten, wenn das [X.] gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt, aber auch, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (Senatsurteil vom 18.11.2015 - [X.] V 1/14 R - [X.] 120, 89 = [X.] 4-3800 § 1 [X.] 22, Rd[X.] 23 mwN).

Solche Mängel, die auch bei einer aus anderen Gründen zugelassenen Revision nur auf Rüge zu überprüfen sind (vgl [X.] vom [X.] - B 2 U 16/08 R - juris Rd[X.] 16), macht die Klägerin mit ihrer Revision weder ausdrücklich noch konkludent geltend. Sie geht auch nicht näher ein auf die Frage eines Kausalzusammenhangs zwischen der Strahlenbelastung der Klägerin und weiterer Erkrankungen als derjenigen der Schil[X.]rüse, die das [X.] verneint hat.

(2) Soweit die Klägerin mit ihrer Revision ausdrücklich rügt, das [X.] habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 [X.]G) unterlassen, trotz des bereits von Amts wegen eingeholten strahlenbiologischen Gutachtens weiter zu ihrer Strahlenbelastung und deren gesundheitlichen Folgen zu ermitteln, hat sie es versäumt, iS von § 164 Abs 2 Satz 3 [X.]G die Tatsachen zu bezeichnen, die den Mangel ergeben sollen.

Notwendig hierfür wäre eine Darlegung gewesen, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (Senatsurteil vom 11.12.2008 - [X.] VS 1/08 R - [X.] 102, 149 = [X.] 4-1100 Art 85 [X.] 1 = juris Rd[X.] 69; [X.] vom [X.] - 11b [X.] - [X.] 1500 § 164 [X.] 31 S 49 f). Der Revisionskläger muss dafür nicht nur im Einzelnen die zu ermittelnden Tatsachen bezeichnen, sondern darüber hinaus darlegen, wann und in welcher Form er diese Tatsachen in der Berufungsinstanz so vorgebracht hat, dass sich das [X.] aufgrund des [X.] zu einer weiteren Tatsachenermittlung hätte gedrängt fühlen müssen. Zu den erforderlichen Darlegungen der Rüge gehört es auch, konkrete Beweismittel zu benennen, deren Erhebung sich dem [X.] hätte aufdrängen müssen. Es ist ferner darzulegen, zu welchem Ergebnis nach Auffassung des Revisionsklägers die für erforderlich gehaltenen Ermittlungen geführt hätten (Senatsurteil vom 11.12.2008 - [X.] VS 1/08 R - aaO mwN).

Diese Anforderungen erfüllt die Revisionsbegründung nicht. Die Klägerin begründet ihre Sachaufklärungsrüge damit, das [X.] hätte ermitteln müssen, ob sie bereits im Mutterleib oder als Säugling in [X.]/[X.] durch radioaktive Strahlung infolge der Atomwaffentests in [X.] gesundheitlich dauerhaft geschädigt worden sei. Sie legt indes schon nicht dar, wann und wie sie die zugrunde liegenden Tatsachen im Berufungsverfahren in geeigneter Weise vorgebracht hat. Dort hat sie vielmehr als schädigende Ursache weiterer insbesondere strahlenbedingter Erkrankungen nur die Einwirkungen in [X.] geltend gemacht. Das [X.] hat - wie auch bereits das [X.] - seine Ermittlungen folgerichtig auf diesen [X.] beschränkt. Der Revisionsantrag hat diese zeitliche Begrenzung des [X.] bestätigt. Streitgegenstand bleibt danach allein das Entschädigungsbegehren aufgrund dieses bestimmten und zeitlich begrenzten Sachverhalts (vgl hierzu [X.] vom 6.4.2011 - B 4 [X.]/10 R - [X.] 108, 86 = [X.] 4-1500 § 54 [X.] 21, Rd[X.] 28 mwN), und zwar ausschließlich des Aufenthalts in [X.] und die gesundheitsschädliche Strahlungseinwirkung durch die [X.] Atomwaffentests auf dem in der Nähe gelegenen Testgelände.

Angesichts dessen fehlt es an der Darlegung, warum es sich bei dem [X.] zu einer möglichen Schädigung der Klägerin bereits im Mutterleib bzw als Kleinkind durch eine atomwaffentestbedingte Strahlungseinwirkung bereits in dem sehr weit vom Testgelände in [X.] gelegenen sibirischen [X.] in den Jahren 1955 und 1956 nicht um einen neuen Tatsachenvortrag handelt. Denn neues tatsächliches Vorbringen ist in der Revisionsinstanz grundsätzlich unbeachtlich, wie sich ebenfalls aus der von § 163 [X.]G angeordneten Bindung des [X.] an die tatrichterlichen Feststellungen ergibt (vgl [X.] vom [X.] = [X.] 89, 250, 252 = [X.] 3-4100 § 119 [X.] 24 S 123; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 163 Rd[X.] 5). Ebenso wenig benannt hat die Klägerin ein hinreichend konkretes Beweismittel oder das voraussichtliche Ergebnis der von ihr diesbezüglich für nötig gehaltenen weiteren Ermittlungen.

3. [X.] ergibt sich aus § 193 [X.]G.

Meta

B 9 V 2/18 R

12.09.2019

Bundessozialgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: V

vorgehend SG Hannover, 28. Februar 2014, Az: S 18 VE 52/10, Urteil

§ 1 Abs 1 Nr 1 HHG, § 1 Abs 5 S 1 HHG, § 1 Abs 5 S 2 HHG, § 4 Abs 1 HHG, § 4 Abs 5 S 1 HHG, § 10 Abs 4 HHG, § 103 SGG, § 128 SGG, § 163 SGG, § 164 Abs 2 S 3 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 12.09.2019, Az. B 9 V 2/18 R (REWIS RS 2019, 3636)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 3636

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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