Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 08.06.2016, Az. 2 StR 88/16

2. Strafsenat | REWIS RS 2016, 10369

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[X.]:[X.]:[X.]:2016:080616U2STR88.16.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

IM NAMEN [X.]S VOLKES

URTEIL
2 StR 88/16
vom
8. Juni 2016
in der Strafsache
gegen

wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt

-
2
-
Der 2.
Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 8. Juni 2016, an der teilgenommen haben:
[X.] am [X.]
Prof. Dr. Fischer,

[X.] am [X.]

Dr. [X.],
[X.],
[X.]in am [X.]
Dr. [X.],
[X.] am [X.]
[X.],

[X.] beim [X.]

in der Verhandlung,
Staatsanwalt beim [X.]

bei der Verkündung

als Vertreter der [X.],

Rechtsanwalt

als Verteidiger,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
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3
-
Die Revision der Staatsanwaltschaft Beschluss

des [X.] Gera vom 20. August 2015
wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das [X.] -
2. Strafkammer -
hatte mit Urteil vom [X.] 2003 den Verurteilten wegen Vergewaltigung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen
Missbrauch von Kindern, und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und sich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten.

Mit hat die nämliche Strafkammer des [X.]
ohne mündliche Hauptverhandlung entschieden, dass die durch das vorbezeichnete Urteil vorbehaltene Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nicht angeordnet wird. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass gemäß
§
66a Abs. 2 StGB in der ab 28. August 2002 gelten-den Fassung
(eingeführt durch Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Siche-rungsverwahrung vom 21. August 2002, [X.]) über die Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor einer
möglichen Aus-setzung der
Reststrafe zur Bewährung zu entscheiden
sei. Diese Frist sei hier 1
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verstrichen, da der Verurteilte die verhängte Freiheitsstrafe schon zum 12.
Mai 2015 zu zwei Dritteln verbüßt
habe.
Gegen diese am 28. August 2015 zugestellte Entscheidung hat die . Mit einem am 24. September 2015 beim [X.] eingegangenen Schriftsatz hat sie ihr Rechtsmittel begründet und ausgeführt, dass über die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt auch in [X.] gemäß §
66a Abs. 3 StGB
in der ab 1. Januar 2011 geltenden Fassung
(eingeführt durch das Gesetz
zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen
vom 22. Dezember 2010, [X.] I
S.
2300)
bis zur vollständigen Vollstreckung der Strafe entschieden werden könne. Der [X.] habe mit der Neuregelung des § 66a StGB erkennen lassen, dass er die Frist des § 66a Abs.
2 StGB a.F. nicht als Ausschlussfrist habe verstanden [X.] wollen. Im Übrigen könne unter den in Art. 316f Abs. 2 [X.] genannten sechs

Das Thüringer Oberlandesgericht hat die Sache mit Beschluss vom 20.
August 2015 zur Entscheidung über das als Revision zu behandelnde Rechtsmittel an den [X.] abgegeben. Das vom [X.] nicht vertretene
Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
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5
-
I.
Das Rechtsmittel ist statthaft und zulässig.

1. Gegen die Entscheidung des [X.] ist das Rechtsmittel der Revision statthaft.
Zwar hat das Gericht seine Entscheidung als "Beschluss" bezeichnet. Dies führt aber nicht dazu, dass eine Beschwerde nach §§ 304 ff. [X.] das statthafte Rechtsmittel wäre. Auf die Bezeichnung der Entscheidung kommt es nicht an. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündli-che Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeu-tung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirk-lich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur aufgrund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil (vgl. Senat, Urteil vom 1. Juli 2005

2
StR 9/05, [X.], 180, 186; Beschluss vom 17. Februar 2010

2 StR 524/09, [X.], 62, 63 f.; [X.], Urteil vom 14. Juli 2011

4 [X.], [X.], 693 f. mwN).

Nach § 275a Abs. 2
und 3
[X.] ist über die Anordnung der Sicherungs-verwahrung nach Vorbehalt aufgrund einer Hauptverhandlung zu entscheiden. Diese Entscheidung ergeht bei Anordnung wie auch bei Absehen von der [X.] gleichermaßen durch Urteil (§ 275a Abs. 2
i.[X.]. § 260 Abs. 1 [X.]). Ein schriftliches Verfahren ist dagegen nicht
vorgesehen. Die Entscheidung stellt daher auch dann ein Urteil dar, wenn sie trägt und ohne Verhandlung und Verkündung erlassen wurde (Senat, Urteil vom 5
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6
-
1. Juli 2005 -
2 StR 9/05, [X.], 180
ff; [X.],
Urteil vom 14.
Juli 2011

4 [X.], [X.], 693 f.; KK-[X.]/[X.] 7. Aufl. § 275a Rn. 19).
Dass die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel irrtümlich als "sofortige
Be-schwerde" bezeichnet hat, ist nach § 300 [X.] ebenfalls unschädlich. Diese Vorschrift gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (Senat, Urteil vom 1.
Juli 2005

2 StR 9/05, [X.], 180 ff.; [X.]/[X.], [X.],
59.
Aufl.,
§
300 Rn. 2).
2. Das als Revision zu behandelnde Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist fristgerecht erhoben und begründet
worden. Die Ausführungen lassen den Willen der Beschwerdeführerin hinreichend erkennen, die angefochtene Ent-scheidung wegen eines sachlich-rechtlichen Fehlers zur Nachprüfung zu stel-len.

II.
Die Revision ist
unbegründet. Die Überprüfung der Entscheidung auf die Sachrüge zeigt keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.
1. Zu Recht ist das [X.] davon ausgegangen, dass die materiel-len Voraussetzungen einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Vorbe-halt auf der Grundlage der Feststellungen nicht vorliegen, weil die Ausschluss-frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. verstrichen ist.
Nach Art. 316e Abs. 1 Satz 1 [X.]
in der ab 1. Juni 2013 geltenden Fassung ist § 66a StGB in der ab 1.
Januar 2011 geltenden Fassung nur [X.], wenn die
Tat
oder mindestens
eine der Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung
angeordnet werden soll, nach dem 31.
Dezember 9
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2010
begangen worden ist. In allen anderen Fällen ist nach Art. 316e Abs.
2 Satz
2 [X.] das bisherige Recht anzuwenden.
Auf den
vorliegenden Fall findet daher § 66a StGB in der ab 28. August 2002 bis 31.
Dezember 2010 gel-tenden
Fassung Anwendung, weil die [X.] in der [X.] von April bis Juni 2003 begangen worden sind.

Dies gilt nach Art.
316e Abs.
1 Satz
2 [X.] zwar nur
insoweit, als in
Art. 316f Abs. 2 und 3 [X.] nichts anderes bestimmt ist. Entgegen der Auf-fassung des Beschwerdeführers ergibt sich aber aus Art. 316f Abs. 2 [X.] weder eine über § 66a StGB a.F.
hinaus gehende längere [X.] noch eine Geltung des §
66a Abs.3 StGB n.F.
Durch den in Art. 316e Abs. 2 Satz 2 [X.] erfolgten Verweis auf Art.
316f Abs.
2 [X.]
soll lediglich sichergestellt
werden, dass die bis zum 31.
Dezember
2010 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung in Fällen rückwirkender Gesetzesanwendung oder nachträglicher Sicherungsver-wahrung (sog. Vertrauensschutzfälle) nur unter den vom Bundesverfassungs-gericht in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., [X.] 128, 326, 404 ff.) formulierten hohen Voraussetzungen weiter anwendbar sind (vgl. BT-Drucks. 17/9874
vom 6. Juni 2012, [X.]; [X.], Urteil vom 12. Juni 2013

1 StR 48/13, [X.]St 58, 292,
294 f.). Ungeachtet dessen handelt es sich [X.] auch nicht um einen solchen von Art. 316f
Abs. 2 [X.] erfassten

Vertrauensschutzfall.
Das [X.] hat die Anordnung der Sicherungsver-wahrung am Maßstab des §
66a Abs. 2 StGB in der bis 31. Dezember 2010 geltenden Fassung
geprüft. Diese Vorschrift war zum [X.]punkt der letzten [X.] (4. Juni 2003) bereits in [X.]; sie wurde durch das Gesetz zur Einfüh-rung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 ([X.]
[X.]) mit Wirkung ab 28. August 2002 eingeführt.

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-
Es gilt daher § 66a Abs. 2 a.F. weiter (vgl. auch [X.], Beschluss vom 7.
August 2013

NStZ 2014, 209; [X.]/[X.] in MüKo StGB,
2. Aufl., § 66a Rn. 138). Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift. Die Einhaltung der Frist des §
66a Abs.
2 StGB a.F. stellt vielmehr eine grundsätzlich verbindliche materiell-rechtliche Voraussetzung für die Anordnung der Sicherungsverwahrung dar ([X.], Urteil vom 14. Dezember 2006

3 [X.] , [X.]St 51, 159, 160 ff.;
Urteil vom 7. August 2012

1 [X.], [X.], 100, 101; KK-[X.]/[X.], 7. Aufl. § 275a Rn. 7).
Ob eine Sicherungsverwahrung ausnahmsweise angeordnet werden kann, wenn die Frist nur wenige Tage überschritten ist (vgl. insoweit [X.], [X.] vom 25. Oktober 2005

1 [X.], [X.], 63
f.) und die Gründe dafür nicht im Verantwortungsbereich der Justiz liegen, braucht hier nicht ent-schieden zu werden. Das [X.] hatte zum 12. Mai 2015, dem spätesten Entscheidungszeitpunkt (§ 66a Abs. 2 Satz 1, § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr.
1 StGB), das Nachverfahren noch nicht einmal eingeleitet.
2. Die Entscheidung unterliegt nicht schon deshalb der Aufhebung, weil über die Anordnung von Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt nur aufgrund einer mündlichen Hauptverhandlung unter Beteiligung der [X.] durch Urteil entschieden werden kann.
Ungeachtet dessen, dass schon fraglich ist, ob die im Beschlussverfah-ren ergangene Entscheidung auf diesem Rechtsfehler überhaupt beruhen kann, weil die Sicherungsverwahrung schon wegen Fristversäumnis und damit aus zwingenden Rechtsgründen nicht angeordnet werden konnte (vgl. dazu [X.],
Urteil vom 6. Dezember 2005

1 [X.], [X.], 178, 179; [X.],
Urteil vom 14.
Juli 2011

4 [X.], NStZ
2011, 693, 694; KK-[X.]/[X.], 16
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7.
Aufl.,
§
275a Rn. 24), fehlt es jedenfalls an einer insoweit erforderlichen Ver-fahrensrüge.
Das von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel beschränkt sich auf die Rüge des sachlich-rechtlichen Mangels, § 66a Abs. 2 StGB a.F.
könne vorliegend nicht als Ausschlussfrist verstanden werden. Zwar ist damit in der Regel auch die allgemeine Sachrüge erhoben, weil die Revision zumindest [X.] zu einzelnen Urteilsteilen-
oder grundlagen enthält
(vgl. [X.], Beschluss vom 21. Februar 1951

1 StR 5/51, [X.]St 1, 44, 46).
Eine Rüge dahingehend, dass die Entscheidung vorliegend aufgrund einer Hauptverhand-lung und unter Beteiligung der [X.] hätte ergehen müssen, wurde seitens der Beschwerdeführerin aber zu keiner [X.] erhoben.
Fischer [X.] Eschelbach

[X.] [X.]

20

Meta

2 StR 88/16

08.06.2016

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 08.06.2016, Az. 2 StR 88/16 (REWIS RS 2016, 10369)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 10369

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