Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.04.2021, Az. VI ZR 845/20

6. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 6486

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Wiederholung einer Zeugenvernehmung in der Berufungsinstanz


Leitsatz

Hat die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen, kann in der Berufungsinstanz der Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist. Anderenfalls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wird der Beschluss des 22. Zivilsenats des [X.] mit Sitz in [X.] vom 12. Mai 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur Verhandlung und neuen Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 30.000 €

Gründe

I.

1

Der Kläger verlangt von den [X.] Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

2

Der Kläger fuhr im Juli 2018 mit seinem Pkw auf die [X.] 3. Die [X.] war aufgrund einer Baustelle verkürzt. Sie war von der rechten Fahrbahn durch eine gestrichelte gelbe Linie abgegrenzt. Der [X.]klagte zu 2 befuhr mit dem bei der [X.] zu 1 versicherten Lkw der [X.] zu 3 die rechte Fahrbahn der Autobahn. Es kam zur Kollision der Fahrzeuge. Der Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig. Der Kläger behauptet, der Lkw sei über die gestrichelte gelbe Linie auf die [X.] gefahren und habe dort das Fahrzeug des [X.] gerammt. Die [X.] behaupten, der Kläger sei ohne Nutzung der [X.] direkt auf die rechte Fahrbahn gefahren, wo es zur Kollision gekommen sei.

3

Das [X.] hat, nachdem es den Zeugen [X.] ([X.]ifahrer des [X.]) zum Unfallhergang sowie die Zeugen [X.]. und Bü. (Polizeibeamte) zur polizeilichen Aufnahme des Unfalls vernommen hat, die Klage abgewiesen und dies allein auf die fehlende Aktivlegitimation des [X.] gestützt.

4

Die [X.]rufung des [X.] hat das [X.] durch [X.]schluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

5

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen [X.]schlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.]rufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

6

1. Das [X.]rufungsgericht hat zur [X.]gründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass das [X.] die Klage nicht an der Aktivlegitimation habe scheitern lassen dürfen, ohne die hierzu angebotenen [X.]weise zu erheben. Dennoch sei die [X.]rufung unbegründet. Der Kläger habe nicht bewiesen, dass der [X.]klagte zu 2 die Fahrspur gewechselt oder nach rechts von dieser abgekommen sei. Für diese [X.]hauptung spreche neben seiner Darstellung lediglich die Aussage des Zeugen [X.] An der Richtigkeit dieser Aussage verblieben allerdings insbesondere vor dem Hintergrund der Aussage der Zeugin [X.]. zu viele Zweifel, als dass allein daraus eine richterliche Überzeugung gewonnen werden könne. Nach allgemeiner Lebenserfahrung sei es wahrscheinlicher, dass derjenige, der sich auf der [X.] befinde, einen Fahrbahnwechsel vornehme, als dass derjenige, der auf der Autobahn fahre, auf die [X.] gerate. Dies reiche zwar für die Annahme eines Anscheinsbeweises nicht aus, sei aber bei der [X.]wertung einer Zeugenaussage zu berücksichtigen.

7

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das [X.]rufungsgericht die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut zum Unfallhergang vernommen und dadurch den Anspruch des [X.] auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

8

a) Gemäß § 398 Abs. 1 ZPO steht die wiederholte Vernehmung eines Zeugen im Ermessen des [X.]rufungsgerichts. Diesem Ermessen sind aber Grenzen gesetzt. So muss das [X.]rufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage betreffen (Senatsurteile vom 23. Juni 2020 - [X.], [X.], 999 Rn. 18; vom 10. März 1998 - [X.], NJW 1998, 2222, 2223, juris Rn. 12; Senatsbeschluss vom 25. Juli 2017 - [X.], [X.], 249 Rn. 9 mwN). Trägt das [X.]rufungsgericht dem nicht Rechnung, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschluss vom 25. Juli 2017 - [X.], [X.], 249 Rn. 9; [X.], [X.]schlüsse vom 28. Juli 2020 - [X.], juris Rn. 11; vom 17. September 2013 - [X.], [X.] 2013, 1436 Rn. 10; [X.], NJW 2011, 49 Rn. 11 ff.).

9

Entsprechendes gilt, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat (vgl. Senatsurteil vom 7. Juli 1981 - [X.], NJW 1982, 108, 109, juris Rn. 7-10; [X.], Urteil vom 16. Dezember 1999 - [X.], [X.], 432, 433, juris Rn. 23 mwN). In der [X.]rufungsinstanz kann ein angetretener Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist (vgl. Senatsurteil vom 13. Dezember 2005 - [X.], [X.], 369 Rn. 28; [X.], Urteil vom 23. November 2017 - [X.], [X.], 1279 Rn. 29). Anderenfalls hat eine Wiederholung der [X.]weisaufnahme zu erfolgen.

b) So liegt der Fall hier: Für die Frage, ob, wie das [X.]rufungsgericht meint, Zweifel an der Aussage des Zeugen [X.] bestehen, der den Unfall unmittelbar miterlebt hat, kommt es maßgeblich auf seine Glaubwürdigkeit sowie auf die Glaubwürdigkeit der Zeugin [X.]. an, deren Aussage mit den Angaben des Zeugen [X.] nicht in Einklang zu bringen ist. Das [X.] hatte hierzu eine Gegenüberstellung beider Zeugen veranlasst, deren Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen dann aber nicht gewürdigt, weil es aus seiner Sicht auf den Unfallhergang nicht ankam. Das [X.]rufungsgericht hat "insbesondere" vor dem Hintergrund der Aussage der Zeugin [X.]. an der Richtigkeit der Aussage des Zeugen [X.] gezweifelt und die Zurückweisung der [X.]rufung hierauf gestützt, ohne sich, wie erforderlich, einen persönlichen Eindruck von beiden Zeugen zu verschaffen.

3. Für die neue Verhandlung wird weiter zu berücksichtigen sein, dass die bisherigen Feststellungen des [X.]rufungsgerichts die Zurückweisung der [X.]rufung nicht tragen. Denn ohne die Feststellung eines Vorfahrtsverstoßes des [X.] lässt sich eine vollständige Klageabweisung nicht begründen.

[X.]     

      

Offenloch     

      

Müller

      

Allgayer     

      

Linder     

      

Meta

VI ZR 845/20

27.04.2021

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Frankfurt, 12. Mai 2020, Az: 22 U 279/19

Art 103 Abs 1 GG, § 398 Abs 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.04.2021, Az. VI ZR 845/20 (REWIS RS 2021, 6486)

Papier­fundstellen: MDR 2021, 897 REWIS RS 2021, 6486

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VI ZR 382/21 (Bundesgerichtshof)

Gehörsverletzung: Erforderlichkeit einer erneuten Parteianhörung durch das Berufungsgericht


IV ZR 248/17 (Bundesgerichtshof)

Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs


IV ZR 12/23 (Bundesgerichtshof)

Wohngebäudeversicherung: Gehörsverstoß bei unterlassener nochmaliger Zeugenvernehmung im Berufungsverfahren


I ZR 255/16 (Bundesgerichtshof)

Berufungsverfahren: Gehörsverletzung wegen Unterlassens erneuter Zeugenvernehmung durch das Berufungsgericht


V ZR 305/19 (Bundesgerichtshof)

Beweisaufnahme im Berufungsverfahren: Pflicht des Berufungsgerichts zur erneuten Zeugenvernehmung bei abweichender Glaubwürdigkeitsbeurteilung


Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.