Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.11.2015, Az. 1 StR 79/15

1. Strafsenat | REWIS RS 2015, 1784

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Gegenstand

Hauptverhandlung in Strafsachen: Kompensation überlanger Verfahrensdauer als Gegenstand einer Verständigung


Leitsatz

Die Höhe der Kompensation für eine hinsichtlich Art, Ausmaß und ihrer Ursachen prozessordnungsgemäß festgestellte überlange Verfahrensdauer ist ein zulässiger Verständigungsgegenstand.

Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 12. September 2014 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der [X.] keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 [X.]).

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Ergänzend bemerkt der Senat:

Die Revision beanstandet eine Verletzung des § 257c [X.] dadurch, dass die Höhe der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zum Gegenstand der Verständigung gemacht worden sei. Allein dieses will sie zur revisionsrechtlichen Überprüfung stellen, wie ausdrücklich erklärt wird.

1. Die Revision trägt hierzu vor, dass auf ausdrücklichen Wunsch der Verteidiger, die „großen Wert darauf legten und darauf drängten, dass die Höhe der Kompensation zum Gegenstand einer Verständigung gemacht wurde“, [X.] erfolgten. In diesen äußerte der Verteidiger des Angeklagten u.a. seine Vorstellung zur Strafe und zur Höhe der Kompensation; die Staatsanwaltschaft stellte letzteres in das Ermessen des Gerichts. Das Gericht gab an, seinen Vorschlag am nächsten Verhandlungstag unterbreiten zu wollen. In der Zwischenzeit trug die Verteidigung schriftlich zur Höhe der zu gewährenden Kompensation vor. Der gerichtliche Vorschlag lautete schließlich: „[X.] schlägt für den Fall eines glaubhaften Geständnisses des Angeklagten [X.]eine Verständigung über eine zu verhängende Gesamtfreiheitsstrafe innerhalb eines Strafrahmens von 4 Jahren und 3 Monaten bis zu 4 Jahren und 9 Monaten vor. Für die eingetretene Verfahrensverzögerung in diesem Verfahren von 2 Jahren und 6 Monaten wird die Kammer 9 Monate als vollstreckt anrechnen. Die im Urteil des [X.] vom 22. März 2012 bereits angerechneten 3 Monate (wegen überlanger Verfahrensdauer im Verfahren des [X.]) sowie weiteren 3 Monate (wegen geleisteter Zahlungen im Rahmen der Auflagenerfüllung) gelten zudem weiterhin als vollstreckt.“ Sodann wurden vom Gericht noch die Fälle benannt, in denen auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Einstellung nach § 154 Abs. 2 [X.] erfolgen soll, bevor die Belehrung des Angeklagten nach § 257c Abs. 5 [X.] erfolgte. Dem Vorschlag stimmten Angeklagter, Staatsanwaltschaft und Verteidiger zu. Der Angeklagte machte anschließend Angaben zur Sache. Das Gericht hat ihn unter Einbeziehung weiterer rechtskräftiger Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, neun Monate hiervon wegen der langen Dauer des Verfahrens, drei Monate wegen der langen Dauer des Verfahrens vor dem [X.] und drei Monate für die Zahlungen auf die Bewährungsauflage des [X.] für vollstreckt erklärt.

Die Revision meint, die Kompensation sei keine Rechtsfolge und somit kein zulässiger Gegenstand der Verständigung.

2. Der Senat kann dahinstehen lassen, ob durch die Revision hinreichend dargetan ist, dass eine Verständigung gerade über die Höhe der Kompensation für überlange Verfahrensdauer erfolgt ist oder ob das Gericht mit der Bekanntgabe der in Aussicht genommenen Kompensationshöhe den Angeklagten aus [X.] über den gesamten Umfang der Rechtsfolgenerwartung bei der Verständigung informieren wollte, damit dieser eine autonome Entscheidung über seine Mitwirkung treffen konnte (vgl. hierzu [X.], Beschluss vom 29. Januar 2014 – 4 [X.], [X.]St 59, 172, 174).

3. Denn jedenfalls stellt es keinen Rechtsfehler dar, die Höhe der Kompensation für eine hinsichtlich Art, Ausmaß und ihrer Ursachen prozessordnungsgemäß festgestellte überlange Verfahrensdauer in die Verständigung einzubeziehen.

a) Nach § 257c Abs. 2 Satz 1 [X.] dürfen Gegenstand einer Verständigung nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrunde liegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. § 257c Abs. 2 Satz 3 [X.] schließt hingegen den Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung als Gegenstand einer Verständigung aus.

Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers können Verständigungsgegenstand u.a. grundsätzlich die Maßnahmen sein, über die das erkennende Gericht verfügen kann, somit Maßnahmen, die es im Erkenntnis treffen kann (Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/12310, Anlage zu Nr. 8). Grundsätze der richterlichen Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung sollten hingegen nicht angetastet werden (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., [X.]E 133, 168 Rn. 67).

b) Danach erweist sich die Verständigung über Art und Ausmaß einer Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer als zulässiger Verständigungsgegenstand ([X.]/[X.] in [X.], 7. Aufl., § 257c Rn. 15; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 5. Aufl., § 257c Rn. 23; [X.], [X.] 2011, 393, 395; vgl. hierzu auch [X.] in [X.]., § 257c Rn. 11.3, der zwar Bedenken anmeldet, diese aber an der als problematisch erachteten [X.] festmacht, die jedoch st. Rspr. entspricht; [X.] in [X.]/[X.], [X.], 58. Aufl., § 257c Rn. 10 freilich ohne Begründung).

aa) Die tatsächlichen Grundlagen, aufgrund derer das Gericht Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen ermittelt hat, sind – ungeachtet der nicht mit dieser Angriffsrichtung erhobenen Rüge – nicht Verständigungsgegenstand gewesen. Anhaltspunkte dafür, dass das Gericht eine Verbindung zwischen der Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung oder deren Umfang mit dem Einlassungsverhalten des Angeklagten hergestellt oder diese Feststellung als bloße Honorierung sonstigen prozessualen Wohlverhaltens des Angeklagten behandelt hätte (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 23. Juli 2015 – 3 [X.]), ergeben sich weder aus dem vorgetragenen Verfahrensgeschehen noch aus dem vom Gericht unterbreiteten Verständigungsvorschlag. Zwar ist dem von der Revision vorgetragenen Schreiben der Verteidigung, welches an die Vorgespräche anknüpfte, zu entnehmen, dass das Gericht seine vorläufige Bewertung zu der sich aus den Akten ergebenden Dauer der Verzögerung, insbesondere des der Justiz zuzurechnenden Anteils, kundgetan und diese letztlich auch seinem Verständigungsvorschlag zugrunde gelegt hat. Das ist aber nicht zu beanstanden, vielmehr ist eine Klarstellung der materiellen Grundlagen der zu gewährenden Kompensation Voraussetzung für eine nachvollziehbare Bemessung derselben (vgl. zur strafzumessungsrechtlichen Bewertung des Anklagevorwurfs [X.], Beschluss vom 12. Dezember 2013 – 3 [X.] mit insoweit zust. [X.]. [X.] NStZ 2014, 284, 286).

Anders als in dem Sachverhalt, der dem Beschluss des [X.] vom 6. Oktober 2010 – 2 [X.] ([X.], 167) zugrunde lag, gab es kein gerichtliches „Angebot“ einer die tatsächlichen Grundlagen entbehrenden Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Lag es dort „auf der Hand, dass eine Art. 6 Abs. 1 [X.] widersprechende Menschenrechtsverletzung nicht vorlag“ ([X.] aaO; [X.]. auch [X.] in [X.]/Schluckebier/ [X.], [X.], 2. Aufl., § 257c Rn. 43), konnte hier angesichts des zwischen der ersten Anklage und der Eröffnungsentscheidung liegenden Zeitraums von annähernd 45 Monaten – auch unter Berücksichtigung von Phasen nicht der Justiz zuzurechnender Verzögerung – ein kompensationspflichtiger Konventionsverstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 [X.] nicht zweifelhaft sein.

Dem entspricht es, dass die Urteilsgründe hinreichende Feststellungen zu Ausmaß und Ursachen der Verfahrensdauer zwischen den bis Mai 2008 begangenen Taten, der Bekanntgabe der Ermittlungen an den Beschuldigten durch eine Durchsuchung noch im Mai 2008, dem polizeilichen Schlussbericht im Juni 2010, der Anklage vom 2. September 2010 und dem Eröffnungsbeschluss vom 30. Mai 2014 sowie der am 8. Juli 2014 beginnenden Hauptverhandlung enthalten. Diese decken sich hinsichtlich des allein der Justiz anzulastenden Verzögerungszeitraums mit der vorläufigen Bewertung des Gerichts und folgen dem von der Verteidigung für zutreffend gehaltenen längeren Zeitraum nicht.

bb) Über die für eine überlange Verfahrensdauer – gegebenenfalls im Wege eines Vollstreckungsabschlags – zu gewährende Kompensation ist im Urteil zu entscheiden, es handelt sich um eine Rechtsfolge im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 [X.]. Es liegt auch kein Grund vor, diese Rechtsfolge von der Verständigungsmöglichkeit auszunehmen, da die Pflicht zur Wahrheitserforschung und zur Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe hiervon unangetastet bleiben.

Die Kompensation für eine überlange Verfahrensdauer dient dem Ausgleich eines durch die Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven Verfahrensunrechts; sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] verhindern ([X.], Beschluss vom 17. Januar 2008 – [X.], [X.]St 52, 124, 137; [X.], Beschluss vom 23. August 2011 – 1 [X.], [X.]R [X.] Art. 6 Abs. 51 Verfahrensverzögerung 42; [X.] ZIS 2006, 168, 178; [X.], 408, 412).

Die im Wege des sog. [X.] vorzunehmende Kompensation als Erfüllung einer Art Staatshaftungsanspruch koppelt den Ausgleich für das erlittene Verfahrensunrecht von Fragen des Tatunrechts, der Schuld und der Strafhöhe ab. Der Ausgleich für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung stellt eine rein am [X.] orientierte eigene Rechtsfolge neben der Strafzumessung dar. Sie richtet sich nicht nach der Höhe der Strafe. Auch das Gewicht der Tat und das Maß der Schuld spielen weder für die Frage, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist, noch für Art und Umfang der zu gewährenden Kompensation eine Rolle ([X.], Beschlüsse vom 23. Juli 2015 – 3 StR 518/14 und vom 17. Januar 2008 – [X.], [X.]St 52, 124, 138; [X.]/[X.]/[X.], Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl., Rn. 770 ff.). Art und Höhe der Kompensation sind vielmehr an der Intensität der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] auszurichten. Dabei sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der [X.] sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten, entscheidend ([X.], Beschlüsse vom 16. April 2015 – 2 StR 48/15 und vom 17. Januar 2008 – [X.], [X.]St 52, 124, 138). Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Verfahrensdauer als solche sowie die damit verbundenen Belastungen des Angeklagten stets bereits strafmildernd im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen sind, es bei der Rechtsfolgenbestimmung über die Kompensation nur mehr um einen Ausgleich gerade der rechtsstaatswidrigen Verursachung der Verzögerung geht ([X.], Beschlüsse vom 16. April 2015 – 2 StR 48/15; vom 5. August 2009 – 1 [X.], [X.], 339 und vom 17. Januar 2008 – [X.], [X.]St 52, 124, 138).

Eine nach diesen Maßstäben zu bestimmende Kompensation berührt nicht die Grundsätze der richterlichen Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung; eine Verständigung insoweit, also die Erzielung eines Einvernehmens (vgl. hierzu Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/12310, Anlage zu Nr. 8) stellt weder Gegenstand noch Umfang der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der Anklage vorgeworfenen Geschehens zur Disposition der an der Verständigung Beteiligten (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a.; [X.]E 133, 168).

Die Anerkennung von Art und Höhe der Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als Verständigungsgegenstand im Sinne des § 257c Abs. 2 [X.] findet Bestätigung darin, dass die Zumessung einer Entschädigung aufgrund der Gewichtung von Belastungen üblicherweise dem Parteiprozess überantwortet ist und dort der Dispositionsmaxime unterliegt. Aus dem Umstand, dass über die Entschädigung im Strafverfahren und im Wege des [X.], also durch eine faktische Abmilderung des [X.] entschieden werden kann, ergibt sich wegen der Abkopplung von Unrecht und Schuld dann nichts anderes, wenn – wie hier – die Grundsätze strafrechtlicher Sachverhaltsaufklärung durch die Verständigung nicht berührt werden.

[X.]                      Cirener

              [X.]

Meta

1 StR 79/15

25.11.2015

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Mannheim, 12. September 2014, Az: 24 KLs 603 Js 18956/08

§ 257c Abs 2 S 1 StPO, § 257c Abs 2 S 3 StPO, Art 6 Abs 1 S 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.11.2015, Az. 1 StR 79/15 (REWIS RS 2015, 1784)

Papier­fundstellen: NJW 2016, 1972 REWIS RS 2015, 1784

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