Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 01.02.2018, Az. 1 BvR 1379/14

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2018, 14641

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Zur Absenkung des Landesblindengeldes in Schleswig-Holstein ab Januar 2011 - Grundrechtsverletzung (Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG; Art 3 Abs 3 S 2 GG) nicht hinreichend substantiiert dargelegt - UN-Behindertenrechtekonvention bzw EU-Sozialcharta (juris: UNBehRÜbk bzw EuSC) kein eigenständiger Prüfungsmaßstab des BVerfG


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Höhe des [X.] in [X.] nach deren Reduzierung auf 200 Euro monatlich ab 1. Januar 2011.

2

Der 1952 geborene Beschwerdeführer wohnte bis Januar 2012 in [X.]. Er ist seit Geburt nahezu erblindet. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs für blinde Menschen und ein Grad der Behinderung von 100 wurden auf der Grundlage von § [X.] in der bis 31. Dezember 2017 geltenden Fassung zu seinen Gunsten festgestellt.

3

Nachdem das [X.] in [X.] durch das [X.] zum Haushaltsplan 2011/2012 ([X.] 2011/2012) vom 17. Dezember 2010 (GVBl SH S. 789 <810>) zum 1. Januar 2011 von zuvor 400 Euro monatlich auf 200 Euro monatlich reduziert wurde, passte der für die Leistungserbringung zuständige Beklagte des Ausgangsverfahrens die Leistungsgewährung durch Bescheid vom 5. Januar 2011 entsprechend an. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Mit dem angegriffenen Beschluss wies das [X.]ische Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung ab. Eine hiergegen gerichtete Anhörungsrüge wies es zurück.

4

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit der UN-Behindertenrechtskonvention und der [X.] sowie von Art. 103 Abs. 1 GG.

5

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. [X.] liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie nicht den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] entsprechend substantiiert und schlüssig die Möglichkeit einer Verletzung des Beschwerdeführers in Grund- oder grundrechtsgleichen Rechten aufzeigt.

6

1. Die Rüge von Art. 103 Abs. 1 GG muss schon deswegen ohne Erfolg bleiben, weil der Beschwerdeführer den Beschluss des [X.] über die fachgerichtliche Anhörungsrüge zwar vorgelegt, sich mit diesem aber nicht auseinandergesetzt hat. Selbst wenn man also einen Gehörsverstoß im Rahmen der Entscheidung über die Berufungszulassung unterstellen wollte, fehlte es an einer Darlegung dazu, ob dieser durch die Entscheidung über die Anhörungsrüge nicht geheilt sein könnte.

7

2. Die Verfassungsbeschwerde lässt aber auch, soweit sie nicht auf das gerichtliche Verfahren als solches, sondern auf die gesetzliche Festlegung der (geringeren) Höhe des [X.] ab dem 1. Januar 2011 gerichtet ist, einen Grundrechtsverstoß nicht erkennen.

8

a) Dabei kann offenbleiben, ob dies schon daraus folgt, dass der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer allein die Entscheidung des [X.] über die Zulassung der Berufung nach § 124 Verwaltungsgerichtsordnung angreift, ohne Art. 19 Abs. 4 GG zu rügen und sich näher mit dem Umstand auseinanderzusetzen, dass das Gericht dabei keine Entscheidung über die streitige Leistung selbst, sondern nur über den Zugang zur Berufungsinstanz getroffen hat.

9

b) In der Sache ist zunächst eine mögliche Verletzung von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht hinreichend substantiiert dargetan. Der Beschwerdeführer leitet die Existenz eines menschenwürdebasierten Grundrechts im hiesigen Kontext und dessen Konturen nicht näher und in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des [X.] her. Vielmehr zielt die Argumentation erkennbar darauf, eine Parallele zum Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. [X.] 125, 175 <222 f.>) zu postulieren und so die Übertragung der diesbezüglich formulierten Verfahrens- und Begründungsanforderungen zur Ermittlung der Leistungshöhe aus der Entscheidung des [X.] vom 9. Februar 2010 (vgl. [X.] 125, 175 <225 f.>) auf das hier streitige [X.] zu rechtfertigen. Der Beschwerdeführer setzt sich jedoch nicht ausreichend damit auseinander, dass diese Anforderungen gerade mit Blick auf die Spezifika der Leistungen zur Existenzsicherung aufgestellt worden sind und von dort ihre Rechtfertigung erhalten. Dagegen reicht es im Allgemeinen aus, wenn der Gesetzgeber eine im Ergebnis verfassungsgemäße Norm erlässt, ohne dass die vermeintlich unzureichende Begründung des Gesetzes als solche rügbar wäre (vgl. zur Verneinung einer selbständig rügbaren Beobachtungspflicht des Gesetzgebers [X.], Beschluss vom 12. Juli 2017 - 1 BvR 2222/12 -, juris, Rn. 84).

Dies gilt umso mehr im Sozialleistungsrecht, wo dem Gesetzgeber regelmäßig breite Gestaltungsspielräume eröffnet sind (vgl. zum Krankenversicherungsrecht [X.] 115, 25 <46>; zu Familienleistungen [X.] 110, 412 <445>). Die Besonderheit bei der Bemessung des Regelbedarfs nach dem [X.] liegt in diesem Zusammenhang darin, dass die Betroffenen gerade auf diese nachrangigen und bedürftigkeitsabhängigen Leistungen angewiesen sind, andernfalls unabdingbare [X.] oder unter Umständen sogar physische Bedürfnisse ungedeckt blieben (vgl. [X.] 125, 175 <224 f.>). Dagegen ist das unabhängig von einem konkreten Bedarf gewährte [X.] in ein komplexes System verschiedener Leistungstatbestände eingebunden. Namentlich haben die Betroffenen - neben den Leistungen aus dem [X.] und dem [X.] - einen Anspruch auf Blindenhilfe nach § 72 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch, wenn ihnen eigene Mittel zum Ausgleich behinderungsbedingter Mehraufwendungen nicht zur Verfügung stehen. Der Beschwerdeführer hätte unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge darlegen müssen, warum auch das [X.] den [X.] aus der Entscheidung vom 9. Februar 2010 genügen muss. Das wäre umso notwendiger gewesen, als das [X.] Sozialrecht keineswegs durchgängig einen pauschalierten, bedürftigkeitsunabhängigen [X.] für (schwer-)behinderungsbedingte Nachteile kennt.

c) Schon aus diesem Grund reicht auch die Argumentation des Beschwerdeführers zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht aus, um dessen Verletzung als möglich erscheinen zu lassen. Der Beschwerdeführer versucht, aus der als Benachteiligungsverbot konzipierten Vorschrift einen Leistungsanspruch abzuleiten, und stützt sich in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des [X.] vom 8. Oktober 1997, die die Zuweisung eines behinderten Schülers an eine Sonderschule zum Gegenstand hatte und in der das [X.] formuliert hat, eine Benachteiligung könne auch bei einem Ausschluss des Behinderten von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt vorliegen, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert werde ([X.] 96, 288 <303>; ebenso [X.]K 7, 269 <273> zur Aufnahme in einen Regelkindergarten).

Beim [X.] geht es jedoch nicht um die Kompensation von Nachteilen im Sinne eines Ausschlusses von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten, die durch die öffentliche Gewalt verursacht oder zumindest beeinflusst worden wären; vielmehr fordert der Beschwerdeführer eine staatliche Leistung in Form einer pauschalierenden Zahlung zum Ausgleich von behinderungsbedingten Nachteilen ein, unabhängig davon, ob und in welcher Form staatliches Handeln an deren Entstehung oder an deren Auswirkungen beteiligt ist. Dass Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hierfür ein geeigneter Anknüpfungspunkt wäre, der zudem unabhängig von der Eigenleistungsfähigkeit der Betroffenen eine konkrete Leistungshöhe vorgeben würde und der Entscheidung eines parlamentarischen Gesetzgebers über diese Leistungshöhe trotz des [X.] im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit entgegengehalten werden könnte, zeigt der Beschwerdeführer nicht auf.

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist im Übrigen dadurch gekennzeichnet, dass die Reduzierung eines Leistungsanspruchs, konkret der Höhe des [X.], sprachlich als staatlicher Eingriff beziehungsweise Benachteiligung durch staatliches Handeln gefasst wird. Rechtlich wäre diese Sichtweise aber nur im Zusammenspiel mit [X.] plausibel. Dass solche der Gesetzesänderung im Allgemeinen oder der Änderung der Leistungsbewilligung zu seinen Gunsten im Besonderen entgegengestanden hätten, hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt.

d) Die UN-Behindertenrechtskonvention und die [X.] oder andere vergleichbare über- oder zwischenstaatliche Normen stellen zwar eine Auslegungshilfe bezüglich des Inhalts und der Reichweite von Grundrechten (vgl. [X.] 128, 282 <306>), aber keinen eigenständigen Prüfungsmaßstab für das [X.] dar ([X.] 111, 307 <317>) und werden dies auch nicht durch die argumentative Verknüpfung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Auch ist nicht dargetan, dass sich unmittelbar aus diesen Regelungen unter Berücksichtigung des - im Übrigen nicht gerügten - Vorrangs bundesrechtlicher Normen aus Art. 31 GG ein Anspruch auf Blindengeld in konkret [X.] und über 200 Euro hinausgehender Höhe herleiten ließe.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1379/14

01.02.2018

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 19. Februar 2014, Az: 3 LA 39/13, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 3 Abs 3 S 2 GG, Art 20 Abs 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, BliGG SH 1997, EuSC, SGB 11, § 72 SGB 12, SGB 2, SGB 9, UNBehRÜbk

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 01.02.2018, Az. 1 BvR 1379/14 (REWIS RS 2018, 14641)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 14641

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

5 C 3/22

5 C 4/22

B 9 SB 1/18 R

B 11 AL 2/21 R

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