Bundesgerichtshof, Urteil vom 11.09.2018, Az. 1 StR 193/18

1. Strafsenat | REWIS RS 2018, 3972

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Gegenstand

Beurteilungsspielraum bei Anwendung des Jugendstrafrechts


Tenor

1. Die Revisionen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des [X.] vom 18. Oktober 2017 werden verworfen.

2. Die Angeklagten haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten [X.]hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten [X.]wegen Mordes in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Jugendstrafe von neun Jahren verurteilt. Gegen den Angeklagten S.     hat es wegen Mordes in Tateinheit mit vorsätzlichem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von [X.] in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eine lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verhängt.

2

Dagegen wendet sich der Angeklagte [X.]mit der allgemeinen Sachrüge und der Angeklagte S.     mit der Rüge formellen und materiellen Rechts. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten [X.]eingelegten und ausdrücklich auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Revision die Anwendung von Jugendstrafrecht auf den zur Tatzeit zwanzig Jahre und fünf Monate alten Angeklagten.

3

Die Revisionen haben keinen Erfolg.

I.

4

1. Nach den Feststellungen der [X.] wollten sich die Angeklagten S.     und [X.]durch den Gewinn bringenden Handel mit [X.]rihuana eine zusätzliche Einnahmequelle von einigem Gewicht und einiger Dauer verschaffen. Sie erwarben deshalb Anfang November 2016 von dem Mitangeklagten M.     ein Kilogramm [X.]rihuana für 4.000 €. 2.500 € zahlten S.     und [X.]sofort. Der [X.] sollte in Raten abbezahlt werden. Mitte November 2016 verkauften sie das Kilogramm [X.]rihuana an      [X.].    und    [X.].   für 5.000 € und vereinbarten bei Übergabe, dass der Kaufpreis erst in den folgenden Tagen bezahlt werden sollte.

5

     [X.].    und    [X.].   waren jedoch nicht zahlungswillig. Am 1. Dezember 2016 trafen die Angeklagten S.     und [X.]     [X.].    in einer [X.] an. [X.].    verweigerte jedoch die Zahlung und bat seinen Freund    [X.]     telefonisch zu seiner Unterstützung herbei, weil er mit einer körperlichen Auseinandersetzung rechnete. Als [X.]     eintraf, saßen S.     und [X.]vor der [X.] in dem schaltgetriebenen [X.] des Angeklagten S.     . Sie beobachteten, dass [X.].    und [X.]     die [X.] wenige Minuten später verließen und vor einer nahegelegenen Sitzgruppe eng beieinander stehen blieben. S.     und [X.]beschlossen, ihrer gemeinsamen Forderung auf Zahlung von 5.000 € drastisch Nachdruck zu verleihen.

6

Sie vereinbarten, zunächst mit dem von [X.]gesteuerten [X.] eine Runde um den Block zu fahren. Dann sollte [X.]nach beschleunigtem Heranfahren nahe der Sitzgruppe scharf abbremsen und der Beifahrer S.     aus dem geöffneten Beifahrerfenster einen Schuss aus der scharfen Pistole Kaliber 7,65 mm in Richtung von      [X.].    und    [X.]     abfeuern. Nach der Schussabgabe sollte [X.]so schnell wie möglich wegfahren.

7

Von ihrem gemeinsamen [X.] war sowohl eine Schussabgabe ohne Treffer als auch die Verletzung oder der Tod einer der beiden Männer umfasst. Ein Todeseintritt war ihnen zwar unerwünscht, sie fanden sich jedoch damit ab. Sie nahmen den Tod von      [X.].    oder [X.]     billigend in Kauf, weil sie um jeden Preis eine Zahlung der 5.000 € erreichen wollten. Für den Fall, dass sie [X.]     tödlich treffen sollten oder ihn oder [X.].    nur verletzen oder verfehlen sollten, gingen sie davon aus, dass dann der verängstigte überlebende [X.].    bzw. die verängstigten [X.].    und [X.].   zahlen würden. Sollten sie [X.].    tödlich treffen, nahmen sie an, dass [X.].   zahlen würde.

8

Sie wussten, dass der Schuss aus dem Auto nach einer starken Bremsung aus einer Entfernung von fünf bis zehn Metern bei einbrechender Dunkelheit und einsetzender Straßenbeleuchtung in Sekundenschnelle erfolgen würde und S.     kein geübter Pistolenschütze war. Beide erkannten und billigten den Umstand, dass [X.].    und [X.]     nicht mit einem Schuss rechneten und keine Chance hatten zu fliehen, auszuweichen oder den Angriff abzuwehren. Diesen Umstand wollten sie ausnutzen.

9

Nach der Fahrt um den Block näherten sie sich wie geplant erneut der Sitzgruppe. [X.]bremste das Fahrzeug stark ab. S.     gab unmittelbar nach dem Stillstand des Fahrzeugs durch das vollständig geöffnete Beifahrerfenster aus einer Entfernung von fünf bis sieben Metern einen Schuss in Richtung der nahe zusammenstehenden [X.].    und [X.]     ab. Er traf [X.]     mitten ins Herz. [X.]     verstarb sofort.

2. a) Zur Entwicklung des Angeklagten [X.]führte die [X.] aus, dass der Angeklagte vor knapp drei Jahren wegen Arbeitslosigkeit und schlechter beruflicher Perspektive in [X.] auf Rat seines Vaters nach [X.] gegangen sei, sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, bei seiner Großmutter gewohnt habe und zwischen [X.] und [X.] gependelt sei. Als sich sein Vater vor etwa zwei Jahren entschlossen hätte, ebenfalls nach [X.] zu ziehen und ihm eine Stelle als Hilfsarbeiter in einer Zimmerei vermittelt habe, habe der Angeklagte ab März 2015 mit einem Nettoeinkommen von etwa 1.500 € in der Zimmerei und an den Wochenenden bei einer anderen Firma mit einem Nettoeinkommen von etwa 400 € gearbeitet. Sein Vater habe alle finanziellen Angelegenheiten für ihn verwaltet, ihm die jährliche Steuererklärung erstellt, die EC-Karte verwahrt und ihm monatlich Geld zugeteilt. Bei anstehenden Entscheidungen habe der Angeklagte stets seinen Vater um Rat gefragt. Der Angeklagte plane eine Ausbildung zum Dachdecker bei seinem Arbeitgeber, um sich dann gemeinsam mit seinem Vater als Dachdecker selbstständig zu machen. Seine in [X.] lebende Freundin, mit der er seit fünf Jahren eine Beziehung führe, wolle er zeitnah heiraten.

b) Das [X.] hat auf den Angeklagten [X.]Jugendstrafrecht angewandt und gemäß § 17 Abs. 2 [X.] wegen schädlicher Neigungen auf Jugendstrafe erkannt.

Die Anwendung von Jugendstrafrecht hat die [X.] damit begründet, dass es dem Angeklagten bisher nicht gelungen sei, sich von seiner Familie zu lösen. Er meide eigenverantwortliche Entscheidungen. Auch sein [X.] Umgang sei auf seine Familie und den Angeklagten S.     beschränkt. Seine schlechten [X.] hätten den Aufbau eines eigenen gleichaltrigen Freundeskreises verhindert und dazu geführt, dass er zur Tatzeit noch stark von seiner Familie abhängig gewesen sei. In den Taten komme zum Ausdruck, dass er naiv gehandelt hätte und noch nicht über das bei einem ausgereiften Heranwachsenden zu erwartende Konfliktmanagement und die nötige Kontrolle seiner Emotionen verfügt habe. So habe er gemeinsam mit dem Angeklagten S.     in der bloßen Hoffnung, von [X.].    und [X.].   den für das Kilogramm [X.]rihuana vereinbarten Kaufpreis in Höhe von 5.000 € zu erhalten, den beiden das [X.]rihuana ohne Sicherheit und ohne Anzahlung überlassen. Deren anhaltende Zahlungsverweigerung habe ihn dazu gebracht, nur wegen 5.000 € den Schuss aus dem Auto heraus zu ermöglichen. Ein solches aus Verärgerung entstandenes Verhalten unter billigender Inkaufnahme des Todes eines Menschen entspräche eher jugendtypischen Verhaltensmustern als dem Bild eines ausgereiften und selbst kontrollierten Heranwachsenden. Der mangelnde [X.] an Altersgenossen habe sich auch nach seiner Inhaftierung fortgesetzt, in der Haft habe er vor allem die von jüngeren Gefangenen genutzten Fortbildungsmöglichkeiten in Anspruch genommen. Darüber hinaus sprächen auch die Zukunftspläne des Angeklagten in Form von „Tagträumen“ für eine für Jugendliche und nicht ausgereifte Heranwachsende typische Selbstüberschätzung. So plane der bisher nur als Arbeiter in einer Zimmerei beschäftigte und nur wenig [X.] sprechende Angeklagte bereits, eine Ausbildung als [X.] zu absolvieren, nach deren erfolgreichem Abschluss eine eigene Firma zu gründen und sich als [X.] selbstständig zu machen. Er plane also nicht in rationaler Weise einen Schritt nach dem anderen, sondern überspiele seine Unsicherheit durch den Wunsch zur frühen Selbstständigkeit. In die gleiche Richtung ziele sein Wunsch, seine in [X.] lebende Verlobte zu heiraten und eine Familie zu gründen. Zwar sei er eigener Einlassung zufolge bereits seit fünf Jahren mit seiner Verlobten in einer Beziehung, doch habe sich diese Beziehung mit Ausnahme der wenigen Besuche des Angeklagten in [X.] auf bloße Kommunikation per Telefon beschränkt, das Bild dieser Beziehung entspräche daher zumindest derzeit noch nicht der einer gefestigten Beziehung, die Grundlage für eine Heirat und die Gründung einer Familie sei und als Indiz für eine eigenständige und konkrete Lebensplanung herangezogen werden könnte.

II. Revisionen der Angeklagten

Der Schuldspruch und der Strafausspruch enthalten keine Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten. Insoweit und hinsichtlich der Verfahrensrügen wird auf die [X.] des [X.] Bezug genommen.

Lediglich ergänzend bemerkt der Senat, dass die Beweiswürdigung der [X.], auf die sie ihre Überzeugung stützt, die Schussabgabe sei durch den Beifahrer S.     erfolgt, nicht zu beanstanden ist. Sie beruht auf einer bewertenden Gesamtschau aller maßgeblichen objektiven und subjektiven Tatumstände des Einzelfalles. Die von der [X.] in diesem Zusammenhang angestellten Erwägungen sind weder lückenhaft, widersprüchlich oder unklar noch verstoßen sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze. Insbesondere hat die [X.] aus der enormen Geschwindigkeit der Tatausführung und dem Fehlen auffälliger Bewegungen im Fahrzeuginneren ein Abfeuern des Schusses durch den Beifahrer S.     für erwiesen erachtet und eine Schussabgabe durch den Fahrer [X.]mit überzeugenden Erwägungen, auch unter Berücksichtigung möglicher Positionen bzw. Armhaltungen des Schützen, ausgeschlossen.

III. Revision der Staatsanwaltschaft

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.

Die [X.] hat auf den zur Tatzeit heranwachsenden Angeklagten Jugendstrafrecht angewendet, da er zur [X.] nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichgestanden habe (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 [X.]). Die [X.] hat die Anwendung von Jugendstrafrecht rechtsfehlerfrei begründet.

Gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 [X.] ist auf einen Heranwachsenden Jugendstrafrecht anzuwenden, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des [X.] bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur [X.] nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand. Einem Jugendlichen gleichzustellen ist der noch ungefestigte und prägbare Heranwachsende, bei dem [X.] noch in größerem Umfang wirksam sind. Ist das nicht der Fall und stehen [X.] nicht im Vordergrund, hat der Täter vielmehr die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erfahren, ist auf ihn allgemeines Strafrecht anzuwenden (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteile vom 23. Oktober 1958 – 4 [X.], [X.]St 12, 116, 118; vom 16. Januar 1968 – 1 [X.], [X.]St 22, 41, 42; vom 6. Dezember 1988 – 1 [X.], [X.]St 36, 37, 39; vom 20. [X.]i 2002 – 2 StR 2/02, [X.]R [X.] § 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 8 und vom 20. [X.]i 2014 – 1 [X.], [X.], 230 f.). Ob dies der Fall ist, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit und unter Berücksichtigung der [X.] Lebensbedingungen und Umweltbedingungen zu beurteilen. Dem Tatrichter steht hierbei ein weiter Beurteilungsspielraum zu ([X.], Urteile vom 6. Dezember 1988 – 1 [X.], [X.]St 36, 37 f. mwN; vom 11. März 2003 – 1 [X.], [X.], 186 ff. und vom 20. [X.]i 2014 – 1 [X.], [X.], 230 f.; Beschluss vom 14. August 2012 – 5 [X.], [X.], 289 f.). Diesen Beurteilungsspielraum hat die [X.] nicht überschritten. Ihr ist auch nicht aus dem Blick geraten, dass der Angeklagte eine nicht unbedeutende Rolle bei dem dem Tötungsdelikt vorausgegangenen Drogengeschäft gespielt hat.

Raum     

      

[X.]     

      

Fischer

      

Bär     

      

Hohoff     

      

Meta

1 StR 193/18

11.09.2018

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hechingen, 18. Oktober 2017, Az: 26 Ss 290/18

§ 105 Abs 1 Nr 1 JGG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 11.09.2018, Az. 1 StR 193/18 (REWIS RS 2018, 3972)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 3972

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