Bundessozialgericht, Beschluss vom 26.11.2020, Az. B 14 AS 349/19 B

14. Senat | REWIS RS 2020, 2452

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Verwehrung der Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung - Ablehnung eines Antrags auf Terminsaufhebung - Anforderungen an die Geltendmachung eines Aufhebungsgrundes - Beruhenkönnen der angefochtenen Entscheidung auf dem Verfahrensmangel


Tenor

Der Klägerin wird hinsichtlich der Versäumnis der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.] vom 19. Juli 2018 - L 7 AS 82/17 - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 19. Juli 2018 - L 7 AS 82/17 - aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Versagung von [X.] (Bescheid vom [X.] idF des Widerspruchsbescheids vom [X.]). Klage und Berufung ([X.]erichtsbescheid des [X.] vom 6.12.2016, Urteil des [X.] vom [X.] für den Zeitraum Oktober 2015 bis April 2016) hatten keinen Erfolg.

2

Im Berufungsverfahren hatte der [X.] eine mündliche Verhandlung für den [X.]. Schon wegen dieses Termins hatte die Klägerin verschiedene Atteste ihrer Hausärztin vom [X.] ("aufgrund einer Erkrankung kann Frau [X.] voraussichtlich bis Ende Mai nicht arbeiten und verhandeln"), [X.] ("aufgrund einer Erkrankung konnte die [X.]ientin in den letzten Monaten ihre [X.]erichtskorrespondenz nicht erhalten und bearbeiten sowie Fristen einhalten", Arbeitsunfähigkeit bis 31.5.2018) und 11.5.2018 ("der … [X.]ientin ist derzeit keine Teilnahme an Verhandlungsterminen möglich, weil Sie an einer starken depressiven Episode leidet … die Teilnahme an [X.]erichtsverhandlungen ist derzeit medizinisch absolut kontraindiziert …") sowie ihres behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 17.4.2018 ("die [X.]. ist an einer schweren depressiven Episode erkrankt und aus ärztlicher Sicht mindestens zwei weitere Monate verhandlungsunfähig") vorgelegt.

3

Eine weitere Ladung, nunmehr zur mündlichen Verhandlung am [X.], erhielt die Klägerin am 13.6.2018. Am [X.] teilte sie telefonisch mit, dass sie krankgeschrieben sei und es ihr schlecht gehe. Mit Schreiben vom [X.] wies der Vorsitzende die Klägerin darauf hin, dass der Termin aufgehoben werden könne, wenn sie ein amtsärztliches Attest vorlege, in dem bescheinigt werde, dass sie an der Verhandlung am [X.] aus gesundheitlichen [X.]ründen nicht teilnehmen könne. Das angefragte [X.]esundheitsamt teilte mit, es könne eine Stellungnahme nicht rechtzeitig vor dem anberaumten Termin fertigen; daraufhin hob der Vorsitzende den Begutachtungsauftrag auf. Mit Schreiben vom 9.7.2018 und Erinnerung vom 11.7.2018 informierte der Vorsitzende die Klägerin hierüber und forderte sie auf, unverzüglich eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, aus der sich ergebe, wann sie zuletzt behandelt worden sei, welche Befunde erhoben und welche Diagnosen gestellt worden seien und wie sich diese auf ihre Fähigkeiten, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, auswirkten. Die Klägerin legte am [X.] vom [X.], des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom [X.], eines weiteren Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 22.5.2018 und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihrer Hausärztin vom [X.] (Arbeitsunfähigkeit bis 31.7.2018) vor. Diese Bescheinigungen benannten die Diagnose einer schweren depressiven Episode und attestierten zum Teil [X.]. Auf Anfrage des Vorsitzenden am [X.] teilte der behandelnde Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit, er werde ohne Schweigepflichtentbindungserklärung keine Auskunft geben. Mit Schreiben vom 17.7.2018 erhielt die Klägerin den Hinweis, dass die vorgelegten ärztlichen Unterlagen keine Befunde enthielten und sich der Senat daher nicht von ihrer [X.] überzeugen könne. Dem folgten Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden und dann gegen den Senat.

4

Mit Urteil vom [X.] - L 7 AS 82/17 - hat das LS[X.] entschieden, ohne dass die zum damaligen Zeitpunkt nicht anwaltlich vertretene Klägerin an der vorangegangenen mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Die Atteste wegen der Verhandlung im Mai seien zu alt. Die Atteste aus Juli 2018 seien mangels konkreter Angaben zur jeweils letzten ärztlichen Untersuchung und den dabei erhobenen Befunden nicht nachvollziehbar.

5

Ihre Nichtzulassungsbeschwerde stützt die Klägerin über ihren beigeordneten Prozessbevollmächtigten auf die Zulassungsgründe der Divergenz und des [X.]. Das LS[X.] habe entgegen §§ 202 S[X.][X.], 227 ZPO und 124 S[X.][X.] ohne die Anwesenheit der Klägerin verhandelt und entschieden. Das sei zugleich ein Verstoß gegen ihren Anspruch auf rechtliches [X.]ehör. Wegen der Divergenz macht die Klägerin Abweichungen des LS[X.] von den Urteilen des BS[X.] vom 12.10.2018 ([X.] SB 1/17 R) und vom [X.] (B 4 [X.]/12 R) geltend.

6

II. Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl § 67 Abs 1 S[X.][X.]) wegen der fristgerechten Stellung eines [X.] durch sie und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung ihres beigeordneten Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.

7

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Auf die Beschwerde der Klägerin ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LS[X.] zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 S[X.][X.]).

8

Die Klägerin hat formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 S[X.][X.]) gerügt, vom LS[X.] nicht ausreichend rechtlich gehört worden zu sein. Sie hat die Verletzung des § 62 S[X.][X.] hinreichend bezeichnet. Die Rüge trifft auch zu, weil ihr durch das LS[X.] die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung vor der Urteilsfindung zu Unrecht verwehrt worden ist.

9

Das [X.]ebot der [X.]ewährung rechtlichen [X.]ehörs beinhaltet, dass die Beteiligten ua auch in der mündlichen Verhandlung als dem "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ausreichend [X.]elegenheit zu sachgemäßen Erklärungen haben müssen. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen. Zwar kann nach entsprechenden Hinweisen in der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich auch bei Ausbleiben eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden (vgl § 110 Abs 1 Satz 2 S[X.][X.]; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], S[X.][X.], 13. Aufl 2020, § 110 RdNr 11). Hieran ist das [X.]ericht jedoch gehindert, wenn erhebliche [X.]ründe für eine Terminsaufhebung vorliegen und ein Beteiligter wenigstens seinen Willen zum Ausdruck bringt, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen (BS[X.] vom 7.7.2011 - [X.] [X.]/11 B - RdNr 6 mwN).

Ein iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO ordnungsgemäß gestellter [X.] - hier zuletzt bekräftigt durch die von der Klägerin gestellten Befangenheitsanträge - mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten [X.]rund, den Termin aufzuheben, begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des [X.]erichts zur Terminsaufhebung (BS[X.] vom 10.8.1995 - 11 [X.] - [X.] 3-1750 § 227 [X.]; BS[X.] vom [X.] - B 6 [X.]/98 R - RdNr 16). Welche Anforderungen an die [X.]eltendmachung des Aufhebungsgrundes zu stellen sind, ergibt sich aus § 202 Satz 1 S[X.][X.] iVm §§ 227 Abs 2, 294 ZPO. Danach sind die erheblichen [X.]ründe auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen. Eines [X.] bedarf es grundsätzlich nicht; zu fordern ist ein den konkreten Umständen angepasstes Maß an [X.]laubhaftigkeit, dh die Sicherheit der Feststellung muss von den Folgen der zu treffenden Entscheidung abhängig gemacht werden (vgl zu § 294 ZPO [X.]reger in [X.], ZPO, 33. Aufl 2020, § 294 RdNr 6). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsaufhebung hat der zentralen [X.]ewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches [X.]ehör zu genügen, insbesondere, wenn - wie vorliegend - eine mündliche Verhandlung vor dem S[X.] nicht stattgefunden hat (vgl BS[X.] vom 7.7.2011 - [X.] [X.]/11 B - RdNr 7 mwN). Ein erheblicher [X.]rund für die Aufhebung eines Termins kann die durch eine ärztliche Bescheinigung nachgewiesene Erkrankung eines nicht vertretenen Beteiligten sein (BS[X.] vom 12.2.2003 - [X.] SB 5/02 R - RdNr 12), erst recht gilt dies für eine ärztlich bescheinigte [X.].

Diesen Vorgaben wird die Entscheidung des LS[X.] aufgrund der mündlichen Verhandlung vom [X.] nicht gerecht. Anhand der im Urteil vorgenommenen Begründung ist schon nicht klar, aufgrund welchen Maßstabs über die Ablehnung des [X.]s entschieden worden ist. Zwar enthält das Urteil die Formulierung, die Klägerin habe keinen Verhinderungsgrund glaubhaft gemacht, andererseits wird der Inhalt des letzten Schreibens des Vorsitzenden vom 17.7.2018 mit den Worten wiedergegeben, der Senat habe sich nicht von der [X.] der Klägerin überzeugen können.

Dass eine volle richterliche Überzeugung von der [X.] Maßstab einer Terminsaufhebung sein durfte, ergibt sich aus dem in der angegriffenen Entscheidung dargestellten Verfahrensverlauf nicht. [X.] Umstände, die darauf hindeuten könnten, dass der Antrag auf Aufhebung des Termins durch die Absicht der Prozessverschleppung getragen sein könnte (vgl BS[X.] vom 24.10.2013 - [X.] R 59/13 B - RdNr 20 mwN), sind nicht festgestellt oder ersichtlich. Vielmehr konnte die Klägerin davon ausgehen, dass die [X.]laubhaftmachung der [X.] durch sie nachrangig war, weil der Vorsitzende weitere eigene Ermittlungen zur [X.] aufgenommen hatte (Auftrag für ein amtsärztliches [X.]utachten; Nachfrage beim behandelnden Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie). Eine Prozessverschleppungsabsicht ist darin nicht erkennbar. Die Nichtverlegung des Termins verletzt daher den Anspruchs der Klägerin auf rechtliches [X.]ehör.

Obwohl die Verletzung des rechtlichen [X.]ehörs in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (§ 202 Satz 1 S[X.][X.] iVm § 551 ZPO), ist doch "wegen des [X.] der mündlichen Verhandlung" im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen [X.]ehörs, die einen Verfahrensbeteiligten - wie hier die Klägerin - daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene [X.]erichtsentscheidung beeinflusst hat (BS[X.] vom 10.8.1995 - 11 [X.] - [X.] 3-1750 § 227 [X.]; BS[X.] vom 7.7.2011 - [X.] [X.]/11 B - RdNr 11).

Die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfahrensrüge zur Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch der Klägerin unter Mitwirkung der abgelehnten [X.] sowie die Zulässigkeit der Divergenzrügen können angesichts dessen dahinstehen.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LS[X.] vorbehalten.

Meta

B 14 AS 349/19 B

26.11.2020

Bundessozialgericht 14. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Karlsruhe, 8. Dezember 2016, Az: S 6 AS 2206/16, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, § 227 Abs 2 ZPO, § 294 Abs 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 26.11.2020, Az. B 14 AS 349/19 B (REWIS RS 2020, 2452)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2452

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