Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.01.2021, Az. 2 StR 188/20

2. Strafsenat | REWIS RS 2021, 9344

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REVISION (STRAFRECHT) VERFAHRENSGRUNDSÄTZE ABSOLUTE REVISIONSGRÜNDE

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Gegenstand

Revision in Strafsachen: Fehlen eines Gerichtsbeschlusses für den Ausschluss der Öffentlichkeit


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 30. Oktober 2019 mit den Feststellungen aufgehoben

a) in den Fällen [X.] bis 4 der Urteilsgründe,

b) hinsichtlich des Strafausspruchs im Übrigen sowie

c) im [X.].

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Widerstandsunfähigen in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf die [X.] der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der [X.] ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 [X.]).

I.

2

Die [X.], § 338 Nr. 6 [X.] sei verletzt, weil die Öffentlichkeit während der Vernehmung der Zeugin P.    lediglich auf Anordnung des Vorsitzenden ausgeschlossen worden sei, hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen [X.] bis 4 der Urteilsgründe (Straftaten zum Nachteil der Geschädigten P.    ) und im [X.].

3

1. Der [X.] liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4

Am [X.] vom 4. September 2019 beantragte die Zeugin [X.], während ihrer Vernehmung die Öffentlichkeit auszuschließen. Die Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und sein Verteidiger traten dem nicht entgegen. Daraufhin erging eine Anordnung des Vorsitzenden, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen werde. Sodann wurde sie ausgeführt und die Zeugin in nicht öffentlicher Sitzung zur Sache vernommen. Sie blieb unvereidigt und wurde sodann entlassen. Anschließend wurde die Öffentlichkeit wiederhergestellt.

5

2. Die [X.] ist zulässig und begründet.

6

a) Der Zulässigkeit der [X.] steht nicht entgegen, dass der Angeklagte oder sein Verteidiger die Anordnung des Vorsitzenden nicht gemäß § 238 Abs. 2 [X.] beanstandet haben. Bedarf eine Maßnahme in der Hauptverhandlung von vornherein eines Gerichtsbeschlusses (s. unten [X.]), so ist der Anwendungsbereich des § 238 Abs. 1 [X.] nicht eröffnet. Anlass für ein Verfahren nach § 238 Abs. 2 [X.] besteht deshalb nicht (vgl. [X.], Beschluss vom 25. Oktober 2011 - 3 [X.], [X.], 585).

7

b) Die [X.] ist auch begründet. Das durch das Protokoll bewiesene Vorgehen steht nicht im Einklang mit § 174 Abs. 1 Satz 2 [X.]. Danach ist vorgesehen, dass ein Beschluss, der die Öffentlichkeit ausschließt, grundsätzlich öffentlich verkündet werden muss. Vorausgesetzt ist ein Gerichtsbeschluss, nicht ausreichend ist eine Anordnung des Vorsitzenden. Damit liegt ein durchgreifender [X.] nach § 338 Nr. 6 [X.] vor ([X.], Beschluss vom 29. Juni 1984 - 2 StR 170/84, [X.], 499; Beschluss vom 1. Dezember 1998 - 4 StR 585/98, [X.], 371).

8

Für eine einschränkende Auslegung von § 338 Nr. 6 [X.] dahin, dass bei einem Antrag einer schützenswerten Person auf Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 3 Satz 1 [X.] eine Verletzung des [X.] von ihr nicht erfasst sein soll, ist nach Auffassung des [X.]s kein Raum. Der [X.] stützt seine diesbezüglichen Erwägungen auf den Beschluss des 4. Strafsenats vom 9. Mai 2019 - 4 StR 605/18 ([X.]St 64, 64), wonach das Fehlen eines den Ausschluss der Öffentlichkeit für die [X.] anordnenden Gerichtsbeschlusses dann keinen absoluten Revisionsgrund darstellt, wenn die Voraussetzungen des § 171b Abs. 3 Satz 2 [X.] vorliegen. § 171b Abs. 3 Satz 2 [X.] betrifft jedoch einen Fall, in dem das Vorliegen der Voraussetzungen nach dieser Vorschrift zwingend und ohne weitere Prüfung zum Ausschluss der Öffentlichkeit führt und auch der [X.] abschließend gesetzlich geregelt ist (SSW-[X.]/[X.], 4. Aufl., § 174 [X.] Rn. 17). Dem Verfahrensmangel eines Gerichtsbeschlusses kommt dann geringeres Gewicht zu, weil auf der Grundlage eines sicher feststehenden [X.] eine unzulässige Beschränkung der Öffentlichkeit auszuschließen und der Ausschlussgrund für alle Verfahrensbeteiligten sowie die Öffentlichkeit eindeutig erkennbar ist ([X.], Beschluss vom 9. Mai 2019 aaO, [X.]). So liegt der Fall hier nicht. Stellt eine schützenswerte Person einen Antrag nach § 171b Abs. 3 Satz 1 [X.], muss ihm (nur) stattgegeben werden, wenn die vom Gericht vorzunehmende Prüfung ergibt, dass die Voraussetzungen von § 171b Abs. 1 oder 2 vorliegen. Ist das nicht der Fall, erfolgt eine Ablehnung ebenfalls durch Beschluss ([X.]/[X.], [X.], 63. Aufl., § 171b [X.] Rn. 10; [X.]/[X.], [X.], 10. Aufl., § 171b Rn. 14).

9

c) Der dargelegte [X.] führt zur Aufhebung der Verurteilung in den Fällen [X.] bis 4 der Urteilsgründe, im [X.] sowie im [X.].

Nach der Rechtsprechung des [X.] führt ein Verstoß gegen die Regeln der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung nicht notwendig zur Aufhebung des gesamten Urteils. Bezieht sich der Vorgang, während dessen die Öffentlichkeit zu Unrecht ausgeschlossen war, nur auf einen abtrennbaren Teil des Urteils, so ist auch nur dieser Teil des Urteils aufzuheben (st. Rspr.; vgl. [X.], Beschluss vom 25. Juli 1995 - 1 StR 342/95, NJW 1996, 138 mwN). So liegt es hier. Der fehlerhaft angeordnete Ausschluss der Öffentlichkeit betrifft lediglich die Straftaten zum Nachteil der Zeugin [X.](Fälle [X.] bis 4 der Urteilsgründe) sowie auch den auch auf diese Taten gestützten [X.]. Zudem entzieht die Aufhebung von Einzelstrafen dem [X.] seine Grundlage. Im Übrigen ist ein Einfluss des Verfahrensfehlers auf die angefochtene Entscheidung denkgesetzlich ausgeschlossen.

[X.]

Die weiteren Verfahrensbeanstandungen bleiben im Ergebnis ohne (weitergehenden) Erfolg.

1. Der [X.], der Ausschluss der Öffentlichkeit für die Inaugenscheinnahme einer Videodatei zur Tat zum Nachteil der Geschädigten U.     sei nicht ordnungsgemäß begründet worden, ist aus vom [X.] in seiner Zuschrift genannten Gründen, der Erfolg versagt.

2. Auf die [X.], das [X.] habe den Angeklagten verfahrensfehlerhaft nicht auf die Möglichkeit der Anordnung einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hingewiesen, kommt es - nachdem die Anordnung der Maßregel bereits aufgrund der [X.] der Verletzung der Öffentlichkeit der Aufhebung unterliegt - nicht mehr an.

3. Die [X.], das [X.] habe versäumt, den nach § 171b Abs. 3 Satz 2 [X.] gesetzlich vorgeschriebenen Ausschluss der Öffentlichkeit während der [X.] anzuordnen, greift - soweit die übrig gebliebenen Schuldsprüche in den Fällen [X.] und [X.] 5 der Urteilsgründe betroffen sind - jedenfalls nicht durch, weil angesichts des Geständnisses des Angeklagten und der Bildaufnahmen der Taten auszuschließen ist, dass in nicht öffentlichen [X.]n noch Erhebliches hierzu hätte vorgebracht werden können (vgl. [X.], Beschluss vom 12. November 2015 - 2 [X.], [X.], 180). Ob die Verfahrensbeanstandung hinsichtlich der Strafaussprüche Erfolg haben könnte, braucht der [X.] nicht zu entscheiden, da der Strafausspruch in diesen Fällen bereits aus sachlich-rechtlichen Gründen keinen Bestand haben kann (s. unten I[X.]).

I[X.]

Die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung aufgrund der Sachrüge lässt - soweit diese nach den Verfahrensbeanstandungen Bestand hat - Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten im Schuldspruch nicht erkennen.

Hingegen erweist sich der Strafausspruch in den Fällen [X.] und [X.] 5 der Urteilsgründe als rechtlich durchgreifend bedenklich. Das [X.] hat bei der Festsetzung der Einzelstrafen nicht erörtert, dass gegen den Angeklagten zugleich Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB bedarf es insbesondere auch beim Zusammentreffen von Freiheitsstrafe und angeordneter Sicherungsverwahrung einer Gesamtwürdigung des Gewichts aller gegen einen Angeklagten verhängten Rechtsfolgen, um deren Wirkung insgesamt und damit die Schuldangemessenheit der Gesamtsanktion zu prüfen (vgl. Schäfer/[X.]/[X.], Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 724; s. auch [X.], Urteil vom 29. November 2005 - 5 [X.], [X.], 105; Urteil vom 19. Juni 2008 - 4 [X.], [X.], 3008). Dass die [X.] eine solche Würdigung hier vorgenommen hat, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen. Der [X.] kann deshalb nicht ausschließen, dass die [X.] bei rechtsfehlerfreier Würdigung niedrigere Strafen verhängt hätte.

Franke     

        

Krehl     

        

Eschelbach

        

Zeng     

        

Meyberg     

        

Meta

2 StR 188/20

21.01.2021

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Erfurt, 30. Oktober 2019, Az: 190 Js 39313/18 jug - 3 KLs

§ 171b Abs 3 S 1 StPO, § 338 Nr 6 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.01.2021, Az. 2 StR 188/20 (REWIS RS 2021, 9344)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 9344

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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