Bundesgerichtshof, Urteil vom 21.01.2021, Az. 4 StR 83/20

4. Strafsenat | REWIS RS 2021, 9329

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Gegenstand

Rechtsbeugung durch einen Strafrichter: Zugrundelegung sachfremder Erwägungen bei der Aufhebung von Bewährungsauflagen


Tenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des [X.] vom 4. Oktober 2019 wird verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten vom Vorwurf der [X.]echtsbeugung in vier Fällen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen [X.]echts gestützte [X.]evision der Staatsanwaltschaft, die vom [X.] vertreten wird. Das [X.]echtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

2

Das [X.] hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3

1. Der Angeklagte war als [X.] am [X.] tätig und dort seit 1993 als Strafrichter und Vorsitzender des Schöffengerichts eingesetzt. Im Januar 2016 erließ er in vier [X.] den Verurteilten die noch nicht erfüllten Bewährungsauflagen und begründete dies in den jeweiligen Beschlüssen mit einem angeblichen Personalmangel des Gerichts.

4

2. Zum äußeren Tatgeschehen der einzelnen Fälle hat das [X.] Folgendes festgestellt:

5

a) aa) Der Verurteilte [X.]war vom Angeklagten 2013 wegen eines Betäubungsmitteldelikts zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war. Nach Leistung von 267 Stunden der insgesamt auferlegten 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit gestattete der Angeklagte dem Verurteilten auf dessen Antrag im August 2015, anstelle der restlichen Arbeitsstunden Geldleistungen zu erbringen. Als der Verurteilte die Geldauflage nicht erfüllte, erließ der Angeklagte mit Beschluss vom 27. Januar 2016 die restliche Bewährungsauflage. Zur Begründung führte er aus, das Gericht könne mit weniger Personal die bisherigen Standards der Bewährungsüberwachung nicht mehr leisten und beschränke sich daher auf die Überwachung des Legalverhaltens.

6

bb) [X.].  war vom Angeklagten 2014 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten - ausgesetzt zur Bewährung - verurteilt worden. Im November 2015 forderte der Angeklagte den Verurteilten auf, die Bewährungsauflage von 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit zu erfüllen, und drohte den Widerruf der Strafaussetzung an. Gleichwohl leistete der Verurteilte weiterhin keine Arbeitsstunden ab. Daraufhin erließ der Angeklagte die Auflage mit Beschluss vom 17. Januar 2016 mit der Begründung, das Gericht könne „mit weniger Personal gesteigerten Anforderungen der Instanzgerichte an die richterliche [X.]egelungs- und Überwachungsdichte von Bewährungsauflagen nicht entsprechen“.

7

cc) Der Verurteilte [X.]war vom Angeklagten 2015 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten - ausgesetzt zur Bewährung - verurteilt worden. Im Januar 2016 teilte die Bewährungshelferin mit, der Verurteilte habe noch keine der auferlegten 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit geleistet; er sei dazu gesundheitlich derzeit nicht in der Lage. Der Angeklagte erließ die Auflage mit Beschluss vom 27. Januar 2016. Zur Begründung führte er aus, dass „das erkennende Gericht mit weniger Personal gesteigerten Anforderungen an Anordnung und Überwachung von Bewährungsauflagen nicht gerecht werden kann“.

8

dd) [X.].     war vom Angeklagten 2015 wegen Körperverletzungsdelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten - ausgesetzt zur Bewährung - verurteilt worden. Der Angeklagte hatte als Bewährungsauflagen die ratenweise Zahlung von 1.000 Euro an den Geschädigten sowie von weiteren 1.000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung erteilt. Auf zwei gerichtliche Anfragen, ob die Auflage erfüllt worden sei, antwortete der Geschädigte nicht. Der Angeklagte erließ daraufhin mit Beschluss vom 31. Januar 2016 „die Bewährungsauflage“. Dabei unterschied er nicht nach den Zahlungsempfängern, da er die Auflage zugunsten der gemeinnützigen Einrichtung übersehen hatte. Zur Begründung führte er aus: „Mit gekürztem Personalbestand sieht sich das Gericht außerstande, aufwendige Bewährungsüberwachungen durchzuführen. Hier hat es der [X.] offenbar nicht notwendig, auf zwei gerichtliche Anfragen zu reagieren“. Erst nachdem dieser Beschluss ergangen war, teilte der Geschädigte mit, keine Zahlungen erhalten zu haben.

9

b) Die Staatsanwaltschaft legte gegen die Beschlüsse jeweils Beschwerde ein, denen der Angeklagte nicht abhalf. Die [X.] vom 4. Februar 2016 (betreffend die Verurteilten [X.].  , [X.], [X.].      ) und vom 25. Februar 2016 (betreffend den Verurteilten [X.]) waren wortgleich begründet. Im Wesentlichen führte der Angeklagte Folgendes aus: Aufgrund der landesweiten [X.]eduzierung von [X.]stellen Ende 2015 habe die Abteilung für Strafsachen des [X.] eine halbe Stelle verloren. Es liege auf der Hand, dass Abstriche bei der richterlichen Aufgabenerfüllung die Folge seien. Bei der Auswahl des Schwerpunkts der Mangelverwaltung habe er, der Angeklagte, die Bewertung der richterlichen Arbeit im [X.]ahmen des [X.] herangezogen; dabei rangiere die Führung von Bewährungsauflagen „auf einem der hintersten Plätze“. § 56e StGB eröffne dem Gericht ein Ermessen. Eine nachträgliche Änderung von Bewährungsauflagen komme in Betracht, wenn sich die objektive Situation geändert habe. Dies sei hier der Fall. Sobald sich die Personalsituation wieder verbessere, sei von einer erneuten Veränderung der objektiven Situation im Sinne des § 56e StGB auszugehen, so dass die Bewährungsüberwachungen wieder früheren Qualitätsstandards entsprechen könnten.

Auf die [X.]echtsmittel der Staatsanwaltschaft hob das Beschwerdegericht die angefochtenen Beschlüsse u. a. mit der Begründung auf, die Entscheidungen des Angeklagten seien ermessensfehlerhaft und von sach- bzw. verfahrensfremden Erwägungen getragen.

Nachdem der Angeklagte die Ausführungen des [X.]s in den Beschwerdeentscheidungen zur Kenntnis genommen und seine eigene Auffassung überdacht hatte, führte er in allen von ihm zu bearbeitenden Verfahren die Bewährungsaufsicht fort.

3. Zum Motiv des Angeklagten und zur inneren Tatseite hat das [X.] festgestellt:

Obwohl objektiv in den Dezernaten des Angeklagten Eingänge und Erledigungen ausgeglichen und ungewöhnliche [X.]ückstände nicht zu verzeichnen waren, empfand der Angeklagte subjektiv eine stetig höhere Arbeitsbelastung, die sich durch einen Stellenabbau in der Strafabteilung des Amtsgerichts noch steigerte. Dies führte beim Angeklagten spätestens seit Ende 2014 zu psychischen Beeinträchtigungen im Alltag. Eine Überlastungsanzeige erachtete er als sinnlos. Er sah „im [X.]ahmen des § 56e StGB“ eine Möglichkeit, seine empfundene Arbeitsüberlastung zu reduzieren, indem er Bewährungsauflagen „auf der Grundlage einer objektiven Veränderung der Situation aufhob“. Er meinte, die von ihm empfundene Verschlechterung der Personalsituation in der Justiz könne einen objektiven Gesichtspunkt für die nachträgliche Aufhebung von Bewährungsauflagen darstellen; der Begriff des objektiven Gesichtspunkts lasse sich so auslegen, dass er auch die „Mangelverwaltung“ betreffe. Der Angeklagte erkannte aber, dass eine solche Auslegung dem [X.]rtlaut des § 56e StGB nicht zu entnehmen ist. Er rechnete daher mit Beschwerden der Staatsanwaltschaft gegen seine Beschlüsse. Auf eine Überprüfung durch das Beschwerdegericht kam es ihm gerade an, da er eine Stellungnahme zu seiner in den Beschlüssen zum Ausdruck gebrachten [X.]echtsauffassung erhoffte. Seine weiteren Entscheidungen in [X.] wollte er von der Beurteilung der [X.]echtslage durch das Beschwerdegericht abhängig machen.

Um zu vermeiden, dass das Beschwerdegericht die [X.]ichtigkeit seiner [X.]echtsauffassung dahinstehen lassen konnte, stellte er in den Fällen der Verurteilten [X.].  , [X.] und [X.]jeweils von ihm bedachte weitere Erwägungen in Bezug auf die Aufhebung der Auflagen nicht in den [X.]n dar. Im Fall des Verurteilten [X.].  erachtete der Angeklagte eine Vollstreckung der kurzen Freiheitsstrafe als „nicht zielführend“, da sich der Verurteilte in der Bewährungszeit bislang straffrei geführt hatte, erstmals zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden und aufgrund einer zuvor vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafe erstmals einem Freiheitsentzug ausgesetzt gewesen war. Beim Verurteilten [X.]berücksichtigte der Angeklagte, dass der Verurteilte den überwiegenden Teil der [X.] abgeleistet und in angespannten finanziellen Verhältnissen straffrei gelebt hatte. Im Fall des Verurteilten [X.]kam es dem Angeklagten auf dessen berufliche Stabilisierung an. Der Verurteilte beabsichtigte, ein Praktikum in der Bäckerei seiner Eltern zu absolvieren und eine Bäckerlehre aufzunehmen. Er war zwar „gesundheitlich stark belastet, aber familiär etabliert und damit gefestigt“. Im Fall [X.].     beruhte die Aufhebung der Auflage zur Schadenswiedergutmachung auch darauf, dass der Geschädigte auf gerichtliche Anfragen zur Leistungserbringung nicht reagiert hatte.

4. Das [X.] hat den Tatbestand der [X.]echtsbeugung als nicht erfüllt angesehen. Zwar belege die „[X.]“ des Angeklagten ein „äußerst ambivalentes und emotionales Vorgehen“. Ein Angriff gegen grundlegende Prinzipien des [X.]echts liege jedoch nicht vor. Denn der Angeklagte habe nicht willkürlich gehandelt, insbesondere habe er mit seinem Vorgehen nicht lediglich Unmut gegenüber der Justizverwaltung äußern und sich Arbeit ersparen wollen. Er habe in den einzelnen Fällen Ermessenserwägungen angestellt und sich nicht ausschließlich von sachfremden Erwägungen leiten lassen. [X.] der Verurteilungen habe er nicht angegriffen. Schließlich habe er die Unvertretbarkeit seiner [X.]echtsanwendung weder für möglich gehalten noch habe er eine solche Unvertretbarkeit billigend in Kauf genommen.

II.

Die [X.]evision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge ist aus den Gründen der Antragsschrift des [X.]s bereits unzulässig.

2. Der Freispruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte in keinem der ihm vorgeworfenen Fälle einen elementaren [X.]echtsverstoß im Sinne von § 339 StGB begangen.

Ein [X.] macht sich gemäß § 339 StGB strafbar, wenn er bei Leitung oder Entscheidung einer [X.]echtssache zugunsten oder zum Nachteil einer [X.] das [X.]echt beugt.

a) Der Angeklagte handelte zwar jeweils bei Entscheidung einer [X.]echtssache, als er die gegen die Verurteilten verhängten Bewährungsauflagen aufhob und auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft hin die jeweiligen [X.] fasste. [X.]echtssache ist hier die Bewährungsüberwachung als rechtlich geregeltes und nach [X.]echtsgrundsätzen zu behandelndes Verfahren (vgl. [X.]/[X.] in [X.]/[X.], StGB, 30. Aufl., § 339 [X.]n. 6). Die Aufhebung der Bewährungsauflagen und die sich anschließenden Nichtabhilfeentscheidungen sind (Zwischen-)Entscheidungen im Sinne des § 339 StPO.

b) Das [X.] ist jedoch rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte in keinem der ihm vorgeworfenen Fälle das [X.]echt beugte. Zwar traf der Angeklagte rechtswidrige Entscheidungen, jedoch erweisen sich diese nicht als elementare [X.]echtsverstöße im Sinne von § 339 StGB.

aa) Als eine Beugung des [X.]echts im Sinne von § 339 StGB kommen nur elementare [X.]echtsverstöße in Betracht. Die Schwere des Unwerturteils wird dabei dadurch indiziert, dass [X.]echtsbeugung als Verbrechen eingeordnet ist und im Falle der Verurteilung das [X.]- oder Beamtenverhältnis des [X.] gemäß § 24 Nr. 1 D[X.]iG, § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG kraft Gesetzes endet (vgl. [X.], Beschluss vom 14. September 2017 - 4 St[X.] 274/16, [X.]St 62, 312; Urteil vom 13. Mai 2015 - 3 St[X.] 498/14; Urteil vom 18. Juli 2013 - 4 St[X.] 84/13; Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 St[X.] 97/09; Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 St[X.] 353/92, [X.]St 38, 381, 383). § 339 StGB erfasst deshalb nur [X.]echtsbrüche, bei denen sich der [X.] oder Amtsträger bei der Leitung oder Entscheidung einer [X.]echtssache bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer [X.] von [X.]echt und Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an [X.]echt und Gesetz an eigenen Maßstäben ausrichtet (st. [X.]spr.; vgl. [X.], Beschluss vom 14. September 2017 - 4 St[X.] 274/16, [X.]St 62, 312; Urteile vom 9. Mai 1994 - 5 St[X.] 354/93, [X.]St 40, 169, 178; vom 6. Oktober 1994 - 4 St[X.] 23/94, [X.]St 40, 272, 283; vom 5. Dezember 1996 - 1 [X.], [X.]St 42, 343, 345; vom 4. September 2001 - 5 [X.], [X.]St 47, 105, 109; vom 13. Mai 2015 - 3 St[X.] 498/14; Beschluss vom 7. Juli 2010 - 5 [X.]). Eine unrichtige [X.]echtsanwendung oder Ermessensausübung reicht daher für die Annahme einer [X.]echtsbeugung selbst dann nicht aus, wenn sich die getroffene Entscheidung als unvertretbar darstellt (st. [X.]spr.; vgl. [X.], Beschluss vom 14. September 2017 - 4 St[X.] 274/16, [X.]St 62, 312; [X.], Urteil vom 4. September 2001 - 5 [X.], [X.]St 47, 105, 109; Urteil vom 15. September 1995 - 5 St[X.] 713/94, [X.]St 41, 247, 251). Insoweit enthält das [X.]rkmal der Beugung des [X.]echts ein normatives Element, dem die Funktion eines wesentlichen [X.]egulativs zukommt.

Ob ein elementarer [X.]echtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände zu entscheiden (vgl. [X.], Urteil vom 13. Mai 2015 - 3 St[X.] 498/14; Urteil vom 23. Mai 1984 - 3 [X.], [X.]St 32, 357, 364). Dabei kann neben dem objektiven Gewicht und Ausmaß des [X.]echtsverstoßes insbesondere Bedeutung erlangen, von welchen Motiven sich der [X.] leiten ließ (vgl. [X.], Beschluss vom 15. August 2018 - 2 St[X.] 474/17; Urteil vom 13. Mai 2015 - 3 St[X.] 498/14; Urteil vom 11. April 2013 - 5 St[X.] 261/12, [X.]n. 54 f.; Beschluss vom 24. Juni 2009 - 1 [X.]; Urteil vom 20. September 2000 - 2 St[X.] 276/00).

bb) Zwar waren die vom Angeklagten erlassenen Aufhebungs- und [X.] nicht mit einer vertretbaren Begründung versehen, weil der Angeklagte sachfremde und damit unzulässige Ermessenserwägungen in seine Entscheidungen einstellte. Die Entscheidungen erweisen sich aber dennoch unter Beachtung der dargelegten Grundsätze aufgrund einer Gesamtbewertung nicht als elementare [X.]echtsbrüche im Sinne des § 339 StGB.

(1) Eröffnet eine [X.]echtsnorm - wie hier § 56e StGB - Ermessen, begründet das Willkürverbot eine Verpflichtung zu dessen sachgerechter Ausübung. Das zur Entscheidung berufene [X.] darf seine Entscheidung daher nicht nach freiem Belieben treffen, sondern muss das ihm eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausüben (vgl. [X.], Beschluss vom 29. Oktober 2015 - 2 Bv[X.] 388/13; Beschluss vom 15. Februar 2010 - 1 Bv[X.] 285/10; Beschluss vom 23. Mai 2006 - 1 Bv[X.] 2530/04, [X.]E 116, 1).

Die Ausübung des Ermessens hat sich daher ausschließlich an dem Zweck zu orientieren, zu dem es eingeräumt ist. Nachträgliche Entscheidungen über Bewährungsauflagen dürfen sich deshalb nur auf solche Gesichtspunkte stützen, die sich auf den Zweck und die rechtlichen Grenzen dieses [X.]echtsinstituts beziehen. Insoweit bestimmt § 56b Abs. 1 Satz 1 StGB, dass Bewährungsauflagen der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Sie stellen damit eine strafähnliche Sanktion dar (vgl. [X.], Beschluss vom 29. Januar 2014 - 4 [X.], [X.]St 59, 172; [X.] in [X.]/[X.], StGB, 30. Aufl., § 56b [X.]n. 2 mwN). Einschränkend regelt § 56b Abs. 1 Satz 2 StGB, dass an den Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden dürfen. Allein solche neuen oder neu hervorgetretenen Tatsachen, die eine geänderte Bewertung des [X.] oder der Zumutbarkeit der Auflage für den Verurteilten rechtfertigen, dürfen in eine Abwägung nach § 56e StGB eingestellt werden (vgl. [X.], Beschluss vom 2. November 2010 - 2 Ws 704/10; [X.], Beschluss vom 4. August 2008 - 1 [X.]/08; [X.], Beschluss vom 24. September 2004 - 1 Ws 248/04; [X.], Beschluss vom 6. Mai 2010 - [X.]; [X.] in [X.]/[X.], StGB, 30. Aufl., § 56e [X.]n. 8; [X.] in [X.], 12. Aufl., § 56e [X.]n. 5; [X.]/Kett-Straub in [X.], 4. Aufl., § 56e [X.]n. 12).

Keine zulässigen Ermessenserwägungen sind demgegenüber der vom Angeklagten in den Gründen der Aufhebungs- und [X.] angeführte personelle Engpass des Gerichts bzw. die Überlastung des zur Entscheidung berufenen [X.]s, denn diese Umstände stehen weder mit der Bewertung des [X.] noch mit der Zumutbarkeit der Auflage für den Verurteilten in einem sachlichen Zusammenhang. Dem Strafrecht ist es grundsätzlich fremd, den Inhalt von Ermessensentscheidungen an der Arbeitsbelastung des [X.]s zu orientieren (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Juni 2009 - 1 [X.], [X.]n. 6 f.; Urteil vom 3. Dezember 1998 - 1 [X.], [X.]St 44, 258). Soweit der Angeklagte insbesondere in den Gründen der [X.] seinen Unmut über die Personalpolitik der Justizverwaltung aufscheinen ließ, fehlt es ebenfalls offensichtlich am sachlichen Zusammenhang mit dem Gegenstand der Entscheidung. Der Angeklagte durfte das gerichtliche Verfahren nicht zweckentfremden, um persönliche justizpolitische Überzeugungen zu transportieren (vgl. [X.], Urteil vom 27. Oktober 2020 - [X.] ([X.]) 4/20). Die Beschlussbegründungen erweisen sich nach alledem als sachwidrig.

(2) Dem Angeklagten ist jedoch bei wertender Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände kein elementarer [X.]echtsverstoß zur Last zu legen.

(a) Zwar stellen sich die Aufhebungs- und [X.] des Angeklagten für sich betrachtet wegen der dort niedergelegten unvertretbaren Ermessenserwägungen als rechtswidrig dar. Der [X.] verkennt auch nicht, dass der Angeklagte mit seinen Entscheidungen nachträglich in das aus Schuld- und Strafausspruch sowie Bewährungsauflage bestehende Gefüge der ursprünglichen Sanktion mit rechtswidrigen Erwägungen eingegriffen hat. Indes ist die Aufhebung von Auflagen im [X.]ahmen der Bewährungsaufsicht nach § 56e StGB grundsätzlich statthaft und fiel gemäß §§ 453b, 453 StPO i.V.m. § 462a Abs. 2 und Abs. 1 StPO in die Zuständigkeit des Angeklagten. Dass sich Entscheidungen im [X.]ahmen grundsätzlich eingeräumter Entscheidungsmöglichkeiten und prozessualer Zuständigkeiten halten, schließt für sich genommen eine [X.]echtsbeugung nicht aus (vgl. [X.], Urteil vom 27. Januar 2017 - 5 St[X.] 328/15), kann aber ‒ wie hier ‒ im Zusammentreffen mit weiteren Umständen den [X.]echtsverstoß als weniger gravierend erscheinen lassen.

(b) Maßgeblich gegen das Vorliegen eines elementaren [X.]echtsverstoßes sprechen hier die vom [X.] letztlich rechtsfehlerfrei festgestellten weiteren sachbezogenen Überlegungen, die der Angeklagte bei Erlass der jeweiligen Entscheidungen anstellte.

Hieraus ergibt sich, dass der Angeklagte seine Entscheidungen nicht ausschließlich an sachfremden Kriterien ausrichtete. Vielmehr legte er ihnen weitere Ermessenserwägungen zugrunde, wenngleich er diese - mit Ausnahme des Falls des Verurteilten [X.].     , wo sie mit dem Hinweis auf die fehlende [X.]eaktion des [X.] auf gerichtliche Anfragen zumindest angedeutet wurden - freilich nicht in die [X.] aufnahm. Diese Erwägungen waren jedenfalls nicht sachfremd, sondern ließen sich auf den Zweck und die rechtlichen Grenzen der Erteilung von Bewährungsauflagen, wie sie sich aus § 56b Abs. 1 StGB ergeben, zurückführen. In den Fällen der Verurteilten [X.], [X.].  und [X.].     standen die vom Angeklagten berücksichtigten Umstände - Erbringen des weit überwiegenden Teils der [X.], erstmaliger Freiheitsentzug bzw. anscheinend fehlendes Interesse des Geschädigten an der Schadenswiedergutmachung - im Zusammenhang mit einer Neubewertung des [X.] des § 56b Abs. 1 Satz 1 StGB. Im Fall des Verurteilten [X.]berührten dessen berufliche Pläne die Zumutbarkeit der [X.] gemäß § 56b Abs. 1 Satz 2 StGB und legten zumindest eine Überprüfung nahe.

(c) Darüber hinaus handelte der Angeklagte nicht in der Absicht, eine ermessensfehlerfreie Anwendung des [X.]echts generell zu verweigern (vgl. [X.], Urteil vom 4. September 2001 - 5 [X.], [X.]St 47, 105 [zu mutwilligem [X.]]). Vielmehr war es in den einzelnen Fällen sein Ziel, ein [X.]echtsmittel der Staatsanwaltschaft und damit eine Entscheidung des [X.] herbeizuführen, um eine Stellungnahme zu seiner [X.]echtsauffassung zu erhalten. Die Entscheidung des [X.] wollte er akzeptieren und akzeptierte sie tatsächlich, was sich darin zeigte, dass er die Bewährungsaufsicht ohne weitere Unregelmäßigkeiten fortführte. Diese innere Haltung des Angeklagten ist auch dadurch belegt, dass er für seine Zwecke gezielt vier Verfahren auswählte.

(d) Die Fehler in der Anwendung des materiellen Strafrechts erlangen auch nicht dadurch das Gewicht eines elementaren [X.]echtsverstoßes, dass ihnen ein Verstoß gegen das Verfahrensrecht vorausging.

Der [X.] entnimmt dem Zusammenhang der Urteilsgründe, dass der Angeklagte es jeweils entgegen § 453 Abs. 1 Satz 2 StPO unterließ, vor Erlass der Aufhebungsentscheidungen die Staatsanwaltschaft zu seinem beabsichtigten Vorgehen anzuhören. Dieser Verfahrensfehler, der für sich genommen nicht das Gewicht einer [X.]echtsbeugung erreicht, erhöht in den konkreten Fällen auch den Schweregrad des materiellen [X.]echtsverstoßes nicht. Soweit in der [X.]echtsprechung anerkannt ist, dass eine heimliche Vorgehensweise ein Gesichtspunkt sein kann, der im [X.]ahmen einer Gesamtbetrachtung einen [X.]echtsverstoß als [X.]echtsbeugung kennzeichnet (vgl. [X.], Beschluss vom 14. September 2017 - 4 St[X.] 274/16 [Scheinverfügungen eines Staatsanwalts, um Verfahren der Dienstaufsicht zu entziehen]; Urteil vom 18. Juli 2013 - 4 St[X.] 84/13), sind die betreffenden Konstellationen mit der vorliegenden nicht vergleichbar. Denn mit dem Unterlassen der Anhörungen bezweckte der Angeklagte kein heimliches Vorgehen, da es ihm gerade darauf ankam, dass das Beschwerdegericht im Instanzenzug seine „[X.]echtsauffassung“ überprüfte, was aber eine vorherige Kenntnisnahme der Staatsanwaltschaft spätestens nach Erlass der Beschlüsse voraussetzte. Die Sachwidrigkeit der Entscheidungen lag damit - dem Plan des Angeklagten entsprechend - offen zutage. Objektiv verschlechterte sich die Prozesslage für die Staatsanwaltschaft nicht wesentlich, da ihr rechtliches Gehör im Beschwerdeverfahren nachgeholt werden konnte.

(e) Nicht als bewusster [X.]echtsverstoß anzusehen ist es, dass der Angeklagte nicht alle Erwägungen in die [X.] aufgenommen hat; insoweit ist den rein formellen Anforderungen des § 34 StPO durch die vom Angeklagten gegebene - wenn auch sachwidrige und inhaltlich nicht erschöpfende - Begründung genügt.

(3) Insgesamt rechtfertigt das Zusammentreffen der genannten objektiven und subjektiven Faktoren die Bewertung, dass sich der Angeklagte jedenfalls nicht im Sinne des § 339 StGB in schwerwiegender Weise von [X.]echt und Gesetz entfernt hat.

Sost-Scheible     

        

Bender     

        

[X.]

        

Lutz     

        

Maatsch     

   

Meta

4 StR 83/20

21.01.2021

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Zweibrücken, 4. Oktober 2019, Az: 4105 Js 5988/16 - 1 KLs

§ 56b Abs 1 S 1 StGB, § 56e Alt 3 StGB, § 339 StGB, § 453 Abs 1 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 21.01.2021, Az. 4 StR 83/20 (REWIS RS 2021, 9329)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 9329

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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