Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 30.09.2011, Az. 10 Sa 785/11

10. Kammer | REWIS RS 2011, 2741

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 15.03.2011 – 3 Ca 3193/10 – wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung.

Die am 24.06.1960 geborene Klägerin ist verheiratet. Seit 1984 ist die Klägerin, die eine Ausbildung als Physiklaborantin besitzt, bei der Beklagten mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden als Chemielaborantin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge für die chemische Industrie Westfalen Anwendung. Unter Eingruppierung in die Entgeltgruppe 9 erzielte die Klägerin zuletzt eine monatliche Bruttovergütung von rund 2.920,80 € brutto.

Die Beklagte gehört einer Unternehmensgruppe an, die weltweit an verschiedenen Standorten Latices und Acrylat-Dispersionen herstellt. Sie hat ihren Sitz in M1 und beschäftigt dort zurzeit 379 Mitarbeiter. Neben Marketing, Vertrieb und Anwendungstechnik sowie Forschung und Entwicklung unterhält die Beklagte in M1 insgesamt zwei Produktionsstätten, und zwar an der W1 (PLC) und im Chemiepark M1 (CPM).

Im Betrieb der Beklagten ist ein aus neun Personen bestehender Betriebsrat gebildet, dessen Vorsitzender Herr P1 B2 ist. Mitglied des Betriebsrats ist seit langen Jahren auch die Klägerin. Sie gehört auch zum Vertrauensleutevorstand der IG BCE. Das Betriebsratsbüro befindet sich im Chemiepark M1 (CPM), Bau 2620.

Die Beklagte unterhält einen Pool mit zurzeit sechs PKW als Dienstfahrzeugen, die unter anderem von den Betriebsratsmitgliedern ausschließlich für Dienstfahrten im Rahmen der Betriebsratstätigkeiten, z. B. für Fahrten von der Zentrale der Beklagten (PLC) in der W1 in M1 zum Chemiepark M1 (CPM) genutzt werden dürfen. Die Nutzer der Dienstfahrzeuge sind verpflichtet, ein Fahrtenbuch zu führen und für jede Fahrt Angaben über Datum, Strecke, Fahrtziel, Kilometerstand Anfang und Ende, gefahrene Kilometer etc. zu machen. Wegen der Einzelheiten zur Nutzung der Dienstwagen der Beklagten wird auf die Gesamtbetriebsvereinbarung vom 01.09.2006 über die "Zuweisung und Beschaffung von Dienstfahrzeugen, Mietwagen, Privatwagen und Bahncard" (Bl. 68 ff. d. A. 10 Sa 471/11 LAG Hamm) sowie auf die Verfahrensanweisung "Carpool P3 L1Center vom 03.03.2010 (Bl. 73 ff. d. A. 10 Sa 471/11 LAG Hamm) Bezug genommen.

Die Klägerin hat in den vergangenen Jahren ihrer Beschäftigung bei der Beklagten regelmäßig von der Möglichkeit der Nutzung eines Dienstfahrzeuges Gebrauch gemacht. In den Fällen, in denen die Klägerin unmittelbar zu Dienstbeginn einen Termin im Chemiepark M1 wahrzunehmen hatte, war es ihr von der Beklagten gestattet, das jeweilige Dienstfahrzeug am Werktag zuvor für den Heimweg zur S2 12 in M1 zu benutzen, um am nächsten Werktag von dort aus direkt zum Chemiepark M1 und wieder zurück zur Zentrale der Beklagten zu fahren. Für die von der Klägerin mit dem Dienstwagen in der Vergangenheit zurückgelegten Fahrten, die dienstlich veranlasst waren, sind mehrere von der Beklagten aufgelistete Fahrtstrecken möglich. Ob die Klägerin in der Vergangenheit den Dienstwagen zu privaten Zwecken genutzt hat, ist zwischen den Parteien streitig.

Am 03.09.2010 berichtete ein Mitarbeiter der Beklagten, den diese nicht namentlich benennt, Mitarbeitern der Personalabteilung der Beklagten, den Herren G1 und S3, darüber, dass die Klägerin wiederholt Dienstwagen der Beklagten unbefugt privat genutzt habe. Ferner wurde der Klägerin vorgeworfen, sie habe streng vertrauliche Informationen über das Unternehmen der Beklagten per E-Mail an unbefugte Dritte weitergeleitet. Am 06.09.2010 wurde auch der Geschäftsführer der Beklagten, Herr Dr. H1, von diesem Mitarbeiter über derartige Pflichtverletzungen seitens der Klägerin informiert.

Aufgrund dieser Anschuldigungen gegen die Klägerin wurden in der Zeit vom 07.09.2010 bis zum 09.09.2010 stichprobenweise einige Fahrtenbücher überprüft. Hierbei stellte die Beklagte fest, dass die Klägerin in die Fahrtenbücher Eintragungen für Dienstfahrten von der Zentrale der Beklagten (PLC) zum Chemiepark M1 (CPM) vorgenommen hat, die zum Teil von den von ihr festgestellten Kilometerangaben zu den jeweiligen Fahrtstrecken abweichen. Auf die Aufstellung der Beklagten im Schriftsatz vom 25.10.2010 (Bl. 51 d. A. 10 Sa 471/11 LAG Hamm) wird Bezug genommen.

Die Beklagte nahm ferner den Vorwurf des anonymen Mitarbeiters, die Klägerin habe streng vertrauliche Informationen über die Beklagte per E-Mail an unbefugte Dritte weitergegeben, zum Anlass, am 08.09.2010 den E-Mail-Account der Klägerin zu überprüfen. Auf das vom Personalleiter G1 gefertigte Protokoll vom 08.09.2010 (Bl. 114 d. A. 10 Sa 471/11 LAG Hamm) wird Bezug genommen. Diese Überprüfung ergab, dass die Klägerin mit E-Mail an zwei Betriebsräte in einem anderen Unternehmen die im Betrieb der Beklagten abgeschlossene Betriebsvereinbarung "Betriebliches Eingliederungsmanagement" übersandt hat.

Eine weitere E-Mail vom 20.08.2010 richtete die Klägerin an den Vertreter der im Betrieb vertretenen Gewerkschaft IG BCE, Herrn K1 B3.

Ferner wurde festgestellt, dass die Klägerin weitere E-Mails privater Natur empfangen und versandt hat.

In Ziffer 7.2 der Verfahrensanweisung "IT Sicherheitsrichtlinie für P3 L1" vom 12.08.2009 (Bl. 31 d. A.) ist unter anderem folgendes geregelt:

"Die Nutzung der erlaubten Dienste ist ausschließlich zu dienstlichen Zwecken und im ausdrücklich erlaubten Umfang zur Erledigung der Aufgaben gestattet. Eine Nutzung zu privaten Zwecken ist nicht gestattet. Der Zugriff auf Internet- und E-Mail-Dienste wird bei P3 L1 für jeden Mitarbeiter individuell geregelt"

Unter Ziffer 7.3 dieser Sicherheitsrichtlinie (Bl. 41 d. A.) heißt es:

"Die Nutzung eines dienstlichen E-Mail-Accounts für private Zwecke

ist untersagt."

Mit Schreiben vom 14.09.2010 hörte die Beklagte den in ihrem Betrieb gebildeten Betriebsrat gemäß § 103 BetrVG zu einer beabsichtigten außerordentlichen fristlosen Kündigung der Klägerin an und bat um Zustimmung. Das Schreiben vom 14.09.2010 wurde dem Betriebsratsvorsitzenden am 14.09.2010 um 8.45 Uhr übergeben. Der Betriebsrat stimmte der beabsichtigten Kündigung noch am gleichen Tage zu.

Mit Schreiben vom 15.09.2010 kündigte die Beklagte das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis fristlos mit sofortiger Wirkung. Zugleich wurde der Klägerin Hausverbot für alle Betriebsstätten der Beklagten erteilt. Das Kündigungsschreiben vom 15.09.2010 ging der Klägerin am 15.09.2010 zu.

Gegen diese Kündigung vom 15.09.2010 erhob die Klägerin am 23.09.2010 die vorliegende Kündigungsschutzklage zum Arbeitsgericht – 3 Ca 2604/10 –.

Am 27.10.2010 wurde die Klägerin zu den ihr gemachten Vorwürfen – unbefugten Privatnutzung des Dienstfahrzeugs, Weitergabe von Betriebsgeheimnissen, private E-Mail-Nutzung – persönlich angehört. In diesem Gespräch bestritt die Klägerin, Dienstfahrzeuge für private Zwecke verwendet und Betriebsgeheimnisse weitergegeben zu haben; dass sie hin und wieder privaten E-Mail-Verkehr über den dienstlichen E-Mail-Account gehabt habe, räumte sie ein, sie habe in diesem Zusammenhang unter anderem Beschäftigte der Beklagten intern über Bestell- und Abrechnungsvorgänge informiert.

Mit Schreiben vom 28.10.2010, dem Betriebsratsvorsitzenden zugegangen am 29.10.2010 um 8.50 Uhr, hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten vorsorglich auszusprechenden Verdachtskündigung an und bat um Zustimmung nach § 103 BetrVG. Diese Zustimmung erteilte der Betriebsrat noch am 29.10.2010.

Mit Schreiben vom 29.10.2010 kündigte die Beklagte daraufhin das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin erneut fristlos. Das Kündigungsschreiben ging der Klägerin am 29.10.2010, 11.50 Uhr, zu.

Gegen diese Kündigung vom 29.10.2010 erhob die Klägerin ebenfalls Kündigungsschutzklage, die am 05.11.2010 beim Arbeitsgericht Herne – 3 Ca 3013/10 – einging.

Aufgrund der bisherigen Feststellungen durch die Beklagte nahm diese am 10.11.2010 eine Überprüfung des sichergestellten dienstlichen PC der Klägerin vor. Hierüber fertigte der Personalleiter G1 ein Protokoll (Bl. 18 d. A.), in dem es unter anderem heißt:

" - Auf den lokalen Laufwerken C:\ und D:\ wurden keine

Dateien gefunden, die Hinweise auf private Nutzung gaben

  • Das Frau A1 M2 zugewiesene Verzeichnis auf Laufwerk U:\ gibt dagegen zahlreiche Beispiele für private Nutzung 29
  • Ablage von Spielen und nicht dienstbezogenen Präsentationen von meist fragwürdigem Inhalt (Verstoß gegen AGG)
  • Bestätigungen zur Überlassung von Einkaufsberechtigungen (von Frau M2) an andere Interessenten für Großmärkte (Firmen M4, J1 G2)
  • Private Hotelbuchungen
  • Abwicklung von Bestellungen für nicht gemeldete Nebenbeschäftigung ("Wohndekor und Geschenkartikel A1 M2). Bestellannahmen finden sich auch auf bereits vorher gesichertem E-Mail-Account.
  • Kündigungsschreiben (Tageszeitung)

Diese Daten blockieren Speicherplatz auf dem Server (kostenverursachend) und werden aufgrund dieses Speicherorts auch weiterhin gesichert.

Die Daten des Verzeichnisses U:\M2\Privat wurden zur Sicherung auf CD gebrannt."

Auf dem dienstlichen Laufwerk U:\ der Klägerin befanden sich 363 Dateien in 10 Ordnern mit einer Speicherkapazität von 224 MB. Von den 363 Dateien waren 40 Dateien Betriebsratsdateien, 18 Dateien Labordateien und 18 Dateien dienstlich, die nicht gesichtet wurden.

Danach befanden sich auf dem Laufwerk U:\ 287 Dateien mit einem Speichervolumen von 169,76 MB, die privater Natur waren. Diese Dateien beinhalten private Briefe, Urlaubsfotos, Kündigung der privaten Tageszeitung, Einkaufsberechtigungen für J1 G2 und M4, nach Auffassung der Beklagten auch sittenwidrige, pornografische und diskriminierende Fotos und Texte, des Weiteren Videos, Hörspiele und Spiele.

Von diesen Dateien, von denen die Beklagte auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben hat (Bl. 19 ff. d. A.) fertigte die Beklagte eine Sicherungs-CD, die auch zu den Akten gereicht wurde (Bl. 30 d. A). Unstreitig hat die Klägerin einige der sogenannten "Fun-Mails", die ihr als Anhang per E-Mail zugesandt worden sind, an andere Arbeitskollegen sowie auch an externe Dritte weitergeleitet (Aufstellung Bl. 207 d. A.).

Diesen Vorgang nahm die Beklagte zum Anlass, den Betriebsrat mit Schreiben vom 19.11.2010 (Bl. 50 ff. d. A.) erneut um Zustimmung zu einer weiteren beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Klägerin zu bitten. Das Schreiben vom 19.11.2010 ging dem Betriebsratsvorsitzenden an diesem Tage um 8.20 Uhr zu (Bl. 60 d. A.). Noch am 19.11.2010 erteilte der Betriebsrat auch zu dieser beabsichtigten Kündigung seine Zustimmung (Bl. 60 d. A.).

Mit Schreiben vom 19.11.2010 (Bl. 5 d. A.) kündigte die Beklagte das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis daraufhin erneut fristlos. Das Kündigungsschreiben ging der Klägerin noch am 19.11.2010 um 14.00 Uhr zu (Bl. 29 d. A.).

Auch gegen diese Kündigung vom 19.11.2010 erhob die Klägerin die vorliegende Kündigungsschutzklage, die am 25.11.2010 beim Arbeitsgericht Herne – 3 Ca 3193/10 – einging.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die außerordentliche Kündigung vom 19.11.2010 sei rechtsunwirksam. Ihr fehle es an einem wichtigen Grund.

Die Beklagte könne die außerordentliche Kündigung vom 19.11.2010 nicht darauf stützen, dass sie ihren E-Mail-Account privat genutzt habe. Insbesondere habe sie nicht streng vertrauliche Informationen per E-Mail an unbefugte Dritte weitergegeben. Richtig sei, dass sie eine Betriebsvereinbarung über "Betriebliches Eingliederungsmanagement" an befreundete Betriebsräte in einem anderen Unternehmen weitergeleitet habe. Dies sei aber nach Rücksprache und im Einverständnis mit dem Betriebsratsvorsitzenden B2 geschehen. Die E-Mail an K1 B3 sei an den Vertreter der im Betrieb vertretenen Gewerkschaft gerichtet gewesen; solche E-Mails seien üblich und über die Koalitionsfreiheit rechtlich gedeckt.

Andere E-Mails seien zwar privater Natur gewesen, seien aber innerbetrieblich verschickt worden. Hierbei handele es sich um einen sozial-adäquaten Vorgang, da es bei der Beklagten üblich sei, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter private E-Mails innerbetrieblich versendeten. Soweit sie auch weitere private E-Mails an Personen außerhalb des Betriebes versandt habe, räume sie ein Fehlverhalten ein. Bei den sogenannten "Fun-Mails", die ihr zugeleitet worden seien und die sie auch weitergeleitet habe, handele es sich nicht um Mails mit pornografischem Inhalt, sie habe diese nicht heruntergeladen. Im Übrigen gehe es insoweit eher um grobschlächtigen Humor auf Stammtischniveau, der blockierte Speicherplatz sei eher minimal. Dieses Fehlverhalten sei jedoch nicht so schwerwiegend, dass es eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen könnte. In jedem Fall gehe die vorzunehmende Interessenabwägung zu Gunsten der Klägerin aus.

Die Kündigung könne auch nicht auf eine ungenehmigte Nebentätigkeit gestützt werden. Die Klägerin, die über einen Gewerbeschein und eine Einkaufsberechtigung verfüge, habe lediglich Bestellungen für Arbeitskollegen vorgenommen.

Die Klägerin bestreitet darüber hinaus die ordnungsgemäße Beteiligung des Betriebsrats. Es sei nicht bekannt, auf der Basis welchen Sachverhalts der Betriebsrat sein Votum abgegeben habe.

Die Klägerin hat beantragt,

  1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 19.11.2010 nicht aufgelöst worden ist,
  1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungsgründe aufgelöst worden ist, sondern auf unbestimmte Zeit ungekündigt fortbesteht,
  1. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreites als Physik- / Chemielaborantin zu unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, die außerordentliche Kündigung vom 19.11.2010 sei wirksam.

Die Klägerin habe in erheblichem Umfang den ihr zur Verfügung gestellten E-Mail-Account privat genutzt. So habe die Klägerin mit E-Mail eine Betriebsvereinbarung der Beklagten über das betriebliche Eingliederungsmanagement an unbefugte Dritte versandt. Der Klägerin sei es nicht erlaubt gewesen, dienstliche Interna, etwa Betriebsvereinbarungen und sonstige Schriftstücke, an Dritte weiterzuleiten, die in keiner Beziehung zu der Beklagten stünden. Auch die E-Mail an Herrn K1 B3 von der IG BCE (Bl. 55 d. A.) sei privater Natur. Darüber hinaus habe die Klägerin mehrere weitere private E-Mails versandt. Hierdurch habe sie gegen die IT-Sicherheitsrichtlinie vom 12.08.2009 verstoßen, die den Mitarbeitern der Beklagten eine private Nutzung des dienstlichen E-Mail-Accounts verbiete.

Darüber hinaus habe die Beklagte am 10.11.2010 festgestellt, dass die Klägerin in einer Vielzahl von Fällen auf ihrem dienstlichen PC zu privaten Zwecken Dateien mit zum Teil diskriminierenden und pornografischem Inhalt heruntergeladen und gespeichert habe. Diese Dateien hätte sie durch einfachen Knopfdruck löschen können. Auf dem dienstlichen Laufwerk U:\ der Klägerin hätten sich 287 Dateien mit einem Gesamtvolumen von 169,76 MB befunden, die privater Natur seien. Dadurch sei Arbeitszeit vergeudet und Speicherkapazitäten der Beklagten blockiert worden.

Auch die Überlassung von Einkaufsberechtigungen an Dritte habe nicht dienstlichen Zwecken gedient. Die Klägerin habe durch die Vornahme von Bestellungen in unzulässiger Weise an ihrem Arbeitsplatz eine Nebenbeschäftigung ausgeübt.

Die Beklagte hat weiter die Auffassung vertreten, der Betriebsrat sei zu der beabsichtigten Kündigung mit Schreiben vom 19.11.2010 ordnungsgemäß angehört worden. Noch am Nachmittag desselben Tages habe der Betriebsrat im Rahmen einer außer-ordentlichen Betriebsratssitzung der beabsichtigten Kündigung zugestimmt.

Durch Urteil vom 15.03.2011 hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, ein wichtiger Grund für die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin liege nicht vor. Nach dem Vorbringen der Beklagten könne eine exzessive Nutzung des dienstlichen E-Mail-Accounts und des Internets durch die Klägerin nicht festgestellt werden. Aus dem Vorbringen der Beklagten ergebe sich keine wesentliche Verletzung der Arbeitspflicht der Klägerin, eine exzessive Nutzung des E-Mail-Accounts liege nicht vor. Es sei schon zweifelhaft, ob es sich bei den 287 Dateien mit einem Gesamtvolumen von 169,76 MB überhaupt um eine erhebliche Datenmenge handele. Anhaltspunkte für eine mögliche Vireninfizierung oder eine Störung des Betriebssystems der Beklagten lägen nicht vor. Auch wenn die aufgefundenen Dateien zum Teil einen sexistischen und anstößigen Inhalt hätten handele es sich nicht um Dateien mit pornografischem oder gar strafbarem Inhalt. In welchem zeitlichen Umfang die Klägerin ihre Arbeitspflicht durch die private Nutzung des PC verletzt habe, sei nicht vorgetragen und nicht feststellbar. Die Beklagte könne sich auch nicht darauf berufen, die Klägerin sei einer unerlaubten Nebentätigkeit nachgegangen. Dieser Vorwurf sei schon nicht Gegenstand der Betriebsratsanhörung gewesen.

Gegen das der Beklagten am 14.04.2011 zugestellte Urteil, auf dessen Gründe ergänzend Bezug genommen wird, hat die Beklagte am 11.05.2011 Berufung zum Landesarbeitsgericht eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 14.07.2011 mit dem am 29.06.2011 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet.

Mit Schreiben vom 21.03.2011 (Bl. 296 d. A. 10 Sa 471/11 Landesarbeitsgericht Hamm) wurde die Klägerin zu weiteren angeblichen Unregelmäßigkeiten angehört. Auf die Bitte der Klägerin vom 23.03.2011 gewährte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 23.03.2011 für die erbetene Stellungnahme eine Fristverlängerung bis zum 28.03.2011.

Mit Schreiben vom 25.03.2011 (Bl. 356 ff. d. A. 10 Sa 471/11 Landesarbeitsgericht Hamm) erbat die Beklagte bei ihrem Betriebsrat die erneute Zustimmung zu einer erneuten Tatkündigung und gleichzeitig die Zustimmung zu der Verwendung der im Schreiben an die Klägerin vom 21.03.2011 beschriebenen Vorfälle aus den Jahren 2009 und 2010 auch zur Begründung der bereits ausgesprochenen Kündigungen vom 15.09.2010, 29.10.2010, 19.11.2010 und einer inzwischen weiter ausgesprochenen Kündigung vom 15.03.2011, gegen die die Klägerin sich inzwischen ebenfalls mit einer Kündigungsschutzklage – 3 Ca 864/11 Arbeitsgericht Herne – zur Wehr gesetzt hatte. Der Betriebsrat erteilte hierzu noch am selben Tage seine Zustimmung.

Nachdem die Klägerin wegen weiterer Feststellungen der Beklagten vergeblich erneut angehört worden war und der Betriebsrat den beabsichtigten weiteren Kündigungen ebenfalls zugestimmt hatte, sprach die Beklagte mit Schreiben vom 29.03.2011 eine weitere außerordentliche Tatkündigung und mit Schreiben vom 01.04.2011 eine weitere vorsorgliche außerordentliche Verdachtskündigung aus. Auch gegen diese Kündigungen wehrte sich die Klägerin jeweils mit einer Kündigungsschutzklage zum Arbeitsgericht Herne – 5 Ca 986/11 bzw. 4 Ca 1048/11 –.

Das Arbeitsgericht hatte zuvor den Kündigungsschutzklagen der Klägerin, die die fristlose Kündigung vom 15.09.2010 (3 Ca 2604/10) und die außerordentliche Verdachtskündigung vom 29.10.2010 (3 Ca 3013/10) betrafen, stattgegeben. Auch gegen diese Urteile hat die Beklagte Berufung zum Landesarbeitsgericht eingelegt (10 Sa 471/11 bzw. 10 Sa 472/11).

Über die Wirksamkeit der weiteren fristlosen Kündigungen vom 15.03.2011, 29.03.2011 und 01.04.2011 ist bislang noch nicht entschieden.

Unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens ist die Beklagte der Auffassung, dass das Arbeitsgericht zu Unrecht keine exzessive Privatnutzung des E-Mail-Accounts angenommen habe. Insbesondere habe das Arbeitsgericht nicht ausreichend gewürdigt, dass sowohl die private Internet- als auch die private E-Mail-Nutzung ausdrücklich schriftlich untersagt gewesen seien. Die Klägerin habe gar nicht erst dem Irrtum unterliegen können, dass ihre heimliche Privatnutzung von der Beklagten gestattet oder toleriert werde. Die Beklagte erstelle Betriebsvereinbarungen auch nicht zu dem Zwecke, diese durch Betriebsratsmitglieder anderen Unternehmen kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Darüber hinaus ergebe sich aus den Feststellungen vom 10.11.2010, dass die Klägerin nicht nur ihren E-Mail-Account, sondern auch den PC in exzessiven Umfang zu privaten Zwecken genutzt habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 15.03.2011 – 3 Ca 3193/10 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Zu Recht sei das Arbeitsgericht davon ausgegangen, dass eine exzessive E-Mail-Nutzung durch die Klägerin nicht vorliege. Die Klägerin habe auch keine vertraulichen Betriebsinformationen per E-Mail an Dritte weitergegeben. Richtig sei, dass die Klägerin diverse E-Mails versandt habe. Dies rechtfertige aber ohne vorherige Abmahnung eine außerordentliche Kündigung nicht. Die Klägerin habe auch den ihr zu dienstlichen Zwecken zur Verfügung gestellten PC nicht exzessiv privat genutzt.

Ein auf Antrag der Beklagten eingeleitetes staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen die Klägerin – 21 Js 14/11 Staatsanwaltschaft Essen – ist inzwischen eingestellt worden. Gegen den Einstellungsbescheid hat die Beklagte Beschwerde eingelegt, über die noch nicht entschieden ist.

Im Termin vom 30.09.2011 lagen der Berufungskammer auch die Akten der gleichzeitig verhandelten Kündigungsschutzverfahren 3 Ca 2604/10 Arbeitsgericht Herne = 10 Sa 471/11 LAG Hamm sowie 3 Ca 3013/10 Arbeitsgericht Herne = 10 Sa 472/11 Landesarbeitsgericht Hamm. Auf den Inhalt dieser Akten wird ebenso Bezug genommen wie auf den weiteren Inhalt der von den Parteien im vorliegenden Verfahren gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Zu Recht hat das Arbeitsgericht in dem angefochtenen Urteil die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung vom 19.11.2010 festgestellt.

I. Die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung vom 19.11.2010 ergibt sich aus § 15 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 626 BGB.

Nach § 15 Abs. 1 KSchG ist die Kündigung eines Mitglieds eines Betriebsrats unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen und dass die nach § 103 BetrVG erforderliche Zustimmung vorliegt oder durch gerichtliche Entscheidung ersetzt ist.

Die Klägerin war zum Zeitpunkt der außerordentlichen Kündigung vom 15.09.2010 Mitglied des Betriebsrats im Betrieb der Beklagten. Der bei der Beklagten bestehende Betriebsrat hat der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung mit Schreiben vom 14.09.2010 ausdrücklich zugestimmt. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten liegt aber ein wichtiger Grund im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG nicht vor.

In § 15 KSchG sind ohne eigenständige Definition die in § 626 Abs. 1 BGB verwandten Formulierungen übernommen worden. Da der Gesetzgeber in § 626 BGB geregelt hat, unter welchen Voraussetzungen eine Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gerechtfertigt ist, sind die in § 626 BGB enthaltenen und daraus abgeleiteten Regeln zur Zulässigkeit einer außerordentlichen Kündigung auch im Rahmen des § 15 KSchG anzuwenden (BAG 18.02.1993 – 2 AZR 526/92 – AP KSchG 1969 § 15 Nr. 35; BAG 21.06.1995 – 2 ABR 28/94 – AP KSchG 1969 § 15 Nr. 36; BAG 17.03.2005 – 2 ABR 2/04 – AP KSchG 1969 § 15 Nr. 58; ErfK/Kiel, 11. Aufl., § 15 KSchG Rn. 22; KR/Etzel, 9. Aufl., § 15 KSchG Rn. 21; APS/Linck, 3. Aufl., § 15 KSchG Rn. 126 m.w.N.).

Hiernach bedarf es für die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds eines wichtigen Grundes im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB. Es müssen Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann (BAG 22.08.1974 – 2 ABR 17/74 – AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 1; BAG 27.01.1977 – 2 ABR 77/76 – AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 7; BAG 10.02.1999 – 2 ABR 31/98 – AP KSchG 1969 § 15 Nr. 42; BAG 20.01.2000 – 2 ABR 40/99 – AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 40; BAG 23.04.2008 – 2 ABR 71/07 – AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 56 m.w.N.).

Sowohl die Beschäftigungszeit der Klägerin im Betrieb der Beklagten als auch die Größe des Betriebes der Beklagten rechtfertigen die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes, §§ 1 Abs. 1, 13 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG. Die Kündigungsschutzklage ist auch rechtzeitig erhoben worden, §§ 4, 13 Abs. 1 KSchG.

Der Kündigung vom 19.11.2010 fehlt es an einem wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB. Zur Begründung der außerordentlichen Kündigung vom 19.11.2010 kann die Beklagte sich nicht auf eine unbefugte Privatnutzung des dienstlichen PC und des dienstlichen E-Mail-Accounts berufen. Dies hat das Arbeitsgericht in dem angefochtenen Urteil zutreffend erkannt. Das Berufungsvorbringen der Beklagten rechtfertigt keine anderweitige Beurteilung.

1. Die unbefugte Privatnutzung des dienstlichen PC und des dienstlichen E-Mail-Accounts durch die Klägerin rechtfertigt die außerordentliche Kündigung vom 19.11.2010 nicht.

a) In der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte ist anerkannt, dass die unbefugte private Nutzung eines dienstlich zur Verfügung gestellten PC ebenso wie eines E-Mail-Accounts grundsätzlich eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen kann. Ein Arbeitnehmer verstößt gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten, wenn er ein ausdrückliches Verbot des Arbeitgebers missachtet, das Internet privat zu nutzen und dabei seine Arbeitsleistung beeinträchtigt. Die Pflichtverletzung wiegt dabei umso schwerer, je mehr der Arbeitnehmer bei der privaten Nutzung des Internets seine Arbeitspflicht in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht vernachlässigt. Dabei kommen als kündigungsrechtlich relevanten Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten folgender Alternativen in Betracht:

- das Herunterladen einer erheblichen Menge von Daten aus dem Internet auf betriebliche Datensysteme, insbesondere wenn damit einerseits die Gefahr möglicher Vireninfizierungen oder andere Störungen des betrieblichen Betriebssystems verbunden sein können oder andererseits von solchen Daten, bei deren Rückverfolgung es zu möglichen Rufschädigungen des Arbeitgebers kommen kann, weil etwa strafbare oder pornografische Darstellungen heruntergeladen werden;

- die private Nutzung des vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Internetanschlusses als solche, weil durch sie dem Arbeitgeber möglicherweise – zusätzliche – Kosten entstehen können und der Arbeitnehmer jedenfalls die Betriebsmittel – unberechtigterweise – in Anspruch genommen hat;

- die private Nutzung des vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Internets während der Arbeitszeit, weil der Arbeitnehmer während der privaten Nutzung seiner arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung nicht erbringt und dadurch seine Arbeitspflicht verletzt.

Die exzessive Nutzung des Internets während der Arbeitszeit zu privaten Zwecken kann je nach den Umständen des Einzelfalles eine so schwere Pflichtverletzung des Arbeitsvertrages sein, die den Arbeitgeber auch ohne vorangegangene Abmahnung zu einer Kündigung berechtigen kann (BAG 07.07.2005 – 2 AZR 581/04 – AP BGB § 626 Nr. 1923; BAG 27.04.2006 – 2 AZR 386/05 – AP BGB § 626 Nr. 202; BAG 31.05.2007 – 2 AZR 200/06 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 157; vgl. auch: BAG 24.03.2011 – 2 AZR 282/10 – DB 2011, 1865; LAG Rheinland-Pfalz 26.02.2010 – 6 Sa 682/09 – NZA-RR 2010, 297; LAG Niedersachsen 31.05.2010 – 12 Sa 875/09 – NZA-RR 2010, 406; ErfK/Müller-Glöge, 11. Aufl., § 626 BGB Rn. 100; KR/Fischermeier, 9. Aufl., § 626 BGB Rn. 445; Kramer NZA 2007, 1338 m.j.w.N.).

b) Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall rechtfertigt die unbefugte Privatnutzung des dienstlichen PC und des E-Mail-Accounts durch die Klägerin die außerordentliche Kündigung vom 19.11.2010 nicht.

aa) Dies gilt zunächst für die Feststellungen der Beklagten vom 08.09.2010 über die Privatnutzung des E-Mail-Accounts durch die Klägerin, die Gegenstand des erstinstanzlichen Kündigungsschutzverfahrens waren. Zu Recht hatte das Arbeitsgericht in dem angefochtenen Urteil ausgeführt, dass die von der Beklagten erstinstanzlich vorgetragenen E-Mails, von denen die Klägerin eingeräumt hat, sie privat verfasst zu haben, keine exzessive Nutzung des E-Mails im Sinne der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darstellt. Nach den Feststellungen der Beklagten vom 08.09.2010 handelt es sich insoweit lediglich um wenige private E-Mails, die die Klägerin privat verfasst und versandt bzw. empfangen hat. Zwar hat die Klägerin durch den Empfang und den Versand privater E-Mails in dem Zeitraum von November 2007 bis Juli 2010 gegen die IT-Sicherheitsrichtlinie der Beklagten vom 12.08.2009 (Bl. 31 ff. d. A.) verstoßen. In Ziffer 7.2 dieser Sicherheitsrichtlinie ist ausdrücklich festgehalten, dass eine Internetnutzung zu privaten Zwecken nicht gestattet ist. § 7.3 der Sicherheitsrichtlinie sagt ausdrücklich, dass die Nutzung eines dienstlichen E-Mail-Accounts für private Zwecke untersagt ist. In dem Empfang und Versand von wenigen E-Mails zu privaten Zwecken in einem Zeitraum von nahezu drei Jahren liegt jedoch keine exzessive Privatnutzung des E-Mail-Accounts, hieraus kann keine wesentliche Verletzung der Arbeitspflicht hergeleitet werden. Nach dem Vorbringen der Beklagten kann nämlich schon nicht festgestellt werden, in welchem Umfang die Klägerin durch den Empfang oder durch die Verfassung von wenigen E-Mails innerhalb eines Zeitraums von nahezu drei Jahren ihre Arbeitszeit versäumt hat.

bb) Auch die Feststellungen der Beklagten vom 10.11.2010, die die Beklagte zum Anlass der fristlosen Kündigung vom 19.11.2010 genommen hat, rechtfertigen den Ausspruch der außerordentlichen Kündigung vom 19.11.2010 nicht. Zwar hat die Beklagte aufgrund einer weiteren Überprüfung des dienstlichen PC der Klägerin auf dem für sie eingerichteten Laufwerk U:\ insgesamt 287 private Dateien mit einer Gesamtspeicherkapazität von 169,76 MB vorgefunden. Unstreitig ist zwischen den Parteien auch, dass die Klägerin einzelne E-Mails, insbesondere sogenannte "Fun-Mails", die ihr zugesandt worden sind, an einzelne Arbeitskollegen oder auch an externe Dritte weitergeleitet hat. Insgesamt können jedoch auch die Feststellungen der Beklagten vom 10.11.2010 die außerordentliche Kündigung vom 19.11.2010 nicht rechtfertigen.

(1) Mit der Führung und Speicherung von insgesamt 287 privaten Dateien mit einer Gesamtspeicherkapazität von 169,76 MB hat die Klägerin gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen. Nach Ziffer 7.2 und 7.3 der IT-Sicherheitsrichtlinie der Beklagten vom 12.08.2009 war sowohl die Nutzung des Internets wie des dienstlichen E-Mail-Accounts für private Zwecke nicht gestattet, sondern strikt untersagt.

Die Berufungskammer sieht aber auch in der Führung und Speicherung von 287 privaten Dateien mit einer Speicherkapazität von 169,76 MB noch keine exzessive Nutzung des allein zu dienstlichen Zwecken zur Verfügung gestellten PC durch die Klägerin. Allein der Hinweis der Beklagten auf die Menge der privaten Dateien und die Speicherkapazität von 169,76 MB ist wenig aussagekräftig und besagt nichts über den Umfang der privaten Nutzung durch die Klägerin. Unstreitig sind nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten in diesen Dateien Filme, Fotos und Spiele enthalten, die eine außergewöhnlich hohe Speicherkapazität benötigen. So können Filme von mehreren Minuten allein schon eine Speicherkapazität in dem im vorliegenden Fall streitigen Umfang erfordern.

(2) Selbst wenn zu Gunsten der Beklagten davon ausgegangen wird, dass die Klägerin sich durch die private Internetnutzung und die private Nutzung des E-Mail-Accounts insgesamt einer erheblichen, die Schwelle zum wichtigen Grund überschreitenden Pflichtverletzung schuldig gemacht hat, ist die fristlose Kündigung bei Beachtung aller Umstände des vorliegenden Falles und nach Abwägung der widerstreitenden Interessen gleichwohl nicht gerechtfertigt. Als Reaktion der Beklagten auf das Fehlverhalten der Klägerin hätte eine Abmahnung ausgereicht. Bei der Abwägung der Interessen der Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse der Klägerin an dessen Fortbestand ergibt sich, dass der Beklagten eine Weiterbeschäftigung der Klägerin trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar war.

(a) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalles unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung - etwa im Hinblick auf das Maß eines durch sie bewirkten Vertrauensverlustes und ihre wirtschaftlichen Folgen -, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Als mildere Reaktionen kommen insbesondere Abmahnung und ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen – zu erreichen (BAG 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – AP BGB § 626 Nr. 229, Rn. 34; BAG 24.03.2011 – 2 AZR 282/10 – DB 2011, 1865, Rn. 14 m.w.N.). Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch bei Störungen im Vertrauensbereich. Auch in diesem Bereich gibt es keine "absoluten" Kündigungsgründe (BAG 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – AP BGB § 626 Nr. 229, Rn. 35, 38 m.w.N.).

(b) Die hiernach erforderliche Interessenabwägung führt dazu, dass der Beklagten

eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mindestens bis zum Ablauf der fiktiven Kündigungsfrist zumutbar gewesen ist.

Bei der gebotenen Interessenabwägung fällt zunächst zu Gunsten der Klägerin ins Gewicht, dass sie seit 1984 in den Diensten der Beklagten steht und insoweit auf eine über 26jährige Betriebszugehörigkeit zurückblicken kann. Dass sie seither ihre Tätigkeiten beanstandungsfrei ausgeübt hat, ist zwischen den Parteien unstreitig. Einschlägige Abmahnungen zu vertragsgerechtem Verhalten hat die Klägerin bislang nicht erhalten. Nach dem Vorbringen der Parteien muss auch davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihre Tätigkeit als Chemielaborantin bislang beanstandungsfrei nachgegangen ist. Noch mit Schreiben vom 24.06.2010 ist der Klägerin anlässlich ihres 50. Geburtstages für ihr Engagement und ihre Loyalität gedankt worden. Gleichzeitig ist ihr bescheinigt worden, zum Erfolg des Unternehmens beigetragen zu haben.

Der Klägerin kann nicht vorgeworfen werden, dass sie sich auf den dienstlichen PC strafbare oder pornografische Darstellungen zu privaten Zwecken heruntergeladen hätte. Unstreitig ist zwischen den Parteien, dass es sich bei den von der Beklagten wiedergegebenen sogenannten "Fun-Mails" um Anhänge zu E-Mails gehandelt hat, die die Klägerin auf ihrem dienstlichen PC empfangen und als Dateien abgespeichert hat; unstreitig ist weiter, dass sie diese "Fun-Mails" an einzelne Arbeitskollegen und auch an externe Dritte weitergeleitet hat. Von einem Herunterladen von pornografischen Darstellungen kann insoweit keine Rede sein.

Die von der Beklagten mit der Berufungsbegründung beispielhaft wiedergegebenen Dateien haben zwar zum Teil einen sexistischen und anstößigen Inhalt. Sie mögen die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten, es handelt sich jedoch weder um Dateien mit pornografischem noch mit strafbarem Inhalt.

Die Beklagte hat auch keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass es wegen dieser Dateien zu einer Rufschädigung der Beklagten hätte kommen können. Die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, dass wegen dieser Dateien die Gefahr einer Vireninfizierung bestanden habe oder dass das Betriebssystem durch die Speicherung der privaten Dateien der Klägerin auf dem Laufwerk U:\ gestört worden wäre. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass durch die Speicherung der privaten Dateien der Beklagten zusätzliche Kosten entstanden sind.

Die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, dass durch die Privatnutzung des PCs und durch die Nutzung des E-Mail-Acounts zu privaten Zwecken die Klägerin in erheblichem Umfang ihre Arbeit versäumt hätte. Eine unberechtigte Nutzung des allein zu dienstlichen Zwecken zur Verfügung gestellten PC liegt für sich genommen noch nicht darin, dass ein Arbeitnehmer eingehende E-Mails, die erkennbar keinen dienstlichen Bezug haben, nicht umgehend löscht (LAG Rheinland-Pfalz 14.12.2007 - 9 Sa 234/07 -). Mit welchem zeitlichen Aufwand die Klägerin die festgestellten Dateien betrachtet hat, lässt sich nicht feststellen. Die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, inwieweit es durch die Führung des privaten E-Mail-Verkehrs zu einer erheblichen Beeinträchtigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung gekommen ist. Will ein Arbeitgeber wegen privater Internetnutzung das Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitnehmer beenden, muss der Arbeitgeber nachweisen, dass und in welchem Umfang es durch die private Internetnutzung zu einer erheblichen Beeinträchtigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung gekommen ist (LAG Rheinland-Pfalz 26.02.2010 – 6 Sa 682/09 – NZA-RR 2010, 297; LAG Niedersachsen 31.05.2010 – 12 Sa 875/09 – NZA-RR 2010, 406; Kramer, NZA 2007, 1338). In welchem konkreten zeitlichen Umfang die Klägerin während der Arbeitszeit betriebliche IT-Mittel privat genutzt hat, hat die Beklagte aber nicht vorgetragen.

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Umstände war es der Beklagten zuzumuten, der Klägerin angesichts der festgestellten Verstöße eine Abmahnung zu vertragsgerechtem Verhalten zu erteilen.

Beruht eine Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigungen wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus, die zugleich der Objektivierung der negativen Prognose dient (BAG 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – AP BGB § 626 Nr. 229; Rn. 36; BAG 24.03.2011 – 2 AZR 282/10 – DB 2011, 1865, Rn. 14). Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – AP BGB § 626 Nr. 229; Rn. 56; BAG 24.03.2011 – 2 AZR 282/10 – DB 2011, 1865, Rn. 15 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Umstände handelte es sich bei den festgestellten Pflichtverletzungen der Klägerin nicht um ein derart schwerwiegendes Fehlverhalten, welches die Erteilung einer vorherigen Abmahnung entbehrlich machte. In der Speicherung privater Dateien auf dem dienstlichen PC liegt keine Pflichtverletzung der Klägerin, bei der eine Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen wäre. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin auch künftig nach Erteilung einer Abmahnung mit einer Kündigungsandrohung sich erneut in gleicher oder ähnlicher Weise pflichtwidrig verhalten würde. Dass eine Abmahnung nicht erfolgversprechend sein würde, kann danach nicht angenommen werden. Die Klägerin hat vielmehr von Anbeginn an eingeräumt, ihren dienstlichen E-Mail-Account in Einzelfällen auch zu privaten Zwecken genutzt zu haben. Dass sie sich insoweit pflichtwidrig verhalten hat, hat sie von Anbeginn zugestanden. Bereits aus diesem Grunde bestehen überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Abmahnung der Klägerin wegen unbefugter Privatnutzung des Dienst-PC und des dienstlichen E-Mail-Accounts nicht von Erfolg gekrönt gewesen wäre.

2. Auch der weitere im Zusammenhang mit der unberechtigten Nutzung des E-Mail-Accounts gemachte Vorwurf, die Klägerin habe eine ungenehmigte Nebentätigkeit ausgeübt, Einkaufsberechtigungen Dritten überlassen und Privatbestellungen für Dritte vorgenommen, kann die außerordentliche Kündigung vom 19.11.2010 nicht begründen. Auch insoweit liegt ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB nicht vor.

Zwar kann grundsätzlich die Ausübung einer unerlaubten Nebentätigkeit eine schwerwiegende Vertragspflichtverletzung darstellen, die auch eine außerordentliche Kündigung grundsätzlich begründen kann (BAG 19.04.2007 – 2 AZR 180/06 – AP BGB § 174 Nr. 20; BAG 18.09.2008 – 2 AZR 827/06 – AP BGB § 626 Nr. 215 m.w.N.). Inwieweit der Klägerin, die zuletzt mit 30 Wochenstunden bei der Beklagten als Chemielaborantin beschäftigt gewesen ist, neben ihrer Tätigkeit bei der Beklagten die Ausübung einer Nebenbeschäftigung nicht erlaubt gewesen ist, hat die Beklagte jedoch schon nicht vorgetragen. Nur eine unerlaubte Nebentätigkeit, kann eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellen.

Darüber hinaus hat die Klägerin, die über einen Gewerbeschein verfügt und Kontakt zu einem Spielzeuggroßhandel hat, lediglich in Einzelfällen für Arbeitskollegen Spielzeug bestellt, wie sie im Termin vor der Berufungskammer vom 30.09.2011 näher ausgeführt hat. Soweit sie hierfür ihren dienstlichen PC und den dienstlichen E-Mail-Account genutzt hat, liegen Anhaltspunkte für eine exzessive Privatnutzung nicht vor. Dies ergibt sich aus den obigen Ausführungen.

II. Der Weiterbeschäftigungsantrag, den das Arbeitsgericht zugunsten der Klägerin entschieden hat, ist in der Berufungsinstanz im Hinblick auf die von der Beklagten ausgesprochenen nachfolgenden außerordentlichen Kündigungen vom 15.03.2011, 29.03.2011 und 01.04.2011, über die erstinstanzlich noch nicht entschieden ist, nicht mehr gestellt worden.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Beklagte hat die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels zu tragen.

Der Streitwert hat sich in der Berufungsinstanz nicht geändert, § 63 GKG.

Für die Zulassung der Revision zum Bundesarbeitsgericht bestand nach § 72 Abs. 2 ArbGG keine Veranlassung.

Meta

10 Sa 785/11

30.09.2011

Landesarbeitsgericht Hamm 10. Kammer

Urteil

Sachgebiet: Sa

Zitier­vorschlag: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 30.09.2011, Az. 10 Sa 785/11 (REWIS RS 2011, 2741)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2741

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

10 Sa 472/11 (Landesarbeitsgericht Hamm)


10 Sa 471/11 (Landesarbeitsgericht Hamm)


7 Sa 406/17 (Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz)


7 Sa 99/20 (LArbG Nürnberg)

Personalrat, Arbeitszeit, Arbeitnehmer, Berufung, Software, Arbeitgeber, Nutzung, Dienstvereinbarung, Arbeitsleistung, Abmahnung, Google, Internet, Pflichtverletzung, Beweislast, Nutzung …


13 TaBV 28/10 (Landesarbeitsgericht Hamm)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 AZR 282/10

2 AZR 541/09

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.