Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.03.2014, Az. 2 BvR 918/13

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2014, 7287

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Grundrechten durch Fortdauer der Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (juris: ThUG) bei unzureichender fachgerichtlicher Verhältnismäßigkeitsprüfung - Fortbestehendes Rechtsschutzinteresse trotz zwischenzeitlicher Freilassung - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 26. März 2013 - 5 W 34/13 - und der Beschluss des [X.] vom 27. Februar 2013 - 5 O 59/11 Th - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Das [X.] hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. [X.] wird auf 45.000 € (in Worten: fünfundvierzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Der Beschwerdeführer wendet sich unmittelbar gegen die vorläufige Verlängerung seiner Unterbringung nach dem [X.] ([X.]) um drei Monate. [X.] ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des [X.]es selbst gerichtet.

2

1. a) Das [X.] verurteilte den bereits wegen Mordes vorbestraften Beschwerdeführer im September 1989 wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten; zugleich ordnete es wegen nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit gemäß § 63 StGB seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Nach Entweichung aus dem Landeskrankenhaus im Jahre 1990 - nur etwa vier Monate nach dem Beginn der Unterbringung - griff der Beschwerdeführer in alkoholisiertem Zustand im [X.] eines Bordells eine Prostituierte von hinten an, hielt ihr den Mund zu und würgte sie. Aufgrund wiederum nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit ordnete das [X.] wegen dieser Tat erneut seine Unterbringung gemäß § 63 StGB an.

3

Mit Beschluss vom 28. November 2005 erklärte das [X.] die beiden Anordnungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 StGB für erledigt, weil der Beschwerdeführer zwar noch gefährlich, aber nicht mehr erheblich in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt sei. Ab dem 23. Dezember 2005 wurde der Beschwerdeführer zur Vollstreckung der noch ausstehenden Reststrafe in Strafhaft umgesetzt, die er bis zum 22. Juni 2007 vollständig verbüßte.

4

b) Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete das [X.] mit Urteil vom 4. April 2007 die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB in der bis zum 17. April 2007 geltenden Fassung vom 23. Juli 2004 ([X.]) an. Auf die Revision des Beschwerdeführers hob der [X.] am 10. Februar 2009 das Urteil des [X.] vom 4. April 2007 auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des [X.] zurück ([X.], Beschluss vom 10. Februar 2009 - 4 StR 391/07-, juris). Mit Urteil vom 17. Juli 2009 ordnete das [X.] erneut die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen den Beschwerdeführer an. Die hiergegen gerichtete Revision hatte wiederum Erfolg: Mit Beschluss vom 12. Mai 2010 hob der [X.] vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des [X.] auch dieses Urteil auf, wies den Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung zurück und ordnete die sofortige Freilassung des Beschwerdeführers an, die noch am selben Tag erfolgte ([X.], Beschluss vom 12. Mai 2010 - 4 StR 577/09-, juris.).

5

Im Rahmen der auf fünf Jahre festgelegten Führungsaufsicht wurden dem Beschwerdeführer gerichtlich verschiedene Auflagen und Weisungen erteilt. Nach seiner Entlassung unterlag er polizeilicher Begleitung und Überwachung.

6

c) Mit Beschluss vom 2. September 2011 ordnete das [X.] auf Antrag der [X.] die vorläufige Therapieunterbringung des Beschwerdeführers für die Dauer von drei Monaten an. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde wies das [X.] mit Beschluss vom 30. September 2011 als unbegründet zurück. Das [X.] verlängerte mit Beschluss vom 1. Dezember 2011 die vorläufige Unterbringung bis längstens zum 29. Februar 2012. In der Hauptsache ordnete das [X.] mit Beschluss vom 17. Februar 2012 die Unterbringung des Beschwerdeführers bis zum 1. März 2013 an. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wies das [X.] mit Beschluss vom 14. Mai 2012 zurück.

7

Gegen beide Entscheidungen legte der [X.] ein (2 BvR 2302/11 und 2 BvR 1279/12), denen mit Beschluss des [X.] des [X.] vom 11. Juli 2013 - soweit diese sich unmittelbar gegen die gerichtlichen Beschlüsse richteten - stattgegeben wurde. Soweit der Beschwerdeführer sich mittelbar gegen die Vorschriften des [X.]es selbst wendete, wurden seine Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

8

d) Noch vor der Entscheidung des [X.] ordnete das [X.] mit im vorliegenden Verfahren angegriffenem Beschluss vom 27. Februar 2013 im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Verlängerung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Therapieunterbringung bis zum 31. Mai 2013 an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers wies das [X.] mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 26. März 2013 zurück. In den Entscheidungsgründen des [X.] heißt es, dass der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen werde. Es bestünden Gründe für die Annahme, dass von dem Beschwerdeführer weiterhin die Gefahr schwerwiegender Gewalt- und/oder Sexualdelikte ausgehe. Das [X.] stellte daran anknüpfend fest, dass die psychische Störung des Beschwerdeführers zu jedem nicht vorhersehbaren [X.]punkt in einen Kontrollverlust mit der Folge massiver Sexual- und Gewalttaten umschlagen könne. Daher sei die Unterbringung vorläufig zu verlängern.

9

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104, Art. 19 Abs. 1 Satz 1 und Art. 103 Abs. 2 GG sowie von Art. 5 und Art. 7 [X.]. Dem Bundesgesetzgeber fehle die Gesetzgebungskompetenz für das [X.]. Dieses verstoße darüber hinaus gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG. Durch die nicht weiter eingegrenzte Voraussetzung der "psychischen Störung" in § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] seien außerdem die Bestimmtheitsanforderungen aus Art. 103 Abs. 2 GG verletzt. Das [X.] stelle ferner - vor allem aufgrund der Neuregelung in Art. 316e Abs. 4 [X.] - ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar. Schließlich begründe die konkrete Anwendung des [X.]es eine Verletzung des Freiheitsrechts.

3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die Kammer mit Beschluss vom 28. Mai 2013 abgelehnt.

4. Das Verfahren wurde dem [X.] [X.] mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie gegen den Beschluss des [X.] vom 26. März 2013 - 5 W 34/13 -und den Beschluss des [X.] Saarbrücken vom 27. Februar 2013 - 5 O 59/11 Th - gerichtet ist - zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 [X.] sind erfüllt. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]) und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

a) Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit die Kammer sie zur Entscheidung annimmt - zulässig und begründet.

aa) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung in der [X.] vom 2. März 2013 bis zum 31. Mai 2013 aufgrund der angegriffenen Beschlüsse einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht beinhaltet (vgl. dazu [X.]E 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 13. November 2013 - 2 BvR 1797/13 -, juris, Rn. 9).

bb) In dem bezeichneten Umfang ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. In den angegriffenen Beschlüssen ist der Entscheidung über die vorläufige Verlängerung der Therapieunterbringung ein falscher Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Nach dem Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 ist § 1 Absatz 1 des [X.]es in der Fassung des [X.] und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 ([X.]) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist ([X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 70).

Diesen Vorgaben tragen die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Beschlüsse nicht hinreichend Rechnung. Weder das [X.] noch das [X.] überträgt den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das [X.] für die Vertrauensschutzbelange berührende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. [X.]E 128, 326 <399>) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 f.), auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 [X.]. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 [X.] nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidungen im [X.]punkt der Entscheidung des [X.] an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. [X.]E 128, 326 <407 f.>).

cc) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.

b) Der Beschluss des [X.] vom 26. März 2013 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. [X.]E 128, 326 <407>) an das [X.] zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]).

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das [X.] wird auf den Beschluss des [X.] des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. - verwiesen und im Übrigen von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]).

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.]E 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 918/13

10.03.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, 26. März 2013, Az: 5 W 34/13, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 1 Abs 1 Nr 1 ThUG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.03.2014, Az. 2 BvR 918/13 (REWIS RS 2014, 7287)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 7287

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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