3. Senat | REWIS RS 2020, 3693
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(Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 01.07.2020 - III R 39/18: Kindergeld für Kinder eines nach Deutschland entsandten Arbeitnehmers; Anwendung der Wohnsitzfiktion bei nachrangiger Zuständigkeit Deutschlands)
NV: Die Wohnsitzfiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann bei Personen, die nach Deutschland entsandt wurden und deshalb nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes unterliegen, dazu führen, dass der Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld nicht dem nach Deutschland entsandten Elternteil zusteht, sondern dem im anderen Mitgliedstaat zusammen mit den Kindern in einem Haushalt lebenden anderen Elternteil.
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 06.06.2018 - 8 K 179/17 (Kg) aufgehoben.
Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
I.
Streitig ist der Kindergeldanspruch für die Zeiträume Juli 2012 bis August 2012, November 2012 bis Juli 2014 und September bis November 2014.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter eines im Jahr 2009 geborenen [X.] (M). Sie hatte in den streitigen Zeiträumen weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt in der [X.] ([X.]) und wurde auch nicht nach § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.
[X.] (V) war in den streitigen Zeiträumen bei Arbeitgebern mit Sitz in [X.] beschäftigt und wurde von diesen nach [X.] entsandt.
Die Klägerin beantragte am 16.01.2016 Kindergeld und fügte eine Bescheinigung eines [X.] Einwohnermeldeamtes bei, der zufolge der Kindsvater dort am 01.11.2012 eine Wohnung bezogen habe. Ferner legte sie [X.] Einkommensteuerbescheide des Kindsvaters vor.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den [X.] mit Bescheid vom 25.11.2016 ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. In der Einspruchsentscheidung vom 26.01.2017 wies die Familienkasse darauf hin, dass die [X.] nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des [X.] ([X.] --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) --VO Nr. 883/2004 ([X.] nicht zur Anwendung komme, da weder die Klägerin noch der Kindsvater als [X.] Arbeitnehmer dem [X.] Recht unterlägen.
Das Finanzgericht (FG) wies die dagegen gerichtete Klage ab.
Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil sowie den Bescheid vom 25.11.2016 und die Einspruchsentscheidung vom 26.01.2017 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, zugunsten der Klägerin Kindergeld
für die Monate Juli bis August 2012 und November 2012 bis Oktober 2013 in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem [X.] Kindergeld und dem [X.] Kindergeld und
für die Monate November 2013 bis Juli 2014 sowie September bis November 2014 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.
Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O). Der [X.] kann aufgrund der Feststellungen des [X.] nicht beurteilen, ob der Klägerin für die Monate Juli 2012 bis August 2012, November 2012 bis Juli 2014 und September bis November 2014 ein ([X.] zusteht.
1. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) setzt der Anspruch auf Kindergeld u.a. voraus, dass der Anspruchsteller im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Diese Voraussetzungen lagen nach den Feststellungen des [X.] bei der in [X.] wohnhaften Klägerin nicht vor.
2. Aufgrund der Anwendung [X.] Rechts könnte im Streitfall jedoch zu fingieren sein, dass die Klägerin einen Wohnsitz im Inland hatte oder als nach § 1 Abs. 3 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde.
a) Nach Art. 67 Satz 1 der [X.] Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] Nr. 987/2009 ([X.] ist bei der Anwendung von Art. 7 und 68 der [X.] Nr. 883/2004, insbesondere, was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.
b) Nach dem Urteil des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) [X.] vom 22.10.2015 - [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, Leitsatz 1 und Rz 38 und 41) ergibt sich aus der in diesen beiden Bestimmungen enthaltenen Fiktion, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] Nr. 987/2009 kann daher dazu führen, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind. Voraussetzung der [X.] ist daher nach der Rechtsprechung des [X.], dass der Mitgliedstaat, in dem der Wohnsitz des in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Familienangehörigen fingiert wird, für die Erbringung der Familienleistungen zuständig ist. Rechtsfolge der [X.] ist, dass ein Anspruch, der im für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat begründet wurde, einer Person zustehen kann, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.
c) Dabei ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] Nr. 987/2009 nach dem [X.]-Urteil [X.] - [X.]/18 ([X.]:[X.], Leitsatz 1 und Rz 45 ff.) dahin auszulegen, dass er sowohl in dem Fall Anwendung findet, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in jenem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines [X.] ausbezahlt wird.
3. Im Streitfall kann der [X.] auf der Grundlage der Feststellungen des [X.] nicht entscheiden, ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass [X.] in Bezug auf den Kindsvater als vorrangig zuständiger Mitgliedstaat zur Gewährung des vollen Kindergelds oder als nachrangig zuständiger Mitgliedstaat zur Gewährung eines Differenzbetrages verpflichtet ist. Daher kann der [X.] auch nicht darüber befinden, ob der Kindsvater der Klägerin eine entsprechende Anspruchsberechtigung vermitteln konnte.
a) Dazu wäre zunächst festzustellen, ob der Kindsvater die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG erfüllte. Insbesondere wäre aufzuklären, ob der Kindsvater im Streitzeitraum einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte oder vom zuständigen Finanzamt nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wurde (§ 62 Abs. 1 Satz 1 EStG) und ob er die Identifikationsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG erfüllte, soweit der zeitliche Anwendungsbereich der letztgenannten Vorschrift im Streitfall bereits eröffnet ist.
b) Erfüllt der Kindsvater die nationalen Anspruchsvoraussetzungen, ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit sein Anspruch durch vorrangige Ansprüche für dieselben Familienangehörigen in anderen Mitgliedstaaten ausgeschlossen wird. Dies bestimmt sich nach den Prioritätsregeln des Art. 68 der [X.] Nr. 883/2004, die daran anknüpfen, ob der jeweilige Anspruch durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit, durch den Bezug einer Rente oder durch den Wohnort ausgelöst wird.
aa) Insoweit ist zu berücksichtigen, dass für die Frage, was die Ansprüche i.S. des Art. 68 Abs. 1 der [X.] Nr. 883/2004 auslöst, darauf abzustellen ist, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der [X.] Nr. 883/2004 unterstellt ist ([X.]surteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, [X.], 98, [X.], 1237, Rz 25). Im Streitfall hat das [X.] festgestellt, dass es sich bei dem Kindsvater um einen nach [X.] entsandten Arbeitnehmer handelte. Als solcher unterlag der Kindsvater nach Art. 12 Abs. 1 der [X.] Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften des Entsendestaats [X.], weshalb auch ein etwaiger Kindergeldanspruch in [X.] nicht durch die Beschäftigung ausgelöst worden wäre. Sofern auch kein Rentenbezug in [X.] festgestellt werden kann, wäre der Anspruch als durch den Wohnort ausgelöst anzusehen. Dies gilt auch für den Fall, dass der Anspruch nach nationalem Recht aufgrund einer fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG begründet wird. Denn auch dann kommt europarechtlich bei Fehlen einer Erwerbstätigkeit und eines [X.] nur eine Anspruchsauslösung durch den Wohnort in Betracht ([X.]surteil vom 22.02.2018 - III R 10/17, [X.], 214, BStBl II 2018, 717, Rz 30).
bb) Weiter ist zu prüfen, ob dem Kindsvater selbst oder der Klägerin in [X.] oder einem anderen Mitgliedstaat für dieselben Kinder und dieselben Streitzeiträume Ansprüche auf Familienleistungen zustehen. Dies ist zunächst durch Auskunftsersuchen an die jeweils zuständige Behörde des anderen Mitgliedstaats zu klären (s. dazu im Einzelnen [X.]surteil in [X.], 214, BStBl II 2018, 717, Rz 25).
cc) Besteht ein solcher Anspruch in einem anderen Mitgliedstaat, ist der durch den Wohnort ausgelöste Kindergeldanspruch in [X.] gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der [X.] Nr. 883/2004 nachrangig, wenn der Familienleistungsanspruch im anderen Mitgliedstaat durch eine Beschäftigung (insbesondere auch Entsendungstätigkeit) oder eine Erwerbstätigkeit oder durch den Bezug einer Rente ausgelöst wird. Wird der Anspruch im anderen Mitgliedstaat ebenfalls durch den Wohnort ausgelöst und ist dieser Mitgliedstaat --wie im Streitfall der Mitgliedstaat [X.]-- zugleich der Wohnort der Kinder, ist der Kindergeldanspruch in [X.] nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. iii der [X.] Nr. 883/2004 nachrangig.
dd) Im Falle der Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in [X.] wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der [X.] Nr. 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der an sich nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der [X.] Nr. 883/2004 vorgesehene Differenzbetrag muss gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] Nr. 883/2004 allerdings nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird ([X.]surteil in [X.], 214, BStBl II 2018, 717, Rz 28 f.). Diese Voraussetzungen wären im Streitfall erfüllt, da der Kindergeldanspruch in [X.] nur durch den Wohnort ausgelöst worden wäre und die Kinder in [X.] wohnen.
c) Würde der Kindsvater der Klägerin danach eine Berechtigung auf einen ([X.] vermitteln, müsste die Klägerin im zeitlichen Anwendungsbereich des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG zudem in eigener Person die nationalen [X.] erfüllen. Da aber davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber übersehen hat, dass für Anspruchsberechtigte mit europarechtlich fingiertem Wohnsitz/gewöhnlichem Aufenthalt oder mit europarechtlich fingierter fiktiv unbeschränkter Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG keine Identifikationsnummer vergeben wird, bestünden keine Bedenken, für diesen Fall die Regelung des § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG analog anzuwenden (ebenso [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], Kommentar, § 62 Rz 131). Eine Identifizierung könnte daher auch "in anderer geeigneter Weise" durchgeführt werden. Zudem müsste die Klägerin die nach § 64 Abs. 2, Abs. 3 EStG erforderlichen Voraussetzungen dafür erfüllen, dass ihr Kindergeldanspruch dem Kindergeldanspruch des Kindsvaters vorgeht.
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das [X.] hat --aus seiner Sicht zu [X.] bislang keine ausreichenden Feststellungen zur Anspruchsberechtigung des Kindsvaters, zu konkurrierenden Ansprüchen in anderen Mitgliedstaaten und zu den von der Klägerin zu erfüllenden nationalen Anspruchsvoraussetzungen getroffen. Durch die Zurückverweisung erhält das [X.] die Gelegenheit, die insoweit erforderlichen Feststellungen nachzuholen.
4. Dem Antrag der Familienkasse, den Kindsvater nach § 174 Abs. 4 und 5 der Abgabenordnung zum Verfahren beizuladen, konnte nicht entsprochen werden. Ein solcher erstmalig im Revisionsverfahren gestellter Antrag ist unzulässig (Urteile des [X.] vom 14.11.2007 - XI R 32/06, [X.], 385, Rz 32 f., und vom 11.01.2018 - X R 21/17, [X.], 529, Rz 9; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 55). Ein Fall der im Revisionsverfahren nach § 123 Abs. 1 Satz 2 [X.]O zulässigen notwendigen Beiladung (§ 60 Abs. 3 [X.]O) liegt nicht vor, wenn darüber gestritten wird, welcher der Elternteile nach § 64 EStG vorrangig und welcher nachrangig kindergeldberechtigt ist ([X.]sbeschluss vom 16.08.2012 - III B 73/11, [X.], 1825, Rz 5, m.w.N.).
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.
Meta
01.07.2020
Urteil
vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 6. Juni 2018, Az: 8 K 179/17 (Kg), Urteil
§ 62 Abs 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 S 4 EStG 2009, Art 12 Abs 1 EGV 883/2004, Art 68 Art 1 EGV 883/2004, Art 68 Abs 2 S 3 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2012, EStG VZ 2013, EStG VZ 2014, § 60 Abs 3 FGO
Zitiervorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 01.07.2020, Az. III R 13/19 (REWIS RS 2020, 3693)
Papierfundstellen: REWIS RS 2020, 3693
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
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