Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 27.02.2013, Az. 2 BvR 1872/10

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2013, 7841

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Anforderungen an die Verfahrensgestaltung bei Freiheitsentziehungen (Art 104 Abs 1 S 1 GG, Art 2 Abs 2 S 2 GG) - hier: Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung, wenn es das gem § 4 Abs 2 S 1 FrhEntzG einstweilig zuständige Gericht unterlässt, die gem § 11 Abs 2 S 2 FrhEntzG unterbliebene Anhörung des Betroffenen unverzüglich nachzuholen


Tenor

Die Beschlüsse des [X.] vom 7. April 2010 - 14 T 873 und 792/08 - und des [X.] vom 6. Juli 2010 - 13 W 23/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes, soweit durch sie die Rechtswidrigkeit der einstweiligen Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nicht auch für den Zeitraum seit dem Schluss der Verhandlung vor dem [X.] am 6. September 2008 bis zum 8. September 2008, 16.00 Uhr, festgestellt worden ist.

Der Beschluss des [X.] wird aufgehoben und die Sache an das [X.] zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verpflichtung der Gerichte zur Anhörung des Betroffenen im Verfahren der einstweiligen Freiheitsentziehung zur Sicherung einer Abschiebung.

2

1. Der Beschwerdeführer ist ein 1989 geborener [X.] Staatsangehöriger. Er wurde im Jahr 2006 bestandskräftig aus der Bundesrepublik ausgewiesen und zur Ausreise aufgefordert. Am 7. August 2008 beantragte die Ausländerbehörde die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung nach § 11 Abs. 1 des bis zum 31. August 2009 geltenden Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (FreihEntzG) sowie der anschließenden [X.] durch sofort wirksamen Beschluss. Bei einer geplanten Abschiebung im Juni 2008 habe die Polizei den Beschwerdeführer unter seiner Wohnanschrift nicht angetroffen. Sein Aufenthalt sei unbekannt. Er sei daraufhin zur Festnahme ausgeschrieben worden. Um diese durchführen zu können, sei eine Anordnung nach § 11 Abs. 1 FreihEntzG erforderlich. Die Anhörung und die Entscheidung über die [X.] könnten nach der Festnahme unverzüglich nachgeholt werden.

3

2. Das [X.] ordnete gegen den Beschwerdeführer mit - hier angegriffenem - Beschluss vom 8. August 2008 die einstweilige Freiheitsentziehung an. Es bestünden dringende Gründe für die Annahme, dass gegen den Beschwerdeführer Abschiebehaft gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 [X.] (in der bis zum 25. November 2011 geltenden Fassung) angeordnet werde. Es bestünden Anhaltspunkte, dass sich der Beschwerdeführer der Abschiebung entziehen wolle. Er sei bei einer geplanten Abschiebung im Juni 2008 nicht in seiner Wohnung zu erreichen gewesen. Obwohl seinem Vater am Folgetag mitgeteilt worden sei, der Beschwerdeführer solle sich umgehend bei der Ausländerbehörde melden, habe er dies unterlassen. Trotz einer seit Januar 2008 bestehenden Ausschreibung des Beschwerdeführers zur Festnahme habe dieser bislang nicht festgenommen werden können. Zu einem Anhörungstermin im Juni 2008 seien weder der Beschwerdeführer noch dessen Verlobte erschienen. Die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung sei gemäß § 8 Abs. 1 FreihEntzG für sofort wirksam zu erklären, weil andernfalls die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer, der sich offenbar im Raum [X.] aufhalte, untertauche.

4

3. Gegen den Beschluss des Amtsgerichts [X.] ließ der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde erheben. Es bestünden keine dringenden Gründe für die Annahme, er werde in Abschiebehaft genommen werden. Er sei noch nicht persönlich angehört worden. Eine Nachholung der Anhörung erst nach der Festnahme sei unzulässig.

5

4. Am Samstag, den 6. September 2008, wurde der Beschwerdeführer festgenommen und noch an demselben Tag dem [X.]als ortsnächstem Amtsgericht vorgeführt, welches ihm den Beschluss über die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung verkündete. Aus dem Protokoll über die Vorführung ergibt sich nicht, dass der Beschwerdeführer Gelegenheit hatte, sich zu der Freiheitsentziehung zu äußern. Am 11. September 2008 hörte das [X.] den Beschwerdeführer persönlich an und ordnete auf Antrag der Ausländerbehörde die Abschiebehaft an. Am 2. Oktober 2008 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft heraus abgeschoben.

6

5. Im Verfahren über die sofortige Beschwerde stellte der Beschwerdeführer seinen Antrag auf ein Feststellungsbegehren um und machte ergänzend geltend, das [X.] habe nicht begründet, warum es den Beschwerdeführer vor Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung nicht persönlich angehört habe. Auch sei der Beschwerdeführer nicht unverzüglich nach seiner Festnahme dem zuständigen [X.] vorgeführt worden. Vielmehr habe ihm das [X.] lediglich den "Haftbefehl" des Amtsgerichts [X.] bekanntgegeben. Dem [X.] sei er erst fünf Tage nach seiner Festnahme vorgeführt worden.

7

6. Das Landgericht wies den Feststellungsantrag mit - hier ebenfalls angegriffenem - Beschluss vom 7. April 2010 als unbegründet zurück. Das [X.] habe vor Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung nach § 11 Abs. 2 FreihEntzG wegen Gefahr im Verzug von einer Anhörung absehen dürfen. Der Beschwerdeführer sei in dem Verfahren erfolglos zur Anhörung geladen worden. Sein dortiger Verfahrensbevollmächtigter habe keine Angaben zu seinem Aufenthaltsort machen können.

8

7. Mit seiner gegen den Beschluss des [X.] gerichteten sofortigen weiteren Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, es sei unerheblich, dass er zu einem anberaumten Anhörungstermin nicht erschienen sei. Jedenfalls sei er nicht unverzüglich dem zuständigen Haftrichter vorgeführt worden. Insoweit wiederholte er seinen Vortrag aus der sofortigen Beschwerde. Außerdem machte er geltend, jedenfalls habe ihn das [X.] nicht ordnungsgemäß angehört.

9

8. Das [X.] stellte mit - hier ebenfalls angegriffenem - Beschluss vom 6. Juli 2010 die Rechtswidrigkeit der Inhaftierung im Zeitraum vom 8. September 2008, 16.00 Uhr, bis zur Anordnung der Abschiebehaft durch das [X.] am 11. September 2008 fest. Im Übrigen wies es die sofortige weitere Beschwerde zurück. Eine Anhörung vor Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung habe wegen Gefahr im Verzug unterbleiben dürfen, nachdem sich der Beschwerdeführer der Abschiebung entzogen und sein Bevollmächtigter mitgeteilt habe, ihm sei nur die Anschrift bekannt, unter der eine Abschiebung gescheitert sei. Trotz Aufforderung der Ausländerbehörde an seinen Vater, der auf Veranlassung des Beschwerdeführers bei der Behörde vorgesprochen habe, habe der Beschwerdeführer sich nicht gestellt. Daher habe eine Ladung zur Anhörung keinen Erfolg versprochen. Dem amtsgerichtlichen Beschluss lasse sich hinreichend deutlich entnehmen, dass von der Ladung wegen des unbekannten Aufenthalts abgesehen worden sei. Allerdings sei die Anhörung nicht im Sinne des § 11 Abs. 2 FreihEntzG unverzüglich nachgeholt worden. Das [X.] habe den Beschwerdeführer nicht in der Sache angehört. Die Anhörung durch das [X.] am 11. September 2008 sei nicht mehr als unverzüglich zu werten. Zwar sei eine Anhörung noch nicht sogleich nach der Festnahme am 6. September 2008 geboten gewesen, weil es sich um einen Samstag gehandelt habe und dem richterlichen Eildienst die Akten nicht vorgelegen hätten. Jedoch hätte der Beschwerdeführer spätestens bis zum darauffolgenden Montag, den 8. September 2008, um 16.00 Uhr, angehört werden müssen. Die Anhörung hätte erforderlichenfalls das [X.] im Rahmen seiner Eilzuständigkeit nach [ref=0b25ac87-1ce4-42f0-a53c-04086e9eff49]§ 4 Abs. 2 FreihEntzG[/ref] durchführen können.

Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer unter Berufung auf Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit [[X.]-8630-4adfe35f13d1]Art. 104 Abs. 1 Satz 1 [X.]] geltend, das [X.] habe in dem die einstweilige Freiheitsentziehung anordnenden Beschluss bereits nicht ausreichend begründet, weshalb es von einer vorherigen Anhörung des Beschwerdeführers abgesehen habe. Darin liege ein grundrechtlich relevanter Verfahrensfehler. Die Anhörung sei außerdem nicht unverzüglich nachgeholt worden. Die Nachholung der Anhörung sei umso dringlicher, wenn der Betroffene nicht bereits vor Anordnung der Freiheitsentziehung angehört worden sei. Unvermeidbare Verzögerungen seien außerdem zu dokumentieren. Der Beschwerdeführer hätte bereits unmittelbar nach seiner Festnahme am 6. September 2008, spätestens jedoch am Folgetag angehört werden müssen. Dass dem richterlichen Eildienst die Akte nicht vorgelegen habe, sei unerheblich. Die Vorhaltung eines richterlichen Eildienstes sei verfassungsrechtlich geboten. Damit gehe auch die Verpflichtung zur Einrichtung eines korrespondierenden Bereitschaftsdienstes derjenigen Behörden einher, die eine Haft beantragten. Diese hätten außerhalb der gewöhnlichen Geschäftszeiten die Akten zur Verfügung zu stellen, weil sonst der [X.]vorbehalt ins Leere liefe. Die Ausländerbehörde habe hier im Übrigen am Tag der Festnahme einen Haftantrag in der Hauptsache an das [X.] übersandt. Daher hätte auch die Möglichkeit bestanden, dem richterlichen Eildienst die Akte zu übermitteln. Es sei nicht dokumentiert, weshalb dies unterblieben sei. Eine inhaltliche Anhörung durch das [X.] sei möglich und zulässig gewesen. Eine dem § 115a Abs. 2 Satz 4 StPO vergleichbare Regelung bestehe für die Abschiebehaft nicht.

Zu der Verfassungsbeschwerde hat sich das [X.] im Einvernehmen mit dem [X.] für Inneres und Sport geäußert: Der Beschwerdeführer sei nicht in seinem [X.] verletzt. Von einer Anhörung des Betroffenen vor Anordnung einer einstweiligen Freiheitsentziehung dürfe bei Gefahr im Verzug abgesehen werden. In den angegriffenen Entscheidungen sei die Annahme von Gefahr im Verzug hinreichend begründet worden. Die Anhörung des Beschwerdeführers sei unverzüglich nachgeholt worden. Auch wenn man diesbezüglich von einer Eilzuständigkeit des [X.] ausgehe, bestünden erhebliche Zweifel, ob das Gericht die Anhörung hätte durchführen können. Die richterliche Pflicht zur Sachaufklärung gebiete die Beiziehung der vollständigen Akte der Ausländerbehörde. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Einrichtung eines Eildienstes bei der Ausländerbehörde bestehe nicht. Die Ausländerbehörde sei daher nicht verpflichtet gewesen, dem [X.] die Ausländerakte vor dem 8. September 2008 zur Verfügung zu stellen. Erst dann habe die Akte dem [X.]auch tatsächlich vorgelegen.

Die Ausländerakte sowie die Akte des Ausgangsverfahrens sind beigezogen worden.

Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, in einer die Kammerzuständigkeit begründenden Weise offensichtlich begründet. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde insoweit zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Das [X.]hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden ([ref=ffb73efb-3757-4112-abac-94687eb0f585]§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerf[X.]]). Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93b Satz 1 [X.]).

Soweit der Beschwerdeführer rügt, das [X.] habe den Verzicht auf eine Anhörung vor Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung nicht ausreichend begründet, sind die Annahmevoraussetzungen nicht erfüllt. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil sie nicht hinreichend substantiiert ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.]). Der Beschwerdeführer setzt sich nicht ausreichend mit dem angegriffenen Beschluss des [X.]s auseinander, in welchem das Gericht zwar grundsätzlich von einer Begründungspflicht ausgeht, diese jedoch als erfüllt ansieht. Den diesbezüglichen Erwägungen des Gerichts tritt der Beschwerdeführer, der auch nicht ausführt, wie mangels bekannten Aufenthaltsorts eine Anhörung hätte durchgeführt werden können, nicht entgegen. Für die von ihm angenommene weiterreichende Begründungspflicht gibt er keine hinreichende verfassungsrechtliche Begründung. Von einer weiteren Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]).

Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Die vorläufige Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers verletzte diesen bereits seit dem Schluss der Verhandlung vor dem [X.] in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG.

1. Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. [X.] 10, 302 <322>; 58, 208 <220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. [X.] 10, 302 <323>; 29, 183 <195 f.>; 58, 208 <220>). Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht ([X.] 58, 208 <222, 230>; 70, 297 <308>).

Zu den Verfahrensgarantien, die Art. 104 Abs. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht, gehört auch die in § 5 Abs. 1 Satz 1 und in § 11 Abs. 2 FreihEntzG vorgesehene richterliche Pflicht, den Betroffenen vor Anordnung der Haft grundsätzlich mündlich anzuhören (vgl. [X.], 132 <138>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 11. März 1996 - 2 BvR 927/95 -, juris, Rn. 16). Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung ist im späteren Verfahren nicht mehr mit Wirkung für die Vergangenheit zu heilen (vgl. [X.], a.a.[X.], juris, Rn. 18 ff.). Die mündliche Anhörung des Betroffenen dient darüber hinaus auch der Wahrung des [X.]vorbehalts nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 GG (vgl. [X.], 132 <140>). Der [X.] darf sich bei der Anordnung von Freiheitsentziehungen nicht auf die Prüfung der Plausibilität der von der antragstellenden Behörde vorgetragenen Gründe beschränken, sondern muss eigenverantwortlich die Tatsachen feststellen, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen. Hierfür ist die persönliche Anhörung des Betroffenen, namentlich bei eilbedürftigen Entscheidungen, ein geeignetes Mittel (vgl. [X.] 83, 24 <34>; [X.], 132 <142>).

2. Nach diesen Maßstäben hätte das [X.] den Beschwerdeführer bei der Vorführung am 6. September 2008 anhören und über die Fortdauer der Freiheitsentziehung entscheiden müssen. Da es dies unterlassen hat, war die gegen den Beschwerdeführer vollzogene Freiheitsentziehung seit Schluss der Verhandlung vor dem [X.] nicht mehr mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 GG vereinbar.

a) Auch bei Anordnung einer einstweiligen Freiheitsentziehung ist der Betroffene grundsätzlich vorher anzuhören (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 5 Abs. 1 Satz 1 FreihEntzG; nunmehr § 427 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG). Nur bei Gefahr im Verzug kann die Anhörung ausnahmsweise zunächst unterbleiben; sie ist dann jedoch unverzüglich nachzuholen ([ref=c7a609e7-110f-4fba-9fbd-a1f2a287b13e]§ 11 Abs. 2 Satz 2 FreihEntzG[/ref]; nunmehr § 427 Abs. 2 1. Halbsatz FamFG). Die verfahrensrechtliche Pflicht zur unverzüglichen Nachholung der Anhörung nimmt über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG an dem Schutz durch das [X.] teil. Mit der Nachholung der Anhörung ist auch die Verpflichtung verbunden, den getroffenen vorläufigen Beschluss über die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung dahingehend zu überprüfen, ob er angesichts der vervollständigten Entscheidungsgrundlage aufrechterhalten werden kann oder ob er der Abänderung oder Aufhebung bedarf.

b) Zur Nachholung der Anhörung ist grundsätzlich jedes Gericht verpflichtet, das nach dem Gesetz für Entscheidungen über die einstweilige Freiheitsentziehung zuständig ist. Dies betrifft zunächst das Gericht, das die einstweilige Freiheitsentziehung selbst angeordnet hat. Die Verpflichtung trifft daneben jedoch auch das Gericht, dem - wie hier über § 4 Abs. 2 Satz 1 FreihEntzG (nunmehr § 50 Abs. 2 Satz 1, § 416 Satz 1 FamFG) - die einstweilige Zuständigkeit für eilige Anordnungen zugewiesen ist. Wird der Betroffene diesem Gericht vorgeführt, so muss es die Anhörung nachholen, um anschließend eine Entscheidung auf vollständiger Tatsachengrundlage treffen zu können. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 FreihEntzG ist die Anhörung "unverzüglich" nachzuholen. Dies bedeutet, dass die Anhörung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachzuholen ist (so für die unverzügliche Nachholung der richterlichen Entscheidung als solcher [X.] 105, 239 <249>), sobald der Grund für das Unterbleiben der Anhörung entfallen ist. Dies ist mit der Vorführung des Betroffenen vor ein zur Entscheidung über die Freiheitsentziehung berufenes Gericht regelmäßig der Fall. Die Verpflichtung auch des nach § 4 Abs. 2 Satz 1 FreihEntzG zuständigen Gerichts, die Anhörung nachzuholen, folgt aus der gesetzgeberischen Entscheidung, diesem Gericht eine - wenngleich auf eilbedürftige Anordnungen beschränkte - eigenständige inhaltliche Entscheidungs- und Prüfungskompetenz einzuräumen, anders als dies etwa bei der Verkündung eines Haftbefehls durch das nächste Amtsgericht nach § 115a Abs. 2 Satz 4 StPO der Fall ist.

c) Das [X.] hätte den Beschwerdeführer daher von Verfassungs wegen anhören müssen, als dieser ihm am Samstag, dem 6. September 2008, vorgeführt wurde. Es handelte als das nach § 4 Abs. 2 Satz 1 FreihEntzG für Eilentscheidungen zuständige Gericht. Daher oblag ihm die Prüfung, ob die (einstweilige) Freiheitsentziehung weiter aufrecht zu erhalten war. Hierfür hätte es die Tatsachengrundlage, auf der die Anordnung basierte, vervollständigen und zu diesem Zweck die Anhörung des Beschwerdeführers nachholen müssen. Dies hat es unterlassen. Ausweislich des Protokolls über die Sitzung des Amtsgerichts wurde dem Beschwerdeführer lediglich die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung bekanntgegeben und eine Abschrift des Beschlusses des Amtsgerichts [X.] vom 8. August 2008 - vom [X.] fälschlicherweise als Haftbefehl bezeichnet - ausgehändigt. Eine Befragung zur Sache und insbesondere zu den Umständen des Aufenthalts des Beschwerdeführers unterblieb.

Von einer Anhörung durfte das [X.] nicht etwa deshalb absehen, weil ihm bei der Vorführung des Beschwerdeführers dessen Ausländerakte nicht vorlag. Ungeachtet der Frage, inwieweit ein Gericht vor einer abschiebehaftrechtlichen Entscheidung im Einzelfall die Ausländerakte beizuziehen hat (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 - 2 BvR 1033/06 -, NVwZ 2008, [X.] 304 <305>, und vom 9. Februar 2012 - 2 BvR 1064/10 -, juris, Rn. 19), lagen dem [X.] ausweislich der beigezogenen Akte des [X.] bei der Vorführung des Beschwerdeführers alle für eine Entscheidung über die Fortdauer der einstweiligen Freiheitsentziehung wesentlichen Unterlagen vor. So waren dem Gericht vor der Vorführung des Beschwerdeführers insbesondere der Haftantrag der Ausländerbehörde vom 6. September 2008 sowie der Beschluss des Amtsgerichts [X.] vom 8. August 2008 übermittelt worden. Hieraus ergaben sich die Umstände, aufgrund derer das [X.] zu dem Ergebnis gelangt war, dass für den Beschwerdeführer kein aktueller Aufenthaltsort bekannt war. Daneben hatte das [X.] auch Dokumente erhalten, aus denen sich der wesentliche aufenthaltsrechtliche Sachverhalt ersehen ließ, wie insbesondere die gegen den Beschwerdeführer ergangene Ausweisungsverfügung vom 9. Februar 2006 sowie der Gerichtsbescheid des [X.] vom 19. Februar 2008 (11 A 1513/06), mit dem die Klage des Beschwerdeführers gegen seine Ausweisung abgewiesen worden war. Diese dem [X.] bei der Vorführung des Beschwerdeführers am 6. September 2008 vorliegenden Unterlagen versetzten das Gericht in die Lage, nach Anhörung des Beschwerdeführers auch ohne Beiziehung der vollständigen Ausländerakte über die weitere Freiheitsentziehung zu entscheiden. Für einen Aufschub der richterlichen Anhörung bis zum folgenden Montag, den 8. September 2008 um 16.00 Uhr - wie im Beschluss des [X.]s zugrunde gelegt -, war angesichts der verfahrensrechtlichen Gewährleistungen des [X.]s kein Raum. Da der Beschwerdeführer am 6. September 2008 tatsächlich dem [X.] vorgeführt wurde, dem alle zur Entscheidung erforderlichen Unterlagen vorlagen, kommt es nicht auf die Frage an, ob es an einem gerichtlichen oder behördlichen Eildienst gefehlt haben könnte.

Indem die angegriffenen Entscheidungen des [X.] und des [X.]s eine Rechtswidrigkeit der einstweiligen Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nicht bereits seit dem Schluss der Verhandlung vor dem [X.] am 6. September 2008 annehmen, verkennen sie die Reichweite des [X.]s und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 des Grundgesetzes. Die Kammer hebt den Beschluss des [X.]s Oldenburg vom 6. Juli 2010 auf und verweist die Sache an dieses Gericht zurück (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 [X.]).

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2, Abs. 3 [X.].

Meta

2 BvR 1872/10

27.02.2013

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Oldenburg (Oldenburg), 6. Juli 2010, Az: 13 W 23/10, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 104 Abs 1 S 1 GG, Art 104 Abs 2 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 62 Abs 2 S 1 Nr 5 AufenthG 2004 vom 25.02.2008, § 50 Abs 2 S 1 FamFG, § 416 S 1 FamFG, § 420 Abs 1 S 1 FamFG, § 427 Abs 1 S 1 FamFG, § 427 Abs 2 Halbs 1 FamFG, § 4 Abs 2 S 1 FrhEntzG, § 11 Abs 1 FrhEntzG, § 11 Abs 2 S 2 FrhEntzG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 27.02.2013, Az. 2 BvR 1872/10 (REWIS RS 2013, 7841)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 7841

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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I-3 Wx 135/07 (Oberlandesgericht Düsseldorf)


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