Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 30.06.2011, Az. IX ZR 155/08

IX. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 5229

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
IX ZR 155/08

Verkündet am:

30. Juni 2011

Kirchgeßner

Amtsinspektorin

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
InsO § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 133 Abs. 1
Holt eine Behörde von anderen Behörden desselben Landes Informationen ein, um eine Schuld des Landes im Wege der Aufrechnung tilgen zu können, müssen auch die Informationen verlangt und erteilt werden, die der Wirksamkeit einer Aufrechnung insolvenzrechtlich entgegenstehen können. Unterbleibt die vollständige Mitteilung aller bekannten rechtserheblichen Umstände, hat dies zur Folge, dass sich die han-delnde Körperschaft auf die Unkenntnis solcher Umstände nicht berufen darf.
BGH, Urteil vom 30. Juni 2011
-
IX ZR 155/08 -
OLG Frankfurt/Main

LG Frankfurt/Main

-
2
-
Der IX.
Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 2011 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kayser, die Richter Raebel und Vill, die Richterin Lohmann und den Richter Dr. Pape

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 15. Juli 2008 auf-gehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung -
auch über die Kosten des Revisionsverfahrens -
an das Berufungsge-richt zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 27. Januar 2004 am 1. April 2004 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der B.

GmbH (fortan:
Schuldnerin).

Die Schuldnerin befand sich im November 2002 mit ihren steuerlichen für die 1
2
-
3
-
Umsatzsteuern zuständige Finanzamt
eine Liquiditätsprüfung bei der Schuldne-rin durchführte. Zur gleichen Zeit nahm die Schuldnerin an einer von dem Staatsbauamt W.

durchgeführten Ausschreibung für die Durchführung von Rohbauarbeiten an einem dortigen Behördenzentrum
teil, erklärte hierbei, ihrer Verpflichtung zur Zahlung von Steuern und Abgaben nachgekommen zu sein,
und erhielt am 3. Februar
2003 den Auftrag.
Das Staatsbauamt verfügte
zu diesem Zeitpunkt
über keine Kenntnisse von der finanziellen Lage der Schuldnerin. Diese
erbrachte
bis zur Rohbauabnahme
am 13. August 2003 die vertraglich vereinbarten Bauleistungen, für die sie fortlaufend Abschlagsrech-nungen erteilte.

Die Zahlungsregulierung erfolgte über die Staatskasse beim Finanzamt D.

. Nach Erhalt der ersten Abschlagsrechnung im April 2003 erfragte die Staatskasse bei
den
für die Beitreibung der von der Schuldnerin abzufüh-renden Lohn-
und Umsatzsteuer
zuständigen Finanzämtern
rückständige
Steu-erforderungen
und erklärte gegenüber der Werklohnforderung die Aufrechnung.
Entsprechend verfuhr sie nach Erhalt der weiteren Abschlagsrechnungen.
Auf diese Weise
erklärte
sie
die Aufrechnung gegen Werklohnforderungen der Schuldnerin in Höhe von insgesamt .
Der Kläger verlangt Bezah-lung der Werklohnforderungen, weil er die Aufrechnungen für insolvenzrechtlich unwirksam
hält (§ 96 Abs. 1 Nr. 3, §
133
Abs.
1
InsO).

Das Landgericht hat die Klage
abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt er die geltend gemachten Ansprüche
in vollem Umfang
weiter.

3
4
-
4
-
Entscheidungsgründe:

Die Revision ist begründet.
Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Die Voraussetzungen von §
96 Abs.
1 Nr. 3, §
133
Abs.
1
InsO lägen nicht vor. Soweit
das Werthaltigmachen von Forderungen für anfechtbar erachtet werde, beziehe sich
diese Rechtspre-chung
nur auf die Anfechtbarkeit von Rechtshandlungen, die dem Gläubiger eine Sicherung im Sinne der hier aus zeitlichen Gründen nicht einschlägigen Vorschriften der §§ 130, 131 InsO ermöglichten. Für die Anwendung von §
133 Abs.
1 InsO sei als maßgebliche Rechtshandlung ausschließlich der Abschluss des Werkvertrages anzusehen. Zu diesem Zeitpunkt habe das Staatsbauamt über keine Kenntnis von einer etwaigen Gläubigerbenachteiligungsabsicht der Schuldnerin verfügt.

II.

Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.

1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon
ausgegangen, dass
eine Unwirksamkeit der Aufrechnung nur nach §
96 Abs.
1 Nr.
3, §
133 Abs.
1 InsO in Betracht kommt. Die für die Beurteilung der Anfechtbarkeit der Aufrechnungs-lage maßgebliche Rechtshandlung ist aber nicht der Abschluss des Werkver-5
6
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8
-
5
-
trages, sondern das Werthaltigwerden der Werklohnforderungen.
Das Beru-fungsgericht hätte deshalb prüfen müssen, ob der Beklagte zu einem späteren Zeitpunkt von dem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin Kenntnis erhielt, nach welchem die Schuldnerin noch Werkleistungen erbrachte.

a)
Nach §
96 Abs.
1 Nr.
3 InsO ist die Aufrechnung unzulässig, wenn der Insolvenzgläubiger diese Möglichkeit durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat. Der für die Begründung der Aufrechnungslage maßgebliche Zeit-punkt ist nach
§
140 Abs.
1 InsO
zu bestimmen
(BGH, Urteil vom 29.
November 2007 -
IX ZR 30/07, BGHZ 174, 297 Rn.
12; HK-InsO/Kayser, 5.
Aufl., §
96 Rn.
35; Gero
Fischer, WM 2008, 1, 5). Entscheidend ist, wann das Gegensei-tigkeitsverhältnis durch die Verknüpfung der beiden gegenseitigen Forderungen begründet worden ist (BGH, Urteil vom 29.
November 2007 aaO; vom 26.
Juni 2008 -
IX ZR 47/05, WM 2008, 1442 Rn.
17).
Dagegen ist es grundsätzlich un-erheblich, ob die Forderung des Schuldners oder die des Insolvenzgläubigers früher entstanden oder fällig geworden ist (BGH, Urteil vom 29.
November 2007, aaO; vom 26.
Juni 2008, aaO). Ist hingegen zumindest eine der
gegen-seitigen durch Rechtsgeschäft entstandenen Forderungen befristet oder von einer Bedingung abhängig, so kommt es für die Anfechtbarkeit des Erwerbs der Aufrechnungslage nach §
140 Abs.
3 InsO nicht darauf an, wann die Aufrech-nung zulässig wurde, sondern auf den Zeitpunkt, zu dem die spätere Forderung entstand und damit das Gegenseitigkeitsverhältnis begründet wurde (BGH, Ur-teil vom 29.
Juni 2004 -
IX ZR 195/03, BGHZ 159,
388, 395
f; vom 11.
Februar 2010 -
IX ZR 104/07, WM 2010, 711 Rn.
13).

aa) Bei einem Werkvertrag bestimmt sich der maßgebliche Zeitpunkt nach §
140 Abs.
1 InsO, weil die Werklohnforderung nicht unter einer rechtsge-schäftlichen Bedingung steht (HK-InsO/Kayser, 5.
Aufl., §
96 Rn.
55). Deshalb 9
10
-
6
-
verlegt §
140 Abs.
3 InsO den Zeitpunkt nicht auf den Vertragsschluss zurück (HK-InsO/Kayser, aaO
§
96 Rn.
55; Gero
Fischer, aaO S.
6; vgl. auch BGH, Urteil vom 29. November 2007,
aaO Rn.
36
f).

bb) Der Senat hat nach Erlass des Berufungsurteils in einem einen Fak-turierungs-
und Inkassovertrag betreffenden Fall entschieden, dass es für die Beurteilung der Anfechtbarkeit des Erwerbs der Aufrechnungslage nach
§
96 Abs.
1 Nr.
3 InsO
darauf ankommt, wann die Forderung des Schuldners durch Inanspruchnahme von dessen Leistungen werthaltig geworden ist (BGH, Urteil vom 11.
Februar 2010, aaO).
In jenem Fall hat der Senat für ausschlaggebend gehalten, dass allein
eine mit Abschluss eines Vertrages entstandene Aufrech-nungslage dem Gegner noch keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen
bringt. Solange der Schuldner nichts geleistet hat, wofür der Gläubiger eine Vergütung schuldet, besteht für ihn keine Befriedigungsmöglichkeit im Wege der Aufrechnung (HK-InsO/Kreft,
aaO §
129 Rn.
17;
Gero
Fischer, aaO).

Entsprechendes gilt für den Werkvertrag. Auch bei diesem verschafft erst die erbrachte Werkleistung dem Gegner die Möglichkeit, sich durch Aufrech-nung zu befriedigen.
Die Auffassung des Berufungsgerichts, Realakte seien nur im Wege der Deckungsanfechtung anfechtbar, weil nur in den Vorschriften der §§
130, 131 InsO Sicherungs-
und Ermöglichungshandlungen erwähnt seien, trifft nicht zu. Auch im Rahmen der
Tatbestände der allgemeinen Insolvenzan-fechtung können Realakte, also gewollte reine Tathandlungen, die rechtserheb-lich sind, der Anfechtung unterliegen, ohne dass es darauf ankommt, ob gerade der konkret eingetretene Rechtserfolg angestrebt war (vgl. etwa MünchKomm-InsO/Kirchhof, 2.
Aufl. §
129 Rn.
22; HK-Inso/Kreft, aaO §
129 Rn.
11 mwN).

11
12
-
7
-

b)
Das Berufungsgericht hat
deshalb
gemäß §
140 Abs.
1 InsO
zu Un-recht den Abschluss des Werkvertrages für maßgeblich gehalten.
Gleichwohl kommt nur eine Anwendung
von §
96 Abs.
1 Nr.
3, §
133 Abs.
1 InsO in Be-tracht. Alle Werklohnforderungen sind mit dem Abschluss der Rohbauarbeiten am 13.
August 2003 und damit mehr als drei Monate vor Stellung des Insol-venzantrags werthaltig geworden. Unerheblich ist hingegen, ob die Staatskasse -
wie die Revision hilfsweise geltend macht
-
wegen Beträgen von 52.000

24.000

hnung selbst erst in der kritischen Zeit erklärt hat.

2. Für die Kenntnis des Beklagten vom Benachteiligungsvorsatz
der Schuldnerin kann zudem nicht auf den Wissensstand des Staatsbauamtes ab-gestellt werden.
Ab dem Zeitpunkt, in dem mehrere Behörden eines Rechtsträ-gers bei der Bezahlung einer Rechnung durch Aufrechnung zusammenwirken, ist die Kenntnis einer
dieser Behörden von Umständen, die
für die Wirksamkeit der Aufrechnung von Bedeutung sind, auch den anderen an der Aufrechnung beteiligten Behörden zuzurechnen.
Ausreichend ist, dass danach eine der be-teiligten Behörden die erforderliche Kenntnis von den Tatsachen hatte, bei de-ren Vorliegen die Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners ge-mäß §
133 Abs.
1 Satz
2 InsO vermutet wird.

a) Eine Kenntnis des Beklagten von der drohenden Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin und der Gläubigerbenachteiligung kann allerdings nicht schon daraus
gefolgert werden, dass er
sich grundsätzlich das Wissen aller seiner
Behörden zurechnen lassen müsste.

Im Grundsatz
kommt es vielmehr auf das Wissen des
jeweils zuständi-gen Bediensteten der zuständigen Behörde an
(BGH, Urteil vom 4.
Februar 1997 -
VI ZR 306/95, BGHZ 134, 343, 346; vom 28. November 2006 -
VI ZR 13
14
15
16
-
8
-
196/05, NJW 2007, 834 Rn.
5; vom 15.
März 2011 -
VI
ZR 162/10, VersR 2011, 682 Rn.
10
ff jeweils
zur Kenntniszurechnung
bei §
852 BGB aF; BFHE 143, 520, 522; BFH, DStR 2011, 521, zVb in BFHE 232, 5
Rn.
15;
jeweils zum nach-träglichen Bekanntwerden einer Tatsache im Sinne des §
173 AO; BGH, Be-schluss vom 29.
Juni 2006 -
IX
ZR
167/04, nv, Rn.
3 bei juris; vgl. auch BSGE 100, 215 Rn.
18). Im rechtsgeschäftlichen Verkehr darf sich eine organisations-bedingte "Wissensaufspaltung"
zwar nicht zu Lasten des Geschäftspartners auswirken; dies gilt aber zunächst nur für die nach außen auftretende Organisa-tionseinheit, also das Amt oder die Behörde (BGH, Urteil vom 24.
Januar 1992 -
V
ZR 262/90, BGHZ 117,
104, 108; vom 2.
Februar 1996 -
V ZR 239/94, BGHZ 132, 30, 36). Eine Wissenszurechnung zwischen verschiedenen Behör-den ist danach von weiteren Voraussetzungen abhängig, auch wenn sie dem-selben Rechtsträger -
hier dem Beklagten
-
angehören (vgl. BSGE 100, 215 Rn.
20;
OLG Frankfurt, OLGR 2003, 178
f; Schleswig-Holsteinisches FG, EFG 2007, 89, 91).

b) Nach ständiger Rechtsprechung muss
jede am Rechtsverkehr teil-nehmende Organisation
sicherstellen, dass die ihr zugehenden rechtserhebli-chen Informationen von ihren Entscheidungsträgern zur Kenntnis genommen werden können,
und es deshalb so einrichten, dass ihre Repräsentanten, die dazu berufen sind, im Rechtsverkehr bestimmte Aufgaben in eigener Verant-wortung wahrzunehmen, die erkennbar erheblichen Informationen tatsächlich an die entscheidenden Personen weiterleiten
(BGH, Urteil vom 12.
November 1998 -
IX
ZR 145/98, BGHZ 140, 54, 62; vom 15.
Dezember 2005 -
IX
ZR 227/04, WM 2006, 194, 195
f; vom 16.
Juli 2009 -
IX
ZR 118/08, BGHZ 182, 85 Rn.
16;
vom 15.
April 2010 -
IX
ZR 62/09, WM 2010, 940 Rn.
11;
so auch
BSGE 100, 215 Rn.
19). Dies hat der erkennende Senat ausdrücklich für den Bankenbereich (BGH, Urteil vom 15.
Dezember 2005, aaO) und für die Versi-17
-
9
-
cherungswirtschaft (BGH, Urteil vom 16.
Juli 2009, aaO; vom
15.
April 2010, aaO)
entschieden.

Für andere
am Rechtsverkehr teilnehmende Organisationen
und damit auch für Behörden
gilt nichts anderes
(BSGE 100, 215 Rn.
19). Daraus folgt aber zunächst nur die Obliegenheit, die Organisationsstruktur so zu gestalten, dass die der Organisation tatsächlich zugegangenen Informationen, die mit den vorhandenen Entscheidungsgrundlagen in sachlichem Zusammenhang stehen,
innerhalb dieser Organisation an die hiervon betroffenen Stellen weitergegeben werden (BGH, Urteil 15.
Dezember 2005, aaO; vom 16.
Juli 2009, aaO; vom 15.
April 2010, aaO; BSGE 100, 215 Rn.
20).
Eine Zurechnung des Wissens anderer
Behörden kann dadurch nicht allgemein begründet werden.
Die Zu-ständigkeitsgrenzen der Behörden sind grundsätzlich zu respektieren, weil an-derenfalls in unzulässiger Weise in gesetzliche Zuständigkeitsregelungen ein-gegriffen würde (BGH, Urteil vom 4.
Februar 1997, aaO
S.
348 mwN).

c) Nutzt demgegenüber eine Behörde bei ihrer Tätigkeit in Zusammenar-beit mit anderen Behörden gezielt deren Wissen zum Vorteil des gemeinsamen Rechtsträgers bei der Abwicklung eines konkreten Vertrages, besteht insoweit auch eine behördenübergreifende Pflicht, sich gegenseitig über alle hierfür rele-vanten Umstände zu informieren. Hinsichtlich der Abwicklung dieses Vertrages wird faktisch eine
aufgabenbezogene neue Handlungs-
und Informationseinheit gebildet;
innerhalb dieser Einheit muss sichergestellt werden, dass alle bekann-ten oder zugehenden rechtserheblichen Informationen unverzüglich an die ent-scheidenden Personen der Handlungseinheit in den anderen Behörden weiter-geleitet und von diesen zur Kenntnis genommen werden.

18
19
-
10
-

aa) Im Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren darf der Informati-onsaustausch
im Interesse des Schutzes des Rechtsverkehrs und
der Gläubi-gergleichbehandlung nicht
in einer Weise
vorgenommen werden, dass sich die letztlich nach außen handelnde Behörde von den bei den anderen beteiligten Behörden vorhandenen nachteiligen Informationen, etwa über die drohende Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners
oder die durch eine Aufrechung ein-tretende Gläubigerbenachteiligung,
abschottet und nur die für ihren Rechtsträ-ger nützlichen Informationen, etwa über die Durchsetzbarkeit
von Steueran-sprüchen im Wege der Aufrechnung, verlangt
und erhält.

bb) Der Senat hat institutionellen Gläubigern, die wie das Finanzamt oder die Sozialkasse im fiskalischen Allgemeininteresse oder im Interesse der Versi-chertengemeinschaft die Entwicklung eines krisenbehafteten Unternehmens zu verfolgen haben (vgl. BGH, Urteil vom 19.
Februar 2009 -
IX
ZR 62/08, BGHZ 180, 63 Rn.
22), Beobachtungs-
und Erkundigungspflichten auferlegt, die an besondere Umstände anknüpfen (BGH, Urteil vom 19.
Juli 2001 -
IX
ZR 36/99, ZIP
2001, 1641, 1642; vom 19.
Februar 2009 -
IX
ZR 62/08, BGHZ
180, 63, Rn.
21). §
133 Abs.
1 InsO setzt zwar, anders als §
10 Abs.
1 Nr.
4 GesO, Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners voraus; grob fahrlässige Unkenntnis genügt nicht. Ein institutioneller Großgläubiger wie der Beklagte darf sich
aber der positiven Kenntnis nicht verschließen. Werden behörden-übergreifende Handlungs-
und Informationseinheiten gebildet, um Aufrechnun-gen zu ermöglichen, liegt darin ein besonderer Umstand, der eine Erkundi-gungs-
und Informationspflicht über alle bekannten Tatsachen im Zusammen-hang mit der beabsichtigten Aufrechnung
auslöst. Die objektive Verletzung die-ser Pflicht hat zur Folge, dass sich die handelnde Körperschaft auf die Un-kenntnis solcher Umstände nicht berufen darf, die bei einem ihrer Wissensver-treter vorhanden war.
20
21
-
11
-

cc) Teilt der Fiskus die Abwicklung und Bezahlung eines Bauauftrages, bei dem er routinemäßig die Bezahlung -
bei entsprechender Möglichkeit
-
durch Aufrechnung vornimmt, auf mehrere Behörden auf, macht er sich das Wissen der jeweils beteiligten anderen Behörden systematisch zunutze. Dann kann er sich andererseits nicht darauf berufen, dass eine Wissenszurechnung nicht stattfinden dürfe. Ab dem Zeitpunkt, ab dem er selbst von der Möglichkeit der Wissensbeschaffung bei anderen Behörden Gebrauch macht, hat er sich das
gesamte rechtserhebliche
Wissen der dadurch einbezogenen Behörden hinsichtlich des abgewickelten Vorgangs zurechnen zu lassen. Ab diesem Zeit-punkt ist auf das zugerechnete Gesamtwissen der beteiligten Behörden abzu-stellen.

Hat allerdings eine der beteiligten Behörden bereits zu einem früheren Zeitpunkt umfassende Kenntnis, etwa weil von vornherein, wie vom Kläger be-hauptet, vereinbart gewesen ist, dass vorhandene Steuerschulden eines Zah-lungsunfähigen oder von der Zahlungsunfähigkeit bedrohten Schuldners durch Bauleistungen getilgt werden sollen, ist die Kenntnis allein dieser Behörde aus-reichend.

Wurde
demnach die Bezahlung des vom Staatsbauamt vergebenen Bauauftrages über eine zweite Behörde, hier die Staatskasse, abgewickelt und forscht diese Behörde bei weiteren Behörden (hier den Finanzämtern) nach Möglichkeiten, die Forderung durch Aufrechnung mit Steuer-
oder Abgabeforde-rungen begleichen zu können, musste
sie auch nach allen anderen für eine sol-che Aufrechnung relevanten Informationen fragen und mussten ihr diese Infor-mationen mitgeteilt werden, auch diejenigen, die zur Unwirksamkeit einer Auf-rechnung nach §
96 Abs.
1 Nr.
3 InsO führen konnten. Wurden derartige vor-22
23
24
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12
-
handene Informationen nicht übermittelt, müssen sich die Entscheidungsträger der am Aufrechnungsvorgang beteiligten Behörden so behandeln lassen, als hätten sie dieses Wissen abgefragt und erhalten.
Dies gilt nach Ablauf der Zeit, die erforderlich gewesen wäre, um die erforderliche Kenntnis zu vermitteln (vgl. BGH, Urteil vom 16.
Juli 2009 aaO Rn.
16).

3. Hat eine dieser sachlich zuständigen Behörden im Allgemeinen vom Benachteiligungsvorsatz der Schuldnerin Kenntnis, genügt dies auch dann, wenn sie nicht von allen
Einzelheiten weiß (BGH, Urteil
vom 19.
Dezember 2002 -
IX ZR 377/99, NJW-RR 2003, 837, 842; vom 29.
November 2007 -
IX ZR 121/06, BGHZ 174, 314 Rn.
34; MünchKomm-InsO/Kirchhof, aaO
§
133 Rn.
19; Bork in Kübler/Prütting/Bork, InsO, Stand 2010,
§
133 Rn.
51; Gehrlein in Fest-schrift Ganter,
2010,
S.
169, 186).

a) Eine Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners bei Wert-haltigmachung der Bauforderungen setzt zumindest voraus, dass die Behörden einerseits Kenntnis von der drohenden Zahlungsunfähigkeit der
Schuldnerin, andererseits
Kenntnis von der Erbringung der Bauleistungen aufgrund Bauver-trages hatten. Die
vorhandenen Kenntnisse
bei den beteiligten Behörden sind jedenfalls mit der Vorlage der ersten Abschlagsrechnung und Ablauf der Frist für die erbetenen Auskünfte der angefragten Finanzämter insgesamt zu berück-sichtigen, weil ab diesem Zeitpunkt die vorhandenen Kenntnisse
entweder
übermittelt worden waren, oder die vorhandenen
Kenntnisse
zugerechnet wer-den müssen.

b) Nach ständiger Rechtsprechung kann die gläubigerbenachteiligende Wirkung, die mit der Herstellung einer Aufrechnungslage eintritt, selbständig angefochten werden (zur KO bereits BGH, Urteil vom 5.
April 2001 -
IX
ZR 25
26
27
-
13
-
216/98, BGHZ 147, 233, 236; zur InsO Urteil
vom 9.
Juli 2009 -
IX
ZR 86/08,
ZIP 2009, 1674 Rn.
30
ff; vom 22.
Oktober 2009 -
IX
ZR 147/06, WM 2009, 2394 Rn.
11
ff mwN; Beschluss vom 17.
Dezember 2009 -
IX
ZR 215/08, Rn.
3 nv; BFH, ZIP 2011, 181 Rn.
26 bis 29). Die objektive Gläubigerbenachteiligung liegt in der Möglichkeit der Befriedigung durch Aufrechnung (BGH, Urteil vom 22. Oktober 2009, aaO Rn.
25), weil sie den üblicherweise eintretenden Zufluss des Werklohns für die erbrachten Arbeiten an die haftende Masse ausschließt. Dies benachteiligt die anderen Gläubiger. Hierauf müssen sich dementspre-chend der
Vorsatz des Schuldners und
die Kenntnis des Anfechtungsgegners beziehen.

c) Ein eigener Benachteiligungsvorsatz des Anfechtungsgegners ist we-der erforderlich
noch ausreichend (BGH, Urteil vom 9.
Januar 1997 -
IX
ZR 47/96, ZIP 1997, 423, 427 zu §
10 Abs.
1 Nr.
1 GesO; MünchKomm-InsO/Kirchhof, 2.
Aufl., §
133 Rn.
19; Jaeger/Henckel, InsO, §
133 Rn.
47; HK-InsO/Kreft, aaO §
133 Rn.
21; Uhlenbruck/Hirte, InsO, 13.
Aufl., §
133 Rn.
25).

Nicht erforderlich ist deshalb, dass sich der Insolvenzgläubiger bewusst zum Schuldner des Insolvenzschuldners gemacht hat, um sich eine Aufrech-nungsmöglichkeit zu verschaffen, auch wenn der Abschluss von Rechtsge-schäften des Insolvenzgläubigers mit dem Schuldner zur Begründung von Pas-sivforderungen der späteren Masse eine typische Fallgruppe des §
96 Abs.
1 Nr.
3 InsO darstellt (vgl. HK-InsO/Kayser, aaO, §
96 Rn.
32). Aufrechnungsla-gen können auch ganz ohne Zutun des Gläubigers in anfechtbarer Weise ent-stehen (vgl. BGH,
Urteil vom 14.
Juni 2007 -
IX
ZR 56/06, ZIP
2007, 1507, Rn.
11
ff, 18; BFH, ZIP 2011, 181 Rn.
41).

28
29
-
14
-
III.

Das Berufungsurteil kann deshalb keinen Bestand haben. Es ist aufzu-heben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Beru-fungsgericht zurückzuverweisen, §
563 Abs.
1 Satz
1
ZPO. Der Senat kann nicht selbst abschließend entscheiden. Das Berufungsgericht hat noch keine Feststellungen zu den objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Vor-satzanfechtung getroffen. Soweit es danach auf die bisher mit unzutreffenden Gründen verneinte Kenntnis des Beklagten vom Benachteiligungsvorsatz der Schuldnerin ankommt, weist der Senat auf folgendes hin:

1. Zumindest eine der
zuständigen
Behörden muss -
gegebenenfalls bei Zurechnung des Wissens der anderen beteiligten Behörden
-
den Gläubigerbe-nachteiligungsvorsatz der Schuldnerin gekannt haben. Das erfordert die Kennt-nis von der Wertschöpfung durch die Bauarbeiten, weil hierin die maßgebliche Rechtshandlung liegt, welche die Befriedigung tatsächlich
erst
ermöglichte. Das Berufungsgericht wird daher -
neben den sonstigen Voraussetzungen
-
den Zeitpunkt festzustellen haben, zu dem die Behörden des Beklagten diese Kenntnis erlangt haben. Hierbei wird es dem unter Beweis gestellten Vortrag des Klägers nachzugehen haben, wonach es bereits vor Beginn der Bauarbei-ten zu einer
Absprache zwischen der Schuldnerin und dem Beklagten gekom-men ist, die fälligen Werklohnforderungen durch eine Aufrechnung mit beste-henden Steuerforderungen zum Erlöschen zu bringen.

2. Sollte sich eine solche Absprache nicht feststellen lassen, war
diese
Kenntnis mit Ablauf der ersten Anfragefrist
der Staatskasse an die zuständigen Finanzämter nach Aufrechnungsmöglichkeiten gegeben. Schon aus dem Um-stand, dass es sich um eine Abschlagsrechnung handelte, war zu entnehmen, 30
31
32
-
15
-
dass weiter Bauleistungen erbracht werden würden. Lagen zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des §
133 Abs.
1 Satz
2 InsO vor, wird die Kenntnis des Beklagten vermutet. Ausreichend hierfür ist, dass in diesem Zeitpunkt eine der beteiligten Behörden, vornehmlich die Finanzämter, von der drohenden Zah-lungsunfähigkeit wussten. Waren dem Anfechtungsgegner Umstände bekannt, die zwingend auf die drohende Zahlungsunfähigkeit hindeuten, greift §
133 Abs.
1 Satz
2 InsO ebenfalls ein.
Von einem Gläubiger, dem
solche Umstände bekannt sind, ist -
widerleglich
-
zu vermuten, dass er auch die drohende Zah-lungsunfähigkeit und die Benachteiligung der Gläubiger kennt (BGH, Urteil vom

-
16
-
17.
Februar 2004 -
IX ZR 318/01, ZIP 2004, 669, 671; vgl. auch Urteil vom 27.
Mai 2003 -
IX ZR 169/02, BGHZ 155, 75, 86).

Kayser
Raebel
Vill

Lohmann
Pape

Vorinstanzen:
LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 21.03.2007 -
2/4 O 63/06 -

OLG Frankfurt/Main,
Entscheidung vom 15.07.2008 -
10 U 80/07 -

Meta

IX ZR 155/08

30.06.2011

Bundesgerichtshof IX. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 30.06.2011, Az. IX ZR 155/08 (REWIS RS 2011, 5229)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 5229

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