Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.10.2011, Az. VI R 64/10

6. Senat | REWIS RS 2011, 2634

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Gegenstand

(Inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 06.10.2011 VI R 56/10 - Keine Anwendung der 1 %-Regelung bei Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte - Nutzung eines betrieblichen Fahrzeugs - Anscheinsbeweis)


Leitsatz

1. NV: Die Anwendung der 1 %-Regelung setzt voraus, dass der Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer tatsächlich einen Dienstwagen zur privaten Nutzung überlassen hat (Anschluss an Senatsurteil vom 21. April 2010 VI R 46/08, BFHE 229, 228, BStBl II 2010, 848). Denn der Ansatz eines lohnsteuerrechtlich erheblichen Vorteils rechtfertigt sich nur insoweit, als der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer gestattet, den Dienstwagen privat zu nutzen .

2. NV: Allein die Gestattung der Nutzung eines betrieblichen Fahrzeugs für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte begründet noch keine Überlassung zur privaten Nutzung i.S. des § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG .

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob die Einnahmen des [X.] und Revisionsklägers (Kläger) aus nichtselbständiger Arbeit im [X.] um einen geldwerten Vorteil für die private Nutzung betrieblicher Fahrzeuge zu erhöhen sind.

2

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielt als Verkäufer des Autohauses … GmbH (GmbH) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die Klägerin erzielte ebenfalls Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die GmbH vertreibt in ihren Filialen PKW der Marken [X.] und [X.]. Der Kläger ist in der Filiale [X.] beschäftigt. Die GmbH hält für die berufliche Nutzung durch die Verkäufer auf die Firma zugelassene Vorführwagen vor. Bei Bedarf kommen in jeder Filiale auch Vorführwagen der anderen Standorte zum Einsatz. Für die Vorführwagen werden keine Fahrtenbücher geführt. Die Rechte und Pflichten des [X.] in Bezug auf diese Wagen ergeben sich aus der Anlage II "Vorführwagen-Regelung" zum Arbeitsvertrag. Die Geschäftsleitung legt Fahrzeugtyp, Ausstattung und Zubehör der Vorführwagen fest. Der Vorführwagen steht dem Kläger für Probe-, Vorführ- und Besuchsfahrten zur Verfügung. Nach Ziffer 3.4 der Anlage II zum Arbeitsvertrag ist die private Nutzung des Vorführwagens verboten. Nach Ziffer 4 war der Kläger verpflichtet, ein Fahrtenbuch zu führen und dieses der Geschäftsleitung regelmäßig zur Einsichtnahme vorzulegen. Laut Ziffer 5 hatte der Kläger Benzinkosten für Fahrten, die außerhalb des geschäftlichen Bereichs liegen, selbst zu tragen. Wegen eines Verstoßes gegen die arbeitsvertragliche Nutzungsregelung hat die GmbH am 27. Oktober 2005 einen anderen Verkäufer schriftlich abgemahnt. Dieser hatte während seiner Urlaubszeit einen Vorführwagen auf Rechnung der GmbH an der [X.] in unmittelbarer Nähe einer Filiale des [X.] betankt.

3

Für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte darf der Kläger die Vorführwagen aus dem niedrigen Preissegment aufgrund einer mündlich erteilten Gestattung nutzen. Die GmbH führte insoweit eine Lohnversteuerung auf Grundlage des § 8 Abs. 2 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch, wobei sie einen Bruttolistenpreis von 23.000 € zugrunde legte. Als privates Kraftfahrzeug stand den Klägern in dem Streitjahr ein [X.] … zur Verfügung, der … mit einem Kilometerstand von ca. 111 500 km gekauft und … mit einem Kilometerstand von ca. 126 600 km abgegeben worden war. Ferner konnte der Kläger nach seinen Angaben einen [X.] nutzen, der auf … zugelassen gewesen war.

4

Im [X.] an eine Lohnsteuer-Außenprüfung bei der GmbH ging der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) von einer privaten Nutzung(smöglichkeit) der Vorführwagen durch den Kläger aus. Er änderte den Einkommensteuerbescheid des [X.] nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung und setzte in dem nunmehr angefochtenen Einkommensteuerbescheid vom 10. Oktober 2006 hierfür bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit des [X.] einen zusätzlichen geldwerten Vorteil in Höhe von 2.962 € an. Da nicht mehr geklärt werden konnte, welche Vorführwagen dem Kläger zuzurechnen waren, schätzte das [X.] die geldwerten Vorteile ausgehend von einem für 1998 ermittelten durchschnittlichen Bruttolistenpreis der Vorführwagen des niedrigen Preissegments von 45.000 DM, der um jährlich 5 % erhöht wurde. Auf diese Bruttolistenpreise wendete das [X.] die sogenannte 1 %-Regelung (§ 8 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG) bzw. den Prozentsatz für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (§ 8 Abs. 2 Satz 3 EStG) an.

5

Die Einnahmeerhöhung setzt sich wie folgt zusammen:                         

6

  

2003

Bruttolistenpreis

29.300,00 €

1 %-Regelung

2.637,00 €

Fahrten Wohnung - Arbeitsstätte (0,03 %) 

325,38 €

Summe

2.962,00 €

                                               

7

Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos (Einspruchsbescheid vom 12. Oktober 2007). Obgleich die Geschäftsleitung der GmbH im Einspruchsverfahren gegenüber dem [X.] erklärte, dass das Nutzungsverbot durch das Festhalten der Kilometerstände der Vorführwagen in den jeweiligen Filialen wöchentlich überprüft und diese per Fax an die Hauptniederlassung übermittelt würden, ging das [X.] von einem Anscheinsbeweis für eine private Nutzung der Vorführwagen aus. Dieser werde angesichts der unzureichenden Überwachung des arbeitsvertraglichen Verbots nicht erschüttert. Die hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg.

8

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Das [X.] habe die Reichweite des Anscheinsbeweises verkannt. Außerdem verstoße das angefochtene Urteil gegen den klaren Inhalt der Akten.

9

Die Kläger beantragen,

das Urteil des [X.] ([X.]) vom 11. März 2010  1 K 383/07, die Einspruchsentscheidung vom 12. Oktober 2007 sowie den geänderten Einkommensteuerbescheid für das [X.] vom 10. Oktober 2006 aufzuheben.

Das [X.] beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. 1. Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Soweit das [X.] die Einnahmen des [X.] aus nichtselbständiger Arbeit um einen geldwerten Vorteil für die private Nutzung betrieblicher Fahrzeuge erhöht hat, tragen die hierzu getroffenen Feststellungen die angefochtene Entscheidung nicht. Denn das [X.] hat die Reichweite des [X.] verkannt, der für eine Privatnutzung des Dienstwagens streitet.

2. Überlässt der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer unentgeltlich oder verbilligt einen Dienstwagen auch zur privaten Nutzung, führt das nach der ständigen Rechtsprechung des [X.]s zu einem als Lohnzufluss nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zu erfassenden steuerbaren [X.] (Urteile des [X.] --BFH-- vom 6. November 2001 [X.], [X.], 142, [X.], 370; vom 7. November 2006 [X.], [X.], 256, [X.], 116; [X.]/04, [X.], 252, [X.], 269; vom 4. April 2008 [X.], [X.], 17, [X.], 890; vom 21. April 2010 [X.]/08, [X.], 228, [X.], 848). Der Vorteil ist nach § 8 Abs. 2 Sätze 2 bis 5 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG entweder mit der Fahrtenbuchmethode oder, wenn wie im Streitfall ein Fahrtenbuch nicht geführt wird, mit der 1 %-Regelung zu bewerten.

a) Allerdings begründet § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG ebenso wenig wie § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG originär einen steuerbaren Tatbestand. Die Vorschriften regeln vielmehr nur die Bewertung eines Vorteils, der dem Grunde nach feststehen muss (BFH-Urteile vom 13. Februar 2003 [X.], [X.], 499, [X.] 2003, 472; in [X.], 256, [X.], 116, m.w.N., und vom 19. Mai 2009 VIII R 60/06, [X.], 1974). Deshalb setzt die Anwendung der 1 %-Regelung voraus, dass der Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer tatsächlich einen Dienstwagen zur privaten Nutzung überlassen hat (BFH-Urteil in [X.], 228, [X.], 848). Denn der Ansatz eines lohnsteuerrechtlich erheblichen Vorteils rechtfertigt sich nur insoweit, als der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer gestattet, den Dienstwagen privat zu nutzen. Die unbefugte Privatnutzung des betrieblichen PKW hat dagegen keinen Lohncharakter. Ein Vorteil, den sich der Arbeitnehmer gegen den Willen des Arbeitgebers selbst zuteilt, wird nicht "für" eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt und zählt damit nicht zum Arbeitslohn nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 EStG (vgl. [X.]surteile vom 11. Februar 2010 [X.], [X.], 354, BFH/NV 2010, 1016, und in [X.], 228, [X.], 848).

b) Ob und welches Fahrzeug einem Arbeitnehmer arbeitsvertraglich ausdrücklich oder doch mindestens auf Grundlage einer konkludent getroffenen Nutzungsvereinbarung auch zur privaten Nutzung überlassen ist, hat das [X.] aufgrund einer in erster Linie der Tatsacheninstanz obliegenden tatsächlichen Würdigung der Gesamtumstände festzustellen. Die Tatsachenwürdigung durch das [X.] ist, wenn sie verfahrensrechtlich ordnungsgemäß durchgeführt wurde und nicht gegen Denkgesetze verstößt oder Erfahrungssätze verletzt, revisionsrechtlich bindend (§ 118 Abs. 2 [X.]O).

3. Nach Maßgabe dieser Grundsätze hält die Tatsachenwürdigung, mit der das [X.] das Vorliegen einer privaten Nutzung bejaht hat, revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand. Denn das [X.] hat den allgemeinen Erfahrungssatz, dass zur privaten Nutzung überlassene betriebliche Fahrzeuge auch privat genutzt werden, unzutreffend dahingehend ausgedehnt, dass der Anscheinsbeweis in allen Fällen greift, in denen einem Arbeitnehmer ein betriebliches Fahrzeug zur Verfügung steht.

a) Nach der neueren Rechtsprechung des [X.]s streitet der Anscheinsbeweis jedoch lediglich dafür, dass ein vom Arbeitgeber zur privaten Nutzung überlassener Dienstwagen auch tatsächlich privat genutzt wird. Der Anscheinsbeweis streitet aber weder dafür, dass dem Arbeitnehmer überhaupt ein Dienstwagen aus dem vom Arbeitgeber vorgehaltenen Fuhrpark privat zur Verfügung steht, noch dafür, dass er einen solchen auch privat nutzen darf. Denn nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist zwar typischerweise davon auszugehen, dass ein dem Arbeitnehmer auch zur privaten Nutzung überlassener Dienstwagen von ihm tatsächlich auch privat genutzt wird. Weiter reicht dieser allgemeine Erfahrungssatz aber nicht (BFH-Urteil in [X.], 228, [X.], 848).

b) Es lässt sich insbesondere kein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts feststellen, dass Arbeitnehmer Verbote missachten und damit einen Kündigungsgrund schaffen oder sich --unter [X.] gar einer Strafverfolgung aussetzen. Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitgeber ein arbeitsvertraglich vereinbartes [X.] nicht überwacht.

c) Nach den bisher getroffenen Feststellungen des [X.] steht im Streitfall lediglich fest, dass die vom Arbeitgeber des [X.] zu Betriebszwecken vorgehaltenen Vorführwagen vom Kläger sowohl für berufliche Zwecke als auch für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte genutzt wurden. Allein die Nutzung eines betrieblichen Fahrzeugs für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte begründet indessen noch keine Überlassung zur privaten Nutzung i.S. des § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG. Der Gesetzgeber hat diese Fahrten in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG und § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG vielmehr der Erwerbssphäre zugeordnet (BFH-Urteil vom 22. September 2010 [X.], [X.], 127, [X.] 2011, 354) und den [X.] und den [X.], die nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch für diesen Lebenssachverhalt im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre kennzeichnend sind (vgl. Urteil des [X.] vom 9. Dezember 2008  2 BvL 1/07, 2 [X.], 2 BvL 1/08, 2 [X.], [X.] 122, 210), einfach-gesetzlich durch einen beschränkten Werbungskostenabzug Rechnung getragen.

4. Das [X.] wird deshalb im zweiten Rechtsgang den streitigen Sachverhalt insbesondere dahingehend weiter aufzuklären haben, ob das [X.] vorliegend nur zum Schein ausgesprochen worden ist und dem Kläger ein Vorführwagen entgegen der arbeitsvertraglichen Regelung etwa auf Grundlage einer konkludent getroffenen Nutzungsvereinbarung tatsächlich zur privaten Nutzung überlassen war. Erst wenn dies vom [X.] mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt ist, kommt der Anscheinsbeweis zum Tragen, dass zur privaten Nutzung überlassene Kraftfahrzeuge auch tatsächlich privat genutzt werden. Dann wäre weiter zu beachten, dass der allgemeine Erfahrungssatz, ein Dienstfahrzeug werde auch privat genutzt, zwar grundsätzlich auch bei einem zur Verfügung stehenden Privatfahrzeug gilt, dass aber der für die Privatnutzung sprechende Anscheinsbeweis umso leichter zu erschüttern ist, je geringer die Unterschiede zwischen dem Privat- und dem Dienstfahrzeug ausfallen (vgl. BFH-Urteile in [X.], 228, [X.], 848, und in [X.], 1974). Sollte indessen die Anwendung der 1 %-Regelung mangels festzustellender Überlassung eines Vorführwagens ausscheiden, wäre konkret festzustellen, welche PKW im Einzelnen privat genutzt wurden (BFH-Urteile in [X.], 228, [X.], 848, und vom 18. Dezember 2008 [X.], [X.], 108, [X.] 2009, 381).

5. Angesichts dessen braucht der [X.] nicht zu entscheiden, ob dem [X.] die von der Revision gerügten Verfahrensfehler unterlaufen sind ([X.]surteil vom 11. Februar 2010 [X.]/08, [X.], 421, [X.], 628, m.w.N.).

Meta

VI R 64/10

06.10.2011

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 11. März 2010, Az: 1 K 383/07, Urteil

§ 8 Abs 2 S 2 EStG 2002, § 8 Abs 2 S 3 EStG 2002, § 6 Abs 1 Nr 4 S 2 EStG 2002, § 19 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 8 Abs 2 S 1 EStG 2002, § 96 Abs 1 S 1 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.10.2011, Az. VI R 64/10 (REWIS RS 2011, 2634)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2634

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