Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.08.2019, Az. 2 AZR 111/19

2. Senat | REWIS RS 2019, 4240

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Gegenstand

Zugang einer Kündigungserklärung - Einwurf in den Hausbriefkasten - Verkehrsanschauung


Tenor

1. Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] - Kammern [X.] - vom 14. Dezember 2018 - 9 [X.]/18 - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten - soweit für das [X.]evisionsverfahren von Interesse - über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.

2

Der Kläger, der in [X.] ([X.], [X.] [X.]as-[X.]hin) wohnt, ist langjährig bei der [X.]eklagten in deren Werk in [X.] ([X.]aden-Württemberg) beschäftigt.

3

Die [X.]eklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des [X.] mit Schreiben vom 27. Januar 2017 (Freitag) außerordentlich fristlos. Das Kündigungsschreiben wurde an diesem Tag von Mitarbeitern der [X.]eklagten gegen 13:25 Uhr in den Hausbriefkasten des [X.] eingeworfen. Die Postzustellung in [X.] ist bis gegen 11:00 Uhr vormittags beendet.

4

Mit seiner am 20. Februar 2017 (Montag) beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger die [X.]echtsunwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Er habe das Kündigungsschreiben erst am 30. Januar 2017 (Montag) in seinem Hausbriefkasten vorgefunden. Dieses sei ihm nicht am 27. Januar 2017, sondern frühestens am Folgetag zugegangen.

5

Der Kläger hat - soweit für das [X.]evisionsverfahren von Interesse - beantragt

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der [X.]eklagten mit Schreiben vom 27. Januar 2017 nicht mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden ist.

6

Die [X.]eklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, der Kläger habe die Frist des § 4 Satz 1 [X.] nicht gewahrt. Die Kündigung vom 27. Januar 2017 sei ihm noch am selben Tag zugegangen.

7

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner [X.]evision verfolgt der Kläger seinen Feststellungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision ist begründet. Aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen durfte das [X.] den Antrag des [X.] nicht abweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der Parteien beendet worden ist, kann der [X.] nicht selbst entscheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

9

I. Mit der gegebenen Begründung durfte das Berufungsgericht den Kündigungsschutzantrag nicht abweisen. Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO).

1. Das [X.] hat angenommen, die außerordentliche Kündigung der [X.] vom 27. Januar 2017 gelte nach § 13 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 7 Halbs. 1 [X.] als von Anfang an rechtswirksam, da der Kläger deren Rechtsunwirksamkeit nicht innerhalb der [X.] des § 4 Satz 1 [X.] geltend gemacht habe. Das Kündigungsschreiben sei dem Kläger bereits am 27. Januar 2017 zugegangen. Es könne nach den gewöhnlichen Verhältnissen und den Gepflogenheiten des Verkehrs mit einer Kenntnisnahme von Schriftstücken, die in den Hausbriefkasten eines Arbeitnehmers eingeworfen würden, bis 17:00 Uhr gerechnet werden. Auf den Zeitpunkt der Beendigung der örtlichen Postzustellung komme es nicht an. Denn zum einen lasse sich ein solcher Zeitpunkt heute nicht mehr einheitlich feststellen. Zum anderen beruhe ein solches Verständnis auf der Annahme, dass der Empfänger zeitnah nach der Postzustellung in seinem Hausbriefkasten nachsehe, ob er Post erhalten habe. Diese Annahme entspreche nicht mehr der Wirklichkeit, da berufstätige Menschen ihren Hausbriefkasten regelmäßig erst nach Rückkehr von der Arbeit leerten.

2. Diese Begründung des [X.]s ist nicht frei von Rechtsfehlern.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] (vgl. [X.] 25. April 2018 - 2 [X.] - Rn. 15, [X.]E 162, 317; 26. März 2015 - 2 [X.] - Rn. 37) und des [X.] (vgl. [X.] 14. Februar 2019 - [X.]/17 - Rn. 11; 5. Dezember 2007 - [X.] - Rn. 9) geht eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden iSv. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen wie ein Briefkasten. Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist nach den „gewöhnlichen Verhältnissen“ und den „Gepflogenheiten des Verkehrs“ zu beurteilen. So bewirkt der Einwurf in einen Briefkasten den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist. Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten. Wenn für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist es unerheblich, ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war. Ihn trifft die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Unterlässt er dies, wird der Zugang durch solche - allein in seiner Person liegenden - Gründe nicht ausgeschlossen.

b) Es ist Aufgabe des Berufungsgerichts festzustellen, wann nach der Verkehrsanschauung mit der Entnahme des am 27. Januar 2017 gegen 13:25 Uhr in den Hausbriefkasten eingeworfenen Briefs zu rechnen war. Die vom [X.] in diesem Zusammenhang getroffenen Feststellungen tragen sein Ergebnis nicht.

aa) Die Feststellung des Bestehens und Inhalts einer Verkehrsanschauung ist eine im Wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegende Frage, deren tatrichterliche Beantwortung nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle daraufhin unterliegt, ob das Berufungsgericht bei seiner Würdigung einen falschen rechtlichen Maßstab angelegt, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen hat (vgl. [X.] 16. Mai 2017 - 9 [X.] - Rn. 13 f.; 12. April 2016 - 9 [X.] - Rn. 13 ff.; [X.] 24. Januar 2019 - I ZR 200/17 - Rn. 33; 17. Mai 2018 - I ZR 252/16 - Rn. 39).

bb) [X.] und [X.] haben bislang die Annahme einer Verkehrsanschauung, wonach bei [X.] im Allgemeinen mit einer Leerung unmittelbar nach Abschluss der üblichen Postzustellzeiten zu rechnen sei, die allerdings stark variieren können, nicht beanstandet (vgl. [X.] 22. März 2012 - 2 [X.] - Rn. 21, 35; [X.] 21. Januar 2004 - XII ZR 214/00 - zu II 3 der Gründe). Entgegen der Auffassung des [X.]s stellen die örtlichen Zeiten der Postzustellung nicht unbeachtliche individuelle Verhältnisse des Empfängers dar. Zu diesen könnte zB eine Vereinbarung mit dem Postboten über persönliche Zustellzeiten zählen (vgl. [X.] 21. Januar 2004 - XII ZR 214/00 - aaO), konkrete eigene Leerungsgewohnheiten oder auch die krankheits- oder urlaubsbedingte Abwesenheit (vgl. [X.] 25. April 2018 - 2 [X.] - Rn. 15, [X.]E 162, 317). Die allgemeinen örtlichen Postzustellungszeiten gehören dagegen nicht zu den individuellen Verhältnissen, sondern sind vielmehr dazu geeignet, die Verkehrsauffassung über die übliche Leerung des [X.] zu beeinflussen. Der [X.] hat bereits in der Entscheidung vom 22. März 2012 (- 2 [X.] - Rn. 21) auf die (örtlich) stark variierenden Postzustellungszeiten, die für die Bestimmung der Verkehrsanschauung herangezogen werden können, hingewiesen. Das Bestehen einer an die Postzustellungszeiten angelehnten Verkehrsanschauung hat das [X.] ausdrücklich verneint.

cc) Das [X.] kann zur Bestimmung des Zugangszeitpunkts auch eine (gewandelte) Verkehrsanschauung feststellen, die beispielsweise aufgrund geänderter Lebensumstände eine spätere Leerung des [X.] - etwa mehrere Stunden nach dem Einwurf oder bezogen auf eine „feste“ Uhrzeit am Tag - zum Gegenstand hat. Die Frage nach einer Verkehrsanschauung kann regional unterschiedlich zu beurteilen sein und die Antwort kann sich im Lauf der Jahre ändern ([X.] 20. November 2008 - [X.]/07 - Rn. 28). Die Fortdauer des Bestehens oder Nichtbestehens einer Verkehrsanschauung wird nicht vermutet ([X.] 1. Oktober 1992 - V ZR 36/91 - zu III der Gründe). Zu den tatsächlichen Grundlagen einer gewandelten Verkehrsanschauung muss das [X.] Feststellungen treffen (vgl. [X.] 22. März 2012 - 2 [X.] - Rn. 34).

dd) [X.], der das Verständnis des Verkehrs ohne sachverständige Hilfe ermittelt, geht davon aus, dass er aufgrund eigenen [X.] selbst über die erforderliche Sachkunde verfügt. Dementsprechend ist die Frage, ob diese Annahme zutrifft, grundsätzlich nach denselben Regeln zu beurteilen, die auch ansonsten für die Beantwortung der Frage gelten, ob ein Gericht auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten und stattdessen aufgrund eigener Sachkunde entscheiden kann. Die Beurteilung, ob die Feststellung der Verkehrsauffassung kraft eigener richterlicher Sachkunde möglich ist oder eine Beweisaufnahme erfordert, ist dabei vorrangig tatrichterlicher Natur. Sie ist daher in der Revisionsinstanz ebenfalls nur daraufhin zu überprüfen, ob der Tatrichter den Prozessstoff verfahrensfehlerfrei ausgeschöpft und seine Beurteilung zur Verkehrsauffassung frei von Widersprüchen zu den Denkgesetzen und [X.] vorgenommen hat ([X.] 17. Juli 2013 - I ZR 21/12 - Rn. 29; 18. Oktober 2001 - I ZR 193/99 - zu II 1 d der Gründe). Dabei muss das Gericht eine von ihm in Anspruch genommene eigene Sachkunde im Urteil darlegen (vgl. [X.] 1. Oktober 1992 - V ZR 36/91 - zu III der Gründe). Dies gilt aber nicht, wenn es um die Feststellung der Verkehrsauffassung der Allgemeinheit geht, zu der der Tatrichter als Teil der Allgemeinheit regelmäßig ohne Weiteres in der Lage ist, ohne dass dies einer Darlegung im Berufungsurteil bedarf ([X.] 18. Oktober 2001 - I ZR 193/99 - zu II 1 b der Gründe). Insoweit kann es auch ausreichen, dass er den angesprochenen Verkehrskreisen angehört (vgl. [X.] 24. Januar 2019 - I ZR 200/17 - Rn. 34).

ee) Die Ausführungen des [X.]s zum Bestehen einer (gewandelten) Verkehrsanschauung in Bezug auf den Leerungszeitpunkt von [X.] halten auch einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

(1) Die vom Berufungsgericht in Bezug genommenen „[X.] während der Tagesstunden“ eines „erheblichen Teils der Bevölkerung“ lassen für sich allein keinen Rückschluss auf eine Verkehrsanschauung betreffend die Gepflogenheiten des Verkehrs hinsichtlich der Leerung eines [X.] am Wohnort des [X.] zu. Vielmehr blenden diese Erwägungen wesentliche Umstände aus.

(a) Schon nach den Zahlen, von denen das [X.] ausgeht, ist nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung überhaupt kernerwerbstätig, darunter 6,8 Millionen Personen als geringfügig Beschäftigte oder in Teilzeit mit weniger als 20 Stunden Wochenarbeitszeit. Daneben hat das Berufungsgericht noch 5 % Nachtarbeitnehmer berücksichtigt, die nicht zu [X.] arbeiteten. Auf flexible Arbeitszeitmodelle oder im Homeoffice Tätige geht das [X.] nicht ein. Es begründet ferner nicht, warum die Lebensumstände der in einem „Normalarbeitszeitverhältnis“ tätigen Minderheit der Bevölkerung die Verkehrsauffassung betreffend die Leerung von [X.] der Gesamtbevölkerung bestimmen sollen.

(b) Darüber hinaus hat das [X.] nicht bedacht, dass der Kläger, an dessen Wohnanschrift die Zustellung durchgeführt wurde, nicht in [X.], sondern in [X.] ansässig ist. Es kommt aber auf die Verkehrsanschauung am [X.] an, sodass alle [X.] betreffenden statistischen Werte, auf die sich das Berufungsgericht bezieht, ungeeignet sind, um das Bestehen einer bestimmten Verkehrsanschauung zur Leerung von [X.] in der [X.], im [X.] [X.] oder am Wohnort des [X.] zu begründen. Dort mögen sowohl die Daten hinsichtlich der berufstätigen Bevölkerung, als auch die Zeiten für die übliche Leerung von [X.] anders als in [X.] oder in [X.] zu beurteilen sein.

(2) Das [X.] begründet ferner nicht, warum es hinsichtlich der Verkehrsanschauung überhaupt auf die erwerbstätige Bevölkerung ankommen soll.

(a) Auch nach den vom [X.] verwendeten Zahlen handelt es sich dabei selbst unter Einschluss von [X.] um eine - wenn auch große - Minderheit der Bevölkerung (in [X.]). Das Berufungsgericht blendet dabei zudem aus, dass nicht alle Erwerbstätigen in Singlehaushalten leben, sondern die Leerung des [X.] auch durch andere Mitbewohner erfolgen kann, die nicht oder zu anderen Zeiten arbeiten, und danach möglicherweise keine erneute Leerung des [X.] mehr stattfindet.

(b) Unterstellt, das [X.] habe die von ihm angenommene Verkehrsanschauung als auf Erwerbstätige beschränkt angesehen, hätte es berücksichtigen müssen, dass das Arbeitsverhältnis des [X.] bereits zuvor von der [X.] zum 31. Dezember 2016 gekündigt worden war. Insoweit hätte es besonderer Darlegungen bedurft, weshalb eine ausschließlich auf Erwerbstätige bezogene Verkehrsanschauung auch im Hinblick auf den Kläger gelten sollte, der bereits vor dem 27. Januar 2017 von der [X.] nicht mehr zur Arbeit herangezogen wurde.

(3) Soweit das [X.] den Zeitpunkt der Leerung des [X.] nach der Verkehrsanschauung auf 17:00 Uhr festlegt, handelt es sich schließlich um einen willkürlich gesetzten, nicht näher begründeten Zeitpunkt. Das Berufungsgericht meint, dieser Zeitpunkt sei „angemessen“. Sollte es damit im weitesten Sinn auf Verhältnismäßigkeitserwägungen abstellen, wären diese ungeeignet, eine Verkehrsanschauung zu begründen. Gleiches gilt für die vom [X.] angesprochenen Aspekte der „Rechtssicherheit“ und der „Begrenzung der Belastungen des Erklärungsempfängers“, die in § 130 Abs. 1 BGB nicht angesprochen werden.

(4) Die im Schrifttum (vgl. [X.]/[X.] 78. Aufl. § 130 Rn. 6) teilweise vertretene Ansicht, die Vorstellung sei überholt, dass eine Hausbriefkastenleerung nur vormittags erwartet werden könne, da die [X.] sowie andere Anbieter von Postdienstleistungen auch am Nachmittag zustellten, steht nicht im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung. Es bedürfte ggf. einer geeigneten Tatsachenfeststellung, wann die Postzustellung auch unter Berücksichtigung anderer Anbieter (üblicherweise) abgeschlossen ist. Dabei werden etwaig seltene späte Zustellungen durch private Anbieter idR nicht die Verkehrsanschauung über die regelmäßige Leerung des [X.] prägen. Soweit das [X.] ausführt, es sei kaum feststellbar, wann in einem [X.] Dorf die Postzustellung abgeschlossen sei, steht dies im Widerspruch zu seiner Feststellung, wonach die Postzustellung am Wohnort des [X.] bis gegen 11:00 Uhr vormittags beendet ist. [X.] ist auch der Ansatz, dem Erklärenden müsse ein fristwahrender Zugang bis 24:00 Uhr möglich sein, da sonst eine unzulässige Verkürzung des [X.] gemäß § 188 BGB vorliege (so aber [X.]/Singer/[X.] [2017] § 130 Rn. 76). § 188 BGB besagt nur etwas über das Fristende, nicht aber, wann vom Zugang einer Willenserklärung unter Abwesenden auszugehen ist. Auch bei der beabsichtigten Abgabe einer Willenserklärung unter Anwesenden gelingt es nicht stets, eine Frist voll auszuschöpfen.

3. Das Urteil erweist sich auch nicht aus einem anderen Grund als im Ergebnis zutreffend. Die Klage gegen die außerordentliche Kündigung kann, soweit mangels Fristversäumnis eine inhaltliche Prüfung stattfindet, Erfolg haben.

II. Der [X.] kann nicht selbst entscheiden, ob die außerordentliche Kündigung der [X.] vom 27. Januar 2017 nach § 13 Abs. 1 Satz 2, § 7 Halbs. 1 [X.] als von Anfang an rechtswirksam gilt. Dies würde voraussetzen, dass dem Kläger das Kündigungsschreiben am 27. Januar 2017 zugegangen ist. Das wäre nur anzunehmen, wenn nach dem am 27. Januar 2017 gegen 13:25 Uhr erfolgten Einwurf des Schreibens in den Hausbriefkasten des [X.] noch mit einer Entnahme zu rechnen war. Diese Beurteilung liegt im Wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet und bedarf einer darauf bezogenen Würdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO.

III. Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sind folgende Hinweise veranlasst.

1. Das [X.] wird Tatsachenfeststellungen zu einer (ggf. gewandelten) Verkehrsanschauung betreffend den Zeitpunkt der Leerung von [X.] in dem von ihm als maßgeblich angesehenen räumlichen Gebiet ([X.], [X.] [X.] oder Wohnort des [X.]) zu treffen haben, wonach eine solche noch bis 13:25 Uhr zu erwarten ist. Hierzu bedarf es allerdings eines substanziierten Tatsachenvortrags der [X.], die für den ihr günstigen Umstand eines Zugangs des Kündigungsschreibens noch am 27. Januar 2017 die Darlegungs- und Beweislast trägt (vgl. [X.] 18. Januar 1978 - IV ZR 204/75 - zu I 3 der Gründe, [X.]Z 70, 232; [X.]/[X.] 78. Aufl. § 130 Rn. 21; [X.]/[X.] BGB 15. Aufl. § 130 Rn. 34).

2. Soweit das [X.] diese Feststellung aus eigener Sachkunde trifft, hat es diese darzulegen oder auszuführen, warum es sich insoweit als Teil der Allgemeinheit oder der betroffenen Verkehrskreise sieht.

3. Sollte das Berufungsgericht über keine eigene Sachkunde bezüglich der von der [X.] ausreichend dargelegten Verkehrsauffassung am Wohnort des [X.] in [X.] zum Zeitpunkt der Leerung von [X.] verfügen, wird es etwaigen Beweisantritten der [X.] (vgl. zB [X.] 6. Juni 2002 - I ZR 307/99 - zu II 3 der Gründe) nachgehen müssen.

4. Wenn das [X.] zum Ergebnis käme, die Klage sei nicht verspätet, wäre der Hilfsantrag des [X.] nach § 5 [X.] nicht zur Entscheidung angefallen (vgl. [X.] 22. März 2012 - 2 [X.] - Rn. 14; 28. Mai 2009 - 2 [X.] - Rn. 17, [X.]E 131, 105). Dann hätte es über die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung zu entscheiden, was es bislang - aus seiner Sicht konsequent - unterlassen hat. Ebenso wäre ggf. über die als uneigentliche Hilfsanträge auszulegenden Klageanträge gegen die weitere ordentliche Kündigung mit Schreiben vom 31. Januar 2017 (vgl. [X.] 21. November 2013 - 2 [X.] - Rn. 17 ff., [X.]E 146, 333) und auf Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits (vgl. [X.] 18. Juni 2015 - 2 [X.] - Rn. 61) zu befinden.

        

    Koch    

        

    Niemann    

        

    Schlünder    

        

        

        

    Söller    

        

    [X.]    

                 

Meta

2 AZR 111/19

22.08.2019

Bundesarbeitsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Karlsruhe, 17. April 2018, Az: 2 Ca 60/17, Urteil

§ 13 Abs 1 S 2 KSchG, § 7 Halbs 1 KSchG, § 4 S 1 KSchG, § 130 Abs 1 S 1 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.08.2019, Az. 2 AZR 111/19 (REWIS RS 2019, 4240)

Papier­fundstellen: NJW 2019, 3666 REWIS RS 2019, 4240

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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