Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 04.09.2012, Az. 6 P 10/11

6. Senat | REWIS RS 2012, 3463

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Gegenstand

Mitbestimmungspflichtigkeit von Festlegungen zu Beginn und Ende der Arbeitszeit; Anordnung von Rufbereitschaft


Leitsatz

Die Anordnung von Rufbereitschaft ist eine Festlegung zu Beginn und Ende der Arbeitszeit im Sinne von § 74 Abs. 1 Nr. 9 HePersVG (juris: PersVG HE 1988) und unterliegt daher der Mitbestimmung der Personalvertretung.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten streiten über ein Mitbestimmungsrecht bei der Anordnung von Rufbereitschaft.

2

Der Abteilungsleiter der Liegenschaftsverwaltung des Beteiligten ordnete Rufbereitschaft für den [X.] 2008/2009 an. Der Beteiligte stellte sich auf den Standpunkt, die Anordnung unterfalle nicht der Mitbestimmung durch den Antragsteller.

3

Das daraufhin vom Antragsteller angerufene Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 5. November 2010 antragsgemäß festgestellt, der Antragsteller habe bei der Anordnung von Rufbereitschaft für den [X.] bei dem Beteiligten mitzubestimmen. Die Anordnung betreffe Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit im Sinne von § 74 Abs. 1 Nr. 9 HePersVG. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Beteiligten hat der Verwaltungsgerichtshof - nach Verbindung des Verfahrens mit zwei weiteren Beschwerdeverfahren - mit dem angefochtenen Beschluss zurückgewiesen. Im Rahmen seiner Begründung hat er auf die Rechtsprechung des [X.] zu § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG verwiesen, nach der das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in Bezug auf die Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit auch die Anordnung von Rufbereitschaft umfasse. Die entgegenstehende Rechtsprechung des [X.] zu vergleichbaren Mitbestimmungsnormen im [X.] und in [X.] der Länder - wie in § 74 Abs. 1 Nr. 9 HePersVG - sei in verschiedener Hinsicht nicht überzeugend. Der Arbeitnehmer habe während der Rufbereitschaft keine frei verfügbare und gestaltbare Freizeit; die vom [X.] vorgenommene Unterscheidung von Arbeits- und Rufbereitschaft im Hinblick auf die Mitwirkungsmöglichkeiten der [X.] erscheine deshalb lebensfremd.

4

Zur Begründung seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Rechtsbeschwerde hat der Beteiligte im Wesentlichen vorgetragen: Rufbereitschaft stelle keine Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne des Begriffs dar, auf den es bei Auslegung der personalvertretungsrechtlichen Norm ankomme. Die mit der Anordnung von Rufbereitschaft verbundenen Einschränkungen an der Freizeitgestaltung würden von ihrem Gewicht her nicht rechtfertigen, die betroffenen Zeiten als Arbeitszeit zu bewerten. Der Verwaltungsgerichtshof habe zudem außer Betracht gelassen, dass der [X.] Gesetzgeber bei Änderung von § 74 Abs. 1 Nr. 9 HePersVG im Jahr 2004 zum Ausdruck gebracht habe, dass er die Anordnung von Rufbereitschaft nicht der Mitbestimmung des Personalrats unterstellen wolle.

5

Der Beteiligte beantragt,

den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 29. September 2011 aufzuheben, soweit er die Beschwerde des Beteiligten gegen den Beschluss des [X.] vom 5. November 2010 zurückgewiesen hat, sowie den Beschluss des [X.] vom 5. November 2010 zu ändern und den Antrag des Antragstellers zurückzuweisen.

6

Der Antragsteller beantragt,

die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

7

Er verteidigt den angefochtenen Beschluss.

II.

8

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Der angefochtene Beschluss beruht nicht auf der Nichtanwendung oder der unrichtigen Anwendung einer Rechtsnorm (§ 93 Abs. 1 Satz 1 ArbGG i.V.m. § 111 Abs. 3 Satz 1 HePersVG). Die Anordnung von Rufbereitschaft ist - wie der Verwaltungsgerichtshof zu Recht angenommen hat - eine Festlegung zu Beginn und Ende der Arbeitszeit im Sinne von § 74 Abs. 1 Nr. 9 HePersVG. Der [X.] hält nicht an seiner entgegenstehenden älteren Rechtsprechung fest (vgl. Beschlüsse vom 1. Juni 1987 - BVerwG 6 P 8.85 - [X.] 250 § 75 BPersVG Nr. 48 S. 1 ff. und vom 26. April 1988 - BVerwG 6 P 19.86 - [X.] 251.6 § 75 [X.] Nr. 2 S. 2 ff.; bereits offen gelassen im Beschluss vom 23. August 2007 - BVerwG 6 P 7.06 - [X.] 251.4 § 86 HmbPersVG Nr. 13 Rn. 34). Er schließt sich insofern der Rechtsprechung des [X.] zu § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG an (vgl. insbes. Beschlüsse vom 21. Dezember 1982 - 1 ABR 14/81 - [X.], 200 <208 f.>, vom 23. Juli 1996 - 1 ABR 17/96 - [X.] Nr. 26 zu § 87 BetrVG 1972 Ordnung des Betriebes Bl. 320, vom 29. Februar 2000 - 1 ABR 15/99 - [X.] Nr. 81 zu § 87 BetrVG 1972 [X.]. 1514, vom 23. Januar 2001 - 1 ABR 36/00 - [X.] Nr. 78 zu § 75 BPersVG Bl. 963 und vom 14. November 2006 - 1 ABR 5/06 - [X.], 162 <169 f.>).

9

1. Zeiten einer Rufbereitschaft unterfallen zwar nicht dem arbeitszeitrechtlichen Begriff der Arbeitszeit, wie er verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen zugrunde liegt (vgl. etwa § 12 Satz 1 AZV; siehe auch [X.], Beschluss vom 14. November 2006 a.a.[X.]). Dies ist für die Auslegung einer personalvertretungsrechtlichen Vorschrift wie § 74 Abs. 1 Nr. 9 HePersVG jedoch dann nicht ausschlaggebend, wenn der mit dieser Vorschrift verfolgte Schutzzweck nach einer abweichenden Beurteilung verlangt (vgl. hierzu in anderem Zusammenhang Beschluss vom 7. März 2011 - BVerwG 6 P 15.10 - [X.] 250 § 75 BPersVG Nr. 113 Rn. 19). So liegt es hier:

a) Die Mitbestimmung über die Festlegung von Beginn und Ende der Arbeitszeit gemäß § 74 Abs. 1 Nr. 9 HePersVG soll dem Personalrat unter anderem ermöglichen, darauf hinzuwirken, dass berechtigte Wünsche einzelner Beschäftigter hinsichtlich der zeitlichen Lage ihrer Arbeitszeit in Einklang mit den dienstlichen Erfordernissen gebracht, d.h. im Rahmen des Möglichen berücksichtigt werden (vgl. Beschluss vom 30. Juni 2005 - BVerwG 6 P 9.04 - BVerwGE 124, 34 <40> = [X.] 250 § 75 BPersVG Nr. 106 S. 43; stRspr). Dem liegt zugrunde, dass die Lage der Arbeitszeit die Interessen der Beschäftigten in erheblicher Weise berührt. Durch sie wird zugleich ihre Freizeit zeitlich fixiert, d.h. festgelegt, welche Zeiten ihnen für die Gestaltung ihres Privatlebens zur Verfügung stehen (vgl. [X.], Beschluss vom 21. Dezember 1982 a.a.[X.] 208).

b) Die Festlegung der Zeiten von Rufbereitschaft berührt die Interessen der Beschäftigten in hinreichend vergleichbarer Weise wie die Festlegung der Arbeitszeiten innerhalb der Dienststelle. Ist ein Beschäftigter zur Rufbereitschaft verpflichtet, so ist er hierdurch in der Gestaltung seiner Freizeit in erheblicher Weise beschränkt. Er muss für die Dienststelle ständig erreichbar sein, sich in einem Zustand der Arbeitsfähigkeit halten und seinen Aufenthaltsort so wählen, dass er sich im Bedarfsfall jederzeit zügig in die Dienststelle begeben kann. Kurzfristige private Dispositionen oder Absprachen jedweder Art, die ihm dies unmöglich machen würden, sind ihm verwehrt; waren sie bereits getroffen, werden sie entwertet. Hiervon kann nicht nur der Beschäftigte persönlich, sondern darüber hinaus auch sein familiäres Umfeld betroffen sein.

c) Folgerichtig ist die Rufbereitschaft in die tarifrechtliche Typologie der "Sonderformen" der Arbeit in § 7 TV-L bzw. § 7 [X.] eingeordnet (§ 7 Abs. 4 TV-L, § 7 Abs. 4 [X.]) und kann sie eine tarifliche Vergütungspflicht auslösen (vgl. § 8 Abs. 5 TV-L, § 8 Abs. 3 [X.]). Den "Sonderformen" ist gemeinsam, dass sie für die betroffenen Beschäftigten mit Belastungen in qualitativer und quantitativer Hinsicht verbunden sind. Dem entspricht es, dass nach § 6 Abs. 5 TV-L bzw. § 6 Abs. 5 [X.] die Beschäftigten nur im Rahmen begründeter betrieblicher oder dienstlicher Notwendigkeit zur Arbeitsleistung in Gestalt der genannten Sonderformen verpflichtet sind. Es liegt im Rahmen der in der [X.]srechtsprechung anerkannten Zielrichtung der arbeitszeitbezogenen Mitbestimmung, die Einhaltung tariflicher Maßgaben dieser Art einer Überwachung durch die Personalvertretung zuzuführen (vgl. Beschluss vom 30. Juni 2005 a.a.O.).

2. Die dienstliche Aufgabenerfüllung wird durch die Mitbestimmungspflichtigkeit der Anordnung von Rufbereitschaft nicht unangemessen erschwert. Muss für Gruppen von Beschäftigten Rufbereitschaft nach Erfordernissen, die die Dienststelle nicht voraussehen kann, unregelmäßig und kurzfristig festgesetzt werden, darf diese Festsetzung mitbestimmungsfrei ergehen und beschränkt sich die Mitbestimmung des Personalrats auf die Festlegung von Grundsätzen über die Aufstellung der Dienstpläne (§ 74 Abs. 3 HePersVG). Die letztgenannte Sondervorschrift wird allerdings im Allgemeinen nicht bei der Anordnung von Rufbereitschaft als solcher, sondern bei der Festsetzung der nicht im Vorhinein planbaren Arbeitseinsätze im Rahmen angeordneter Rufbereitschaft zum Zuge kommen (vgl. dazu im Einzelnen [X.], Beschluss vom 23. Januar 2001 a.a.[X.]. 962 ff.).

3. Die Änderung von § 74 Abs. 1 Nr. 9 HePersVG durch das [X.] vom 20. Dezember 2004 ([X.]) begründet keine abweichende Sichtweise. Sie beschränkte sich auf die Streichung der Tatbestandsvariante der "sonstigen die [X.] beeinflussenden Regelungen". Dem lag offensichtlich die Absicht zugrunde, das [X.] auf dasjenige nach dem [X.] zurückzuführen (vgl. [X.] 16/2723 S. 52). Für die Auslegung der hier interessierenden - durch die Änderung unberührt gebliebenen - Tatbestandsvariante "Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit" lässt sich daraus nichts herleiten.

Meta

6 P 10/11

04.09.2012

Bundesverwaltungsgericht 6. Senat

Beschluss

Sachgebiet: P

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 29. September 2011, Az: 22 A 73/11.PV, Beschluss

§ 87 Abs 1 Nr 2 BetrVG, § 74 Abs 1 Nr 9 PersVG HE 1988

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 04.09.2012, Az. 6 P 10/11 (REWIS RS 2012, 3463)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 3463

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