Bundessozialgericht, Urteil vom 20.12.2016, Az. B 2 U 11/15 R

2. Senat | REWIS RS 2016, 384

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Gesetzliche Unfallversicherung - Höhe der Verletztenrente - Herabsetzung der MdE - wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse - MdE-Bewertung - verbesserte prothetische Versorgung - C-Leg-Prothese - sozialgerichtliches Verfahren - vom Tatsachengericht zu Grunde gelegter MdE-Tabellenwert - Bindung des Revisionsgerichts - MdE-Tabelle - Normierung durch Gesetzgeber - Rechtsverordnung


Leitsatz

Das Revisionsgericht ist an den vom Tatsachengericht zu Grunde gelegten MdE-Tabellenwert gebunden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass dieser Tabellenwert offensichtlich falsch ist bzw offenkundig dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens oder des Erfahrungswissens anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete widerspricht.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 17.09.2014 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Verletztenrente des [X.] herabsetzen durfte, weil er mit einer anderen Prothese versorgt wurde.

2

Der im Jahre 1981 geborene Kläger erlitt als Schüler am [X.] einen Unfall, der zur Amputation des linken Beines im Bereich des Oberschenkels führte. Die Beklagte versorgte den Kläger mit einer Prothese. Sie erkannte als Folgen des Arbeitsunfalls nach Polytrauma mit unfallbedingtem Verlust des linken Beines im Bereich des Oberschenkels narbenbedingte Sensibilitätsstörungen im Bereich des [X.], Phantomschmerzen nach [X.] sowie leichte Leistungseinschränkungen und Wahrnehmungsbeeinträchtigung nach Schädel-Hirn-Trauma an und gewährte dem Kläger eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von [X.] (Bescheid vom 5.7.2001).

3

Im März 2006 erhielt der Kläger eine mikroprozessorgesteuerte Oberschenkelprothese, ein sog [X.]. Die Beklagte hob daraufhin die Bewilligung der Verletztenrente in dem Bescheid vom 5.7.2001 wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nach § 48 SGB X teilweise auf und gewährte dem Kläger ab dem [X.] nur noch eine Verletztenrente nach einer MdE von [X.] (Bescheid vom [X.] und Widerspruchsbescheid vom 29.11.2007). Zur Begründung führte sie aus, durch die Versorgung mit der [X.]-Prothese sei eine deutliche Funktionsverbesserung des linken Beines eingetreten, die zu einem flüssigeren Gangbild und einer Erhöhung der Gang- und Standsicherheit geführt habe. Dem Kläger sei nunmehr das sichere Gehen und Stehen sowie das Treppensteigen weitestgehend ohne Gehhilfe möglich. Dadurch habe sich seine Mobilität einschließlich des Wirkungsbereiches verbessert. Ihr beratender Chirurg habe die Unfallfolgen auf chirurgischem Fachgebiet nach der Versorgung mit der [X.]-Prothese ab März 2006 nur noch mit [X.] und insgesamt mit nur noch [X.] bewertet.

4

Das SG hat die Bescheide der Beklagten aufgehoben (Urteil vom 29.7.2010). Das [X.] hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17.9.2014). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Herabsetzung der Rente seien nicht erfüllt, weil keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Die Unfallfolgen sowohl auf neurologischem und neuropsychiatrischem als auch auf chirurgischem Fachgebiet bestünden unverändert fort. Sie bedingten auf chirurgischem Fachgebiet weiterhin eine MdE von [X.], auf neurologischem und neuropsychiatrischem Fachgebiet eine MdE von [X.] und insgesamt weiterhin eine MdE von [X.]. Die Gebrauchsvorteile der prothetischen Versorgung mit einem [X.] führten zu keiner geringeren [X.] Bei einem Verlust der Gliedmaßen sei der objektive funktionelle [X.] unabhängig von dem Erfolg der prothetischen Versorgung für die Bewertung der MdE zugrunde zu legen, denn eine entsprechende Prothese könne den [X.] derzeit nicht vollständig kompensieren. Dies entspreche der herrschenden Auffassung in der unfallrechtlichen Literatur. Nur wenn ein Hilfsmittel einen physiologisch vollwertigen Ersatz darstelle bzw Ausgleich schaffe, sei es gerechtfertigt, allein die verbleibenden Funktionseinbußen der Bemessung der MdE zugrunde zu legen. Die verbleibenden Funktionseinschränkungen bei prothetischer Versorgung würden unabhängig von der konkreten Art der Versorgung im Sinne einer Durchschnittsbewertung berücksichtigt. Dies führe zu einer Gleichbehandlung und Verwaltungsvereinfachung. Dementsprechend würden weder die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im [X.] Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz noch die am 1.1.2009 in [X.] getretene [X.] danach differenzieren, ob die konkrete prothetische Versorgung bei Verlust von Gliedmaßen zu einer Funktionsverbesserung führe.

5

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 73 und 56 [X.] § 48 SGB X. Die signifikante Verbesserung der Körperfunktionen des [X.] durch seine Versorgung mit dem [X.] begründe eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 SGB X, denn die Gebrauchsvorteile dieser Prothese gegenüber einer konventionellen Versorgung im Erwerbsleben würden die Bewertung der MdE auf chirurgischem Fachgebiet mit nur [X.] rechtfertigen. Die [X.] betrage daher nur noch [X.]. Nach den gemäß § 56 Abs 2 SGB VII für die Höhe der MdE maßgebenden Bestimmungsfaktoren seien Funktionsverbesserungen durch Heil- oder Hilfsmittel zu berücksichtigen. Die vom [X.] zugrunde gelegten, in verschiedenen Handbüchern genannten [X.] könnten Verwaltung und Gerichte nicht normähnlich binden.

6

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des [X.] vom 17.09.2014 und das Urteil des [X.] vom 29.07.2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das [X.] hat zu Recht die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] zurückgewiesen. Der angefochtene Verwaltungsakt im Bescheid der Beklagten vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2007 erweist sich als rechtswidrig. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse, die eine Herabsetzung der bisher durch den Bescheid vom [X.] gewährten Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von [X.] rechtfertigen könnte, liegt nicht vor. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das [X.] entschieden hat, die Versorgung des [X.] mit einer mikroprozessorgesteuerten Oberschenkelprothese bewirke keine geringere MdE als die im Jahre 2001 festgesetzte.

Durch die Versorgung des [X.] mit einer [X.] im Jahre 2006 ist keine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 [X.]B X gegenüber den Verhältnissen im Jahre 2001 eingetreten. Nach § 48 Abs 1 S 1 [X.]B X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Diese Vorschrift wird für Renten der gesetzlichen Unfallversicherung durch § 73 [X.]B VII ergänzt. Nach § 73 Abs 3 [X.]B VII ist eine Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 [X.]B X hinsichtlich der Feststellung der Höhe der MdE nur wesentlich, wenn sie [X.] beträgt. Diese Voraussetzung lag in Bezug auf den Verwaltungsakt vom [X.], der eine Verletztenrente nach einer MdE von [X.] auf unbestimmte Zeit bewilligte, nicht vor. Ob eine Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 [X.]B X eingetreten ist, ist durch Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Verwaltungsaktes mit den zum Zeitpunkt des Erlasses des aufhebenden Verwaltungsaktes bestehenden Verhältnissen zu ermitteln (vgl B[X.] vom [X.], 464 mwN). Die tatsächlichen Verhältnisse änderten sich zwar im März 2006 insoweit, als der Kläger zu diesem Zeitpunkt eine neue Oberschenkelprothese erhielt und sich dadurch seine Mobilität und Koordination verbesserte sowie sein Aktionsradius vergrößerte. Diese Änderung war aber nicht wesentlich iS des § 48 Abs 1 S 1 [X.]B VII. Denn sie begründete kein Recht der Beklagten, eine Verletztenrente in geringerer Höhe nach einer MdE von [X.] festzusetzen. Zutreffend hat das [X.] insofern entschieden, dass die unfallbedingte MdE weiterhin [X.] beträgt.

Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen gemäß § 48 Abs 1 S 1 [X.]B X ist jede Änderung des für die getroffene Regelung relevanten Sachverhalts. In Betracht kommen für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung insbesondere Änderungen im Gesundheitszustand des Betroffenen (vgl B[X.] vom [X.], 464; B[X.] vom 22.6.2004 - B 2 U 14/03 R - B[X.]E 93, 63 = [X.]-2700 § 56 [X.] 1), wobei es zum einen auf die zum Zeitpunkt der letzten bindend gewordenen Feststellung tatsächlich bestehenden gesundheitlichen Verhältnisse ankommt, die ursächlich auf dem Unfall beruhen. Diese sind mit den bestehenden unfallbedingten Gesundheitsverhältnissen zu vergleichen, die zum Zeitpunkt des Erlasses des [X.] vorgelegen haben (vgl B[X.] vom [X.], 464 mwN). Nach den nicht mit zulässigen und begründeten [X.] angegriffenen und damit für den [X.] bindenden Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.]G) war schon keine Änderung der auf dem Arbeitsunfall beruhenden Gesundheitsstörungen des [X.] eingetreten, denn sein Gesundheitszustand hatte sich weder auf dem neurologischen und neuropsychiatrischen noch auf dem chirurgischen Fachgebiet verändert, insbesondere nicht verbessert.

Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse war nur insoweit erfolgt, als der Kläger anstelle der bisherigen Prothese ab März 2006 mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese, einem sog [X.], versorgt worden war und sich dadurch nach den ebenfalls unangegriffenen Feststellungen des [X.] seine Mobilität und Koordination verbessert hatte. Durch den Gebrauch des [X.]s konnte der Kläger weitgehend ohne Gehhilfen gehen, sein Aktionsradius hatte sich vergrößert.

Das [X.] hat jedoch zutreffend entschieden, dass die durch die Änderung der prothetischen Versorgung erfolgte Verbesserung der Mobilität, der Koordination und des Aktionsradius des [X.] keine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 [X.]B X war. Diese Verbesserungen durch die prothetische Versorgung begründeten nach § 56 Abs 2 [X.]B VII keinen Anspruch der Beklagten auf Festsetzung einer Verletztenrente in geringerer Höhe als nach einer MdE von [X.].

Gemäß § 56 Abs 1 S 1 iVm Abs 3 [X.]B VII setzt der Anspruch auf eine Verletztenrente eine MdE von wenigstens 20 [X.] voraus. Der Zahlbetrag der Verletztenrente bestimmt sich sodann nach der Höhe der MdE und dem Jahresarbeitsverdienst ([X.]). Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 S 1 [X.]B VII). Die Bemessung der MdE hängt damit zum einen von den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und zum anderen von dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ab. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, [X.] und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (vgl B[X.] vom 22.6.2004 - B 2 U 14/03 R - B[X.]E 93, 63 = [X.]-2700 § 56 [X.] 1 mwN).

Soweit das [X.] den Grad der MdE auch im Jahre 2006 weiterhin mit [X.] festgesetzt hat, ist dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Bemessung des Grades der MdE ist nach der ständigen Rechtsprechung des B[X.] eine tatsächliche Feststellung, die das [X.] unter Berücksichtigung der gesamtem Umstände des Einzelfalls gemäß § 128 Abs 1 S 1 [X.]G nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung trifft (vgl B[X.] vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - [X.]-2700 § 200 [X.] 3; B[X.] vom [X.] - B 2 U 24/00 R - [X.] 3-2200 § 581 [X.] 8; B[X.] vom 19.12.2000 - B 2 U 49/99 R - [X.] 2001, 499; B[X.] vom 27.6.2000 - B 2 U 14/99 R - [X.] 3-2200 § 581 [X.] 7; B[X.] vom 23.4.1987 - 2 RU 42/86 - [X.] 1988, 1200; B[X.] vom [X.] - [X.] 1984, [X.] 13, 18). Die der Feststellung der MdE zugrunde liegende, vom [X.] gemäß § 128 Abs 1 S 1 [X.]G nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Einschluss der Beweisaufnahme nach der Überzeugungskraft der jeweiligen Beweismittel frei vorzunehmende Würdigung des Sachverhaltes kann das Revisionsgericht auf Rüge grundsätzlich nur darauf prüfen, ob das [X.] bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (vgl B[X.] vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R - Breith 2003, 565).

Das [X.] hat festgestellt, dass die unfallbedingte MdE zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom [X.] sowie auch zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen, im Jahre 2007 ergangenen Bescheide weiterhin unverändert [X.] betrug, weil auf neurologischem und neuropsychiatrischem Fachgebiet eine MdE von 15 [X.] sowie auf chirurgischem Fachgebiet eine MdE von 60 [X.] bestand. Diese Feststellungen zur [X.] sind als tatsachenrichterliche Erkenntnisse revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat die MdE-Festsetzung im konkreten Einzelfall insoweit nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen.

Es bestehen aber auch keine revisionsrechtlichen Bedenken gegen die Anwendung der MdE-Tabellen als solche durch das [X.]. Zwar hat der [X.] bereits entschieden, dass die Bindungswirkung der tatsächlichen MdE-Feststellung gemäß § 163 [X.]G nicht in vollem Umfang für die Überprüfung der in den MdE-Tabellen abstrakt niedergelegten MdE-[X.]e gilt. Die Anwendung der den [X.] zugrunde liegenden allgemeinen bzw wissenschaftlichen Erfahrungssätze unterliegt vielmehr jeweils der revisionsrechtlichen Überprüfung dahingehend, ob diese [X.]e offensichtlich falsch sind und ob sie dem neuesten Stand der Wissenschaft entsprechen (vgl zB B[X.] vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R - Breith 2003, 565; B[X.] vom 26.11.1987 - 2 RU 22/87 - [X.] 2200 § 581 [X.] 27; B[X.] vom 23.4.1987 - 2 RU 42/86 - [X.] 1988, 1210; B[X.] vom 26.6.1985 - 2 RU 60/84 - [X.] 2200 § 581 [X.] 23; B[X.] vom 30.8.1984 - 2 RU 65/83 - HVGBG RdSchr VB 122/84; vgl zum Prüfungsumfang bei allgemeinen medizinischen [X.] auch B[X.] vom [X.] - B 2 U 16/08 R - [X.] Aktuell 2010, 418).

Wie die nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden [X.]s revisionsrechtlich überprüfbaren allgemeinen (generellen) Tatsachen, die für die Feststellung von Berufskrankheiten von Bedeutung sind (vgl dazu zuletzt B[X.] vom [X.] - B[X.]E 118, 255 = [X.]-5671 Anl 1 [X.] 2108 [X.] 6), sind auch die MdE-[X.]e allgemeine (generelle) Tatsachen, die für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm - nämlich des in § 56 Abs 2 [X.]B VII verwendeten Begriffs der MdE - und damit für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle relevant sind. Bei einer Vielzahl von Unfallfolgen haben sich im Laufe der [X.] der [X.] herausgebildet. Sie sind in Form von Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und dienen als Hilfsmittel für die [X.] im Einzelfall. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber als in sich stimmiges Beurteilungsgefüge (so [X.] in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, [X.], § 48 Rd[X.] 25) die Grundlage für eine gleichförmige Bewertung der MdE (vgl B[X.] vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R - Breith 2003, 565 mwN), ohne dass hier eine exakte rechtsdogmatische Einordnung der MdE-Tabellen erforderlich wäre (vgl hierzu [X.], Die Rechtsnatur von MdE-Tabellen, 1995, [X.] f: "Erkenntnisquelle" ohne Rechtssatzqualität; vgl auch [X.], [X.] 1998, 61).

MdE-Tabellen bezeichnen typisierend das Ausmaß der durch eine körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung hervorgerufenen Leistungseinschränkungen in Bezug auf das gesamte Erwerbsleben und ordnen körperliche oder geistige Funktionseinschränkungen einem [X.] zu. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte geben damit auch allgemeine Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit aufgrund des Umfangs der den Verletzten versperrten Arbeitsmöglichkeiten wieder und gewährleisten, dass die Verletzten bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (vgl B[X.] vom [X.] - B 2 U 25/05 R - [X.]-2700 § 56 [X.] 2; B[X.] vom 18.3.2003 - B 2 U 31/02 R - Breith 2003, 565).

Wendet ein [X.] solche allgemein akzeptierten MdE-Tabellen an, ist revisionsrechtlich die Prüfung des B[X.] darauf beschränkt, ob diese [X.]e erkennbar falsch sind, etwa weil sie dem Stand des medizinischen Wissens oder des [X.] anderer einschlägiger Wissenschaftsgebiete (wie hier beispielsweise auch der Arbeitsmarktforschung) widersprechen. Es ist bei Anwendung dieses [X.] nicht erkennbar, dass die von dem [X.] angewandten MdE-[X.]e nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen und deshalb als wissenschaftlich unhaltbar der Rechtsfindung nicht zugrunde gelegt werden durften. Das [X.] hat für die MdE auf chirurgischem Fachgebiet den in den Standardwerken derzeit für eine [X.] gängigen MdE-[X.] von 60 [X.] zugrunde gelegt, wobei überwiegend nicht danach differenziert wird, ob eine Versorgung mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese anstelle einer herkömmlichen Prothese möglich oder erfolgt ist (vgl [X.]/[X.]/[X.], Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, [X.]; Mehrhoff/[X.]/[X.], Unfallbegutachtung, 13. Aufl 2012, [X.]; [X.] in [X.], [X.], Stand Juni 2014, [X.] 0500, [X.]; vgl auch im Ergebnis eine Differenzierung nach Versorgungsqualität ablehnend: [X.] in Trauma und Berufskrankheit 2001, [X.], 354 ff). Bei seiner Entscheidung hat das [X.] auch berücksichtigt, dass bislang die gängigen [X.]e zur Einschätzung der MdE bei der Amputation der unteren Gliedmaßen nicht grundsätzlich geändert wurden. Das [X.] ist mithin zumindest im Ergebnis davon ausgegangen, dass es nach wie vor dem Stand des [X.] in der unfallmedizinischen Literatur entspricht, bei Amputationen die Qualität der prothetischen Versorgung für die Einschätzung der Höhe der MdE nicht zu berücksichtigen, weil die derzeit gängigen Tabellenwerke keine Differenzierung nach der Qualität der Hilfsmittelversorgung enthalten. Dies ist entgegen der Auffassung der Beklagten revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, weil nicht feststellbar ist, dass die vom [X.] zugrunde gelegten MdE-[X.]e nicht mehr dem neuesten Stand der unfallmedizinischen Wissenschaft entsprechen oder offensichtlich falsch sind.

Ein medizinischer Erfahrungssatz entspricht in der Regel dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, wenn er von [X.] oder den meisten in dem entsprechenden Fachgebiet Kundigen vertreten wird. Er kann aber auch dann den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen, wenn er nicht von [X.] im jeweiligen Erkenntnissystem Handelnden geteilt wird und auch abweichende Auffassungen vertreten werden. Deshalb kann allein aus dem Vorliegen unterschiedlicher Auffassungen bei den im entsprechenden Fachgebiet Kundigen nicht geschlossen werden, dass ein Erfahrungssatz falsch ist oder nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht (vgl B[X.] vom [X.] - B[X.]E 118, 255 = [X.]-5671 Anl 1 [X.] 2108 [X.] 6, Rd[X.] 28).

Zwar wird vereinzelt in der unfallmedizinischen Literatur bei einer Bemessung der MdE für [X.] eine Differenzierung nach der Hilfsmittelqualität und für den Fall der bestmöglichen Versorgung, zB mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese, ein geringerer MdE-Wert vorgeschlagen (vgl [X.]/[X.], [X.] 2016, [X.], 68; [X.] in Trauma und Berufskrankheit 2014, [X.], 207 ff; [X.], [X.] 2008, [X.], 145 f; [X.], [X.] 2004, [X.], 93; [X.], [X.] 2004, [X.], 96). Allein aufgrund dieser Literaturmeinungen kann jedoch nicht festgestellt werden, dass die vom [X.] zugrunde gelegten Erfahrungssätze nicht mehr dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen oder offensichtlich falsch sind.

Es erscheint damit durchaus möglich, dass der [X.] für die MdE bei einer Amputation im Oberschenkelbereich niedriger angesetzt werden könnte, wenn eine heute technisch mögliche, verbesserte Prothesenversorgung zu geringeren Funktionseinschränkungen führt und deshalb den Verletzten mehr Betätigungsfelder im Erwerbsleben offen stehen. Eine dahin gehende generelle Änderung der MdE-[X.]e ist in der entsprechenden unfallmedizinischen Literatur bisher jedoch nicht erfolgt. Allenfalls werden - wie jetzt auch in neuesten Auflagen der unfallmedizinischen Standardwerke (vgl zB [X.]/[X.]/[X.], Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, [X.], 727) - unterschiedliche [X.]e unkommentiert und gleichrangig wiedergegeben, ohne dass erkennbar oder Stellung dazu bezogen wird, welche der beiden Auffassungen den nunmehr aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergibt.

Für den [X.] ist auch sonst nicht feststellbar, dass der von der unfallmedizinischen Literatur zugrunde gelegte [X.] einer MdE von 60 [X.] bei Versorgung mit einer mikroprozessorgesteuerten Prothese offensichtlich falsch ist und ein geringerer MdE-Wert bei Versorgung mit einem [X.] anzusetzen wäre. Der bisherige MdE-[X.] von 60 [X.] bestimmt sich zwar anhand der [X.] und knüpft damit an die Strukturverletzung an, berücksichtigt aber - da der Erfolg der prothetischen Versorgung und damit die verbliebene Funktion maßgeblich von der [X.] abhängen - pauschalierend das Ausmaß der Funktionsstörungen. Damit findet die Möglichkeit einer prothetischen Versorgung bereits jetzt Eingang in die [X.]. So setzten die MdE-Werte nach einigen Tabellenwerken voraus, dass "der Zustand des Stumpfes sehr gut ist und dass der Verletzte gut passende orthopädische Hilfsmittel tragen kann" (vgl [X.] in [X.], [X.], Stand Juni 2014, [X.] 0500, [X.]; Ricke in [X.] Komm, [X.]B VII, Stand Juni 2016, § 56 Rd[X.] 70). Für den [X.] ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass die prothetische Versorgung mit einem [X.] die Funktionsstörungen bei einer [X.] derart kompensieren könnte, dass unter Berücksichtigung der in § 56 Abs 2 [X.]B VII ausdrücklich genannten Anforderungen des Arbeitsmarktes nunmehr Erwerbsmöglichkeiten in einem Umfang eröffnet würden, dass deshalb ein MdE-Wert von 60 [X.] den Umfang der verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens offensichtlich fehlerhaft beschreibt.

Kritisch anzumerken bleibt, dass aufgrund der Regelungsstruktur des § 56 Abs 2 [X.]B VII prinzipiell unklar bleibt, welche medizinischen Referenzgrößen und welche arbeitsmarktpolitischen bzw soziologischen Erkenntnisse die Verfasser der MdE-Tabellen in ihre Überlegungen grundsätzlich einzustellen haben. Es würde einen Gewinn an Rechtssicherheit und -klarheit darstellen, wenn der Gesetzgeber selbst in § 56 Abs 2 [X.]B VII eine Delegation zum Erlass von MdE-Tabellen aussprechen würde, die den Kriterien des Art 80 Abs 1 S 2 GG genügen würde. Dabei wäre der Gesetz- bzw Verordnungsgeber auch berufen, die allgemeinen Maßstäbe und das Verfahren der Erstellung der MdE-Tabellen - wie es etwa durch die [X.] vom 10.12.2008 ([X.] 2412) für die Bestimmung des Grades der Behinderung iS von § 69 Abs 1 S 5 [X.]B IX und im [X.] Entschädigungsrecht für den Grad der Schädigungsfolgen nach § 30 Abs 1 [X.] geschehen ist - zu normieren.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 [X.]G.

Meta

B 2 U 11/15 R

20.12.2016

Bundessozialgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: U

vorgehend SG Stralsund, 29. Juli 2010, Az: S 1 U 99/07, Urteil

§ 48 Abs 1 S 1 SGB 10, § 73 Abs 3 Halbs 1 SGB 7, § 56 Abs 2 S 1 SGB 7, § 56 Abs 3 SGB 7, § 128 Abs 1 S 1 SGG, § 163 SGG, Art 80 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 20.12.2016, Az. B 2 U 11/15 R (REWIS RS 2016, 384)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 384

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