Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 30.08.2013, Az. 2 BvR 2752/11

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2013, 3120

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung: Vollstreckung einer auf Art 23 EGV 1/2003 gestützten Geldbuße, die wegen Verstößen gegen Kartellverbote des ehemaligen EGKS-Vertrags verhängt worden war - Antrag ggf bereits unzulässig, da keine Umsetzungs- oder Vollstreckungsmaßnahmen durch deutsche Staatsorgane erforderlich - Risiko schwerwiegender außen- und integrationspolitischer Folgen für die Bundesrepublik bei Ergehen der eA - demgegenüber keine Existenzgefährdung für Beschwerdeführerin aufgrund Geldbuße


Gründe

I.

1

1. Die Beschwerdeführerin, die vormals als [X.] und davor als [X.] firmierte, bekam von der [X.]. [X.] einen Geschäftsbereich im Zusammenhang mit der Erzeugung bestimmter Stahlprodukte übertragen. In diesem Geschäftsbereich hatten seit 1993 bis zum [X.] zunächst die [X.]. AG und nachfolgend die Beschwerdeführerin gegen im ehemaligen [X.] vorgesehene Kartellverbote verstoßen. Mit einem Schreiben vom 23. Juli 1997 hatte die Beschwerdeführerin die Verantwortung für die von der [X.]. AG begangenen Kartellverstöße übernommen.

2

Mit Entscheidung vom 20. Dezember 2006 hat die [X.] gegen die Beschwerdeführerin wegen Zuwiderhandlungen gegen Kartellverbote, sowohl seitens der [X.]. AG bis zum 31. Dezember 1994 als auch durch die Beschwerdeführerin selbst ab dem 1. Januar 1995, eine Geldbuße in Höhe von 3,168 Mio. Euro verhängt. Die [X.]. AG selbst hat kein Bußgeld auferlegt bekommen. Die Bußgeldentscheidung hat die [X.] auf Art. 23 [X.] ([X.]) Nr. 1/2003 gestützt und in der Begründung näher ausgeführt, dass das Auslaufen des [X.]s zum 23. Juli 2002 der Verhängung des Bußgeldes nicht entgegenstehe. [X.] und [X.]-Vertrag seien Teil einer einheitlichen Rechtsordnung gewesen, weshalb der [X.] auch nach dem Wegfall des [X.]s die darin vorgesehenen Zuständigkeiten erhalten geblieben seien.

3

Die Beschwerdeführerin hat hierauf Nichtigkeitsklage vor dem Gericht erster Instanz erhoben, das die Entscheidung der [X.] im Urteil vom 1. Juli 2009 bestätigt hat. Der [X.] sei, wie auch Art. 305 Abs. 1 [X.] zeige, nur als lex specialis zum [X.]-Vertrag zu verstehen gewesen, so dass die [X.] ([X.]) Nr. 1/2003 dahingehend auszulegen sei, dass die [X.] weiterhin für die Ahndung von Kartellen zuständig sei, die sachlich und zeitlich in den Geltungsbereich des [X.]s fielen.

4

Mit Urteil vom 29. März 2011 hat der [X.] das von der Beschwerdeführerin hiergegen eingelegte Rechtsmittel zurückgewiesen. Der [X.] komme nach dem Grundsatz, wonach bei Änderungen in der Gesetzgebung die Kontinuität von Rechtsstrukturen gewährleistet bleibe, soweit kein entgegenstehender Wille erkennbar werde, der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch für das Primärrecht gelte, unverändert die Zuständigkeit für die Ahndung von [X.] zu. Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Auslaufen des [X.]s Kartelle habe sanktionsfrei stellen wollen, gebe es nicht.

5

Zur vorläufigen Abwehr der Vollstreckung der verhängten Geldbuße hat die Beschwerdeführerin bereits im Jahr 2007 eine selbstschuldnerische Bankbürgschaft hinterlegt.

6

2. Mit ihrer am 29. April 2011 beim [X.] eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie der Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 3 GG. Sie ist der Auffassung, dass der Rechtsweg zum [X.] gegen Akte der [X.] vorliegend eröffnet sei, weil sowohl die Bußgeldentscheidung der [X.] wie auch die sie bestätigenden Gerichtsentscheidungen Ausdruck eines defizitären Grundrechtsschutzes innerhalb der [X.] im Sinne der [X.] II-Rechtsprechung seien. Das Gesetzlichkeitsprinzip nach Art. 103 Abs. 2 GG sei vorliegend ebenso wenig eingehalten worden wie der [X.]. Auch sei das Verfahren der Nichtigkeitsklage sowohl unter dem Blickwinkel des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) wie auch hinsichtlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) mangelhaft, weil nicht die [X.] die Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung darlegen müsse, sondern der Kläger die Unrichtigkeit der Vorwürfe.

7

Am 26. August 2013 hat die Beschwerdeführerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Mit dieser will sie erreichen, dass die angegriffenen Entscheidungen in der [X.] für nicht vollstreckbar erklärt werden. Zur Begründung hat sie neben einem Schreiben der Europäischen [X.], wonach eine weitere Stundung der Vollstreckung der verhängten Geldbuße bzw. der Inanspruchnahme der selbstschuldnerischen Bankbürgschaft durch die [X.] nicht in Betracht komme, ausgeführt, dass Einwendungen gegen die Geldbuße nach einer Inanspruchnahme des Bürgen kaum mehr durchsetzbar seien.

II.

8

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

9

1. Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>). Dieser wird noch weiter verschärft, wenn eine Maßnahme mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen in Rede steht (vgl. [X.] 35, 193 <196 f.>; 83, 162 <171 f.>; 88, 173 <179>; 89, 38 <43>; 108, 34 <41>; 118, 111 <122>; 125, 385 <393>; 126, 158 <167>; 129, 284 <298>; [X.], Urteil des [X.] vom 12. September 2012 - 2 [X.] u.a. -, NJW 2012, S. 3145 <3146, Rn. 190>). Nach dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (vgl. [X.] 123, 267 <354>; 126, 286 <303>; 129, 124 <172>) muss dies erst Recht bei Rechtsakten von Unionsorganen gelten.

Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Erweist sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen, so hat das [X.] grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, ihr der Erfolg in der Hauptsache aber zu versagen wäre (vgl. [X.] 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 126, 158 <168>; 129, 284 <298>; [X.], Urteil des [X.] vom 12. September 2012 - 2 [X.] u.a. -, NJW 2012, S. 3145 <3146, Rn. 191>; stRspr).

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung könnte im vorliegenden Fall schon deshalb zurückzuweisen sein, weil die Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig ist. Sie richtet sich gegen Rechtsakte der [X.], die angesichts der Hinterlegung der Stellung der selbstschuldnerischen Bankbürgschaft durch die Beschwerdeführerin keiner weiteren Umsetzung oder Vollstreckung durch [X.] Staatsorgane mehr bedürfen. Da namentlich nicht das Risiko einer Vollstreckung durch einen [X.]n Gerichtsvollzieher besteht, dürfte es an einem geeigneten Adressaten für eine einstweilige Anordnung fehlen. Das muss an dieser Stelle jedoch nicht vertieft werden, weil die nach § 32 [X.] gebotene Folgenabwägung zu Lasten der Beschwerdeführerin ausfällt.

a) Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, stellte sich die Verfassungsbeschwerde später aber als unzulässig oder zumindest unbegründet heraus, wäre dies mit erheblichen Nachteilen für die [X.] verbunden. Mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung hätte ein [X.]s Staatsorgan, das [X.], die Anwendung eines Rechtsaktes der Europäischen [X.], der vom Gericht erster Instanz und vom [X.] bestätigt worden ist, im Geltungsbereich des Grundgesetzes untersagt. Außen- und integrationspolitisch könnte es mit beträchtlichen Nachteilen für die [X.] verbunden sein, wenn Entscheidungen von Organen der [X.] vorübergehend außer Vollzug gesetzt werden könnten, obgleich sie in Rechtsgebieten ergangen sind, für welche die [X.] ihre Hoheitsrechte in den Grenzen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG in verfassungskonformer Weise an die [X.] übertragen hat. Dies könnte die [X.] nicht nur einem Vertragsverletzungsverfahren aussetzen, sondern auch einen negativen Bezugsfall für andere Mitgliedstaaten schaffen.

Die Beschwerdeführerin kann mit der erstrebten einstweiligen Anordnung dagegen nicht verhindern, dass die [X.] den Bürgen aus der hinterlegten Bankbürgschaft in Anspruch nimmt; das Rechtsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und dem Bürgen ist hingegen nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.

b) Unterbliebe der Erlass einer einstweiligen Anordnung, stellte sich die Verfassungsbeschwerde aber später als zulässig und begründet heraus, wäre dies für die Beschwerdeführerin, soweit ersichtlich, nicht mit unzumutbaren Nachteilen verbunden. Die gegen die Beschwerdeführerin verhängte Geldbuße nebst Zinsen beläuft sich auf einen Betrag von 4,147 Mio. Euro; durch dessen Begleichung - sei es durch Zahlung des Betrags oder durch die von der [X.] angekündigte Inanspruchnahme der hinterlegten selbstschuldnerischen Bürgschaft - droht der Beschwerdeführerin namentlich keine schwerwiegende und irreparable Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Existenz; Entsprechendes ist jedenfalls nicht vorgetragen oder anderweitig erkennbar. Zudem lässt sich aus der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Antwort der [X.] entnehmen, dass diese eine mögliche Stattgabe der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache nicht als unbeachtlich ansehen würde. Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, dürfte auch kein endgültiger Verlust des Betrages drohen.

3. Die von der Beschwerdeführerin beantragte einstweilige Anordnung auf Außervollzugsetzung der Zwangsvollstreckung, die der Sache nach einen Antrag darstellt, der Europäischen [X.] die Inanspruchnahme der selbstschuldnerischen Bankbürgschaft zu untersagen, ist daher abzulehnen. Den für die [X.] bei einer solchen Untersagung drohenden außen- und integrationspolitischen Nachteilen, die schon für sich genommen von erheblichem Gewicht sind, stehen gegebenenfalls lediglich vorübergehende Vermögenseinbußen der Beschwerdeführerin gegenüber, zu denen sie mit der Hinterlegung der Bankbürgschaft und der damit verbundenen Umgehung der im eigentlichen Zwangsvollstreckungsverfahren eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten selbst beigetragen hat. Das für sich betrachtet berechtigte und auch verfassungsrechtlich geschützte Interesse an einer gerichtlichen Kontrolle von Vollstreckungsmaßnahmen und möglichen Äquivalenten erweist sich daher als nachrangig.

Meta

2 BvR 2752/11

30.08.2013

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend EuGH, 29. März 2011, Az: C-352/09 P, Urteil

Art 23 Abs 1 S 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, Art 305 Abs 1 EG, Art 65 § 1 EGKSVtr, Art 23 Abs 2 Buchst a EGV 1/2003

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 30.08.2013, Az. 2 BvR 2752/11 (REWIS RS 2013, 3120)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 3120


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 2 BvR 2752/11

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2752/11, 19.07.2016.

Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2752/11, 30.08.2013.


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