Bundesgerichtshof, Urteil vom 28.11.2012, Az. 5 StR 412/12

5. Strafsenat | REWIS RS 2012, 913

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Gegenstand

Hauptverhandlungsunterbrechung in Strafsachen: Fristwahrende Sachverhandlung durch Anordnung und Vollzug des Selbstleseverfahrens


Leitsatz

Sachverhandlung durch Anordnung und Vollzug des Selbstleseverfahrens.

Tenor

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 7. Mai 2012 werden verworfen.

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

– Von Rechts wegen –

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagten wegen banden- und gewerbsmäßigen Betruges verurteilt, den Angeklagten [X.]     zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, den Angeklagten [X.]zu einer solchen von drei Jahren. Ihre Revisionen, mit denen sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügen, bleiben ohne Erfolg.

2

Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen hat, wie der [X.] in seiner Antragsschrift vom 22. August 2012 ausgeführt hat, einen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten nicht ergeben. Der näheren Erörterung bedarf nur die von beiden Beschwerdeführern jeweils erhobene Verfahrensrüge, dass die im [X.] vom 3. Januar 2012 vom Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 [X.] getroffenen Feststellungen zum Selbstleseverfahren keine fristwahrende Sachverhandlung im Sinne des § 229 Abs. 1, 2 und 4 Satz 1 [X.] darstellten.

3

1. Den Verfahrensrügen liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

4

Der Vorsitzende der [X.] verfügte mit Erlass des [X.] und Terminsanberaumung, dass von der Verlesung von 520 in einer „[X.]“ angeführten Urkunden nach § 249 Abs. 2 [X.] in der Hauptverhandlung abgesehen werden solle. Die [X.] wurde den Verfahrensbeteiligten mit dem Zusatz mitgeteilt, dass bereits jetzt für die Verteidiger, die Angeklagten und den [X.] der Staatsanwaltschaft Gelegenheit bestehe, diese Urkunden nach [X.] auf der Geschäftsstelle einzusehen.

5

Im ersten [X.] bestätigten alle Verfahrensbeteiligten, dass sie die [X.] erhalten hätten. Der Vorsitzende ordnete bis zum elften [X.], dem 20. Dezember 2011, gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 [X.] hinsichtlich weiterer Urkunden das Selbstleseverfahren an, darunter auch schriftliche Angaben von Zeugen, deren Verlesung die [X.] gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 [X.] mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten zuvor beschlossen hatte.

6

In dem nachfolgenden [X.] am 3. Januar 2012, der von 7.50 Uhr bis 7.55 Uhr dauerte, wurden zunächst antragsgemäß zwei Pflichtverteidiger anstelle der abwesenden Pflichtverteidiger beigeordnet. Anschließend erklärten die Schöffen und die Berufsrichter jeder für sich, dass sie vom Wortlaut der in der [X.] genannten Urkunden und der weiteren Urkunden, für die im Laufe der Hauptverhandlung das Selbstleseverfahren angeordnet worden war, durch Lesen Kenntnis genommen hätten. Es wurde des Weiteren festgestellt, dass die übrigen Verfahrensbeteiligten Gelegenheit hatten, vom Wortlaut all dieser Urkunden selbst Kenntnis zu nehmen. Sodann ordnete der Vorsitzende zusammenfassend an, dass von der Verlesung vorgenannter Urkunden und Schriftstücke nach „§ 249 Abs. 2 Satz 1 [X.]“ abgesehen werde. Die Hauptverhandlung wurde danach unterbrochen und am 1. Februar 2012 fortgesetzt.

7

2. Eine Verletzung der Vorschriften über die Höchstdauer der Unterbrechung der Hauptverhandlung gemäß § 229 Abs. 1, 2 und 4 Satz 1 [X.] liegt nicht vor.

8

a) Der Senat erachtet die Anordnungen und Feststellungen des Vorsitzenden im [X.] vom 3. Januar 2012 zur Durchführung des [X.] (§ 249 Abs. 2 Sätze 1 und 3 [X.]) als Sachverhandlung im Sinne der Unterbrechungsvorschriften. Eine solche liegt vor, wenn die Verhandlung den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachverhaltsaufklärung betrifft ([X.], Urteil vom 11. Juli 2008 – 5 [X.] – und Beschluss vom 22. Juni 2011 – 5 [X.], [X.]R [X.] § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 9 und 13 mwN).

9

b) Entgegen der Entscheidung des 3. Strafsenats des [X.] (Beschluss vom 16. Oktober 2007 – 3 [X.], [X.]R [X.] § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 8) stellen allein die Feststellungen des Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] schon eine inhaltliche Sachverhandlung dar. Die Feststellung, dass außerhalb der Hauptverhandlung eine Beweiserhebung durch Selbstlesung einer Urkunde stattgefunden hat, erschöpft sich nicht in deren Protokollierung (vgl. hierzu [X.], [X.] 6/2008 [X.]), sondern betrifft den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachaufklärung. Die Berufsrichter und die Schöffen geben auf Nachfrage des Vorsitzenden regelmäßig – wie auch hier – die festzustellende Erklärung ab, dass sie vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben; gleiches gilt für die Erklärung der übrigen Verfahrensbeteiligten, dass sie hierzu Gelegenheit hatten. Erst mit dem Akt der Feststellung durch den Vorsitzenden ist nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] dieser Teil einer Beweisaufnahme durch das Selbstleseverfahren abgeschlossen. Die Urkunde kann dann zum Gegenstand von Erklärungen (§ 257 [X.]) gemacht werden. Dem Tatgericht ist es ohne die abschließende Feststellung verwehrt, die Urkunde zur Urteilsfindung heranzuziehen (§ 261 [X.], vgl. [X.], Beschluss vom 28. Januar 2010 – 5 [X.], [X.]St 55, 31, 32).

c) Der Senat ist – abweichend von den Ausführungen des [X.]s in der Hauptverhandlung – nicht gehalten, gemäß § 132 Abs. 2 und 3 [X.] beim 3. Strafsenat des [X.] anzufragen, ob er an seiner entgegenstehenden Rechtsauffassung festhält, weil der prozessuale Sachverhalt eine Besonderheit aufweist.

Der Vorsitzende der [X.] hat zwar teilweise hinsichtlich in der Hauptverhandlung vorausgegangener Anordnungen des [X.] die Feststellungen nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] getroffen; eine insoweit auch getroffene wiederholte Anordnung mag ohne verfahrensrechtlichen Gehalt sein. In Bezug auf die [X.] lag aber noch keine Anordnung des [X.] durch den Vorsitzenden vor, die in der Hauptverhandlung erfolgen muss, deren Inbegriff (§ 261 [X.]) sie mitbestimmt. Die Verfügung des Vorsitzenden in der Terminsanberaumung, dass von der Verlesung der in dieser Liste angeführten Urkunden gemäß § 249 Abs. 2 [X.] abgesehen werden solle, stellt noch keine Anordnung im Sinne dieser Vorschrift, sondern lediglich eine Vorankündigung zur Verfahrensgestaltung dar (vgl. auch [X.] in Löwe/[X.], [X.], 26. Aufl., § 249 Rn. 68, 69). Jedenfalls insoweit bedurfte es – anders als etwa bei einem Beschluss nach § 247a [X.] (vgl. [X.], Beschluss vom 28. September 2011 – 5 [X.], [X.], 65) – in der Hauptverhandlung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 [X.] neben den gebotenen Feststellungen im Zusammenhang mit der Kenntnisnahme von den Urkunden noch einer Anordnung des Vorsitzenden. Diese erfolgte ausdrücklich – so dass es auf eine etwa mögliche konkludente Anordnung nicht ankommt – in dem hier in Streit stehenden [X.] vom 3. Januar 2012. Hierdurch unterscheidet sich der prozessuale Sachverhalt von dem vom 3. Strafsenat des [X.] entschiedenen Fall, in dem die Anordnung des [X.] an einem früheren [X.] getroffen worden war und lediglich dessen Vollzug protokolliert wurde. Dass die Anordnung der Feststellung des Vollzugs des [X.] durch Kenntnisnahme und Gelegenheit hierzu nicht vorausging, sondern ihr nachfolgte, ist zwar strukturell ungeschickt (vgl. [X.], Beschluss vom 28. August 2012 – 5 StR 251/12, NJW 2012, 3319, zum Abdruck in [X.]St bestimmt), indes unschädlich (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Januar 2012 – 1 StR 587/11, [X.], 346, 347).

Die Anordnung des [X.] nach § 249 Abs. 2 Satz 1 [X.] stellt unzweifelhaft eine Sachverhandlung dar, in gleicher Weise wie eine Beweisanordnung (vgl. [X.], Urteil vom 19. April 2000 – 3 [X.], [X.], 2754: Beauftragung eines Sachverständigen), die Entgegennahme von die Sachverhaltsaufklärung betreffenden Verteidigeranträgen ([X.], Beschluss vom 6. Juli 2000 – 5 [X.], [X.]R [X.] § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 5) oder die Ladung von Zeugen nach einem gestellten Beweisantrag ([X.], Urteil vom 19. August 2010 – 3 [X.], [X.]R [X.] § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 11). Allein die kurze Dauer des Termins am 3. Januar 2012 steht bei dem inhaltlichen Gehalt der Verhandlung der Annahme einer Sachverhandlung nicht entgegen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 7. April 2011 – 3 [X.] – und vom 22. Juni 2011 – 5 [X.], [X.]R [X.] § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 12 und 13).

Basdorf                     [X.]

                 Dölp                      [X.]

Meta

5 StR 412/12

28.11.2012

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hamburg, 7. Mai 2012, Az: 2 Ss 59 - 60/12

§ 229 Abs 1 StPO, § 229 Abs 2 StPO, § 229 Abs 4 S 1 StPO, § 249 Abs 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 28.11.2012, Az. 5 StR 412/12 (REWIS RS 2012, 913)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 913

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